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März 1968. Eine Frau präsentiert in ihrem Postershop in Berlin ein Plakat von Rudi Dutschke.

© imago/ZUma/Keystone

Moritz Rinke erinnert sich: Gedämpfte Laudatio auf ’68

Das Jahr 1968 weckt viele Erinnerungen. Hannah Arendt dachte an die Proteste, Revolten, den Prager Frühling – ich denke immer an den Kommunisten auf der Frau eines Komponisten.

Mit der 68er-Bewegung war man in Norddeutschland, wie mit dem meisten, etwas verspätet dran. Meine kindlichen Erinnerungen setzen Mitte der 70er ein, als man sich in der Künstlerkolonie Worpswede offenbar für so eine Art Kommune entschieden hatte. Die Hälfte der damals 8000 Bewohner der Kolonie waren Bauern, die um fünf Uhr in der Früh aufstanden, die andere Hälfte bestand aus Künstlern und Revolutionären, die um fünf Uhr in der Früh ins Bett gingen.

Meine Eltern waren keine wirklichen 68er, aber die jüngeren Eltern der Kinder, mit denen ich spielte, waren es. Einer meiner Freunde durfte Rudi Dutschke am Flughafen in Bremen mit abholen, um ihn für eine Kundgebung in die „Lila Eule“ zu fahren. Der Vater hatte Dutschke Turnschuhe geliehen, die er auf Fotos wiedersah, nachdem Dutschke auf dem Kurfürstendamm niedergeschossen worden war.

Mein Spielkamerad wurde später Bankangestellter. Seine Mutter las damals „Die Funktion des Orgasmus – Über die Verödung der Beckenerregung.“ Das Werk lag in der Küche herum, direkt neben dem Müsli, die Aufklärung fand also so ganz nebenbei statt, nur hätten wir uns vielleicht gewünscht, nicht gleich mit der Verödung der Beckenerregung zu beginnen.

„Sind Sie Komponist oder Kommunist?“

Ein anderer Spielkamerad, der später Abteilungsleiter bei Mercedes wurde, hatte einen Komponisten zum Vater, dessen Frau Künstlerfeste organisierte, zu denen die Kinder natürlich mitgenommen wurden, früh übt sich. Ich weiß noch, dass ich einmal einen Platz zum Schlafen suchte und im Schlafzimmer die Frau des Komponisten vorfand mit einem Mann, den ich von den Wahlplakaten der Worpsweder Kommunisten kannte. Das Bett, in dem sie lagen, war natürlich von Heinrich Vogeler entworfen, und meine folgende Frage zitieren manche Alt-68er noch heute in der Kolonie. Ich fragte den Mann auf der Frau des Gastgebers: „Sind Sie Komponist oder Kommunist?“

„Kommunist“, antworte der Mann erstaunt, bevor ich die Tür wieder zuschlug. Ähnliche Probleme hatte ich mit den Wörtern Tourist und Terrorist, aber mit Kommunisten verband ich seitdem Ehebruch oder das Gegenteil der Verödung der Beckenerregung.

Es gab in meinem Spielkameraden-Kreis später eine auffallende Fluchtbewegung in recht bürgerliche Existenzen: Banker, Autoindustrie, Versicherungsbranche. Einige pendelten dazwischen und verkauften in Bremen Drogen, als goldenen Mittelweg zwischen ’68 und einer kaufmännischen Ausrichtung. Ansonsten erscheinen die Biografien meiner Kumpels, 50 Jahre danach, wie ein höhnisches Echo auf die sogenannte Befreiung ihrer Elterngeneration.

Weiße Hosen, weiße Strümpfe, weiße Hemden

Natürlich war 1968 mehr als Kindererziehung, Kinderläden (Oh Gott, dieser Kinderladen!), Ehe und Autorität, aber ich muss immer wieder lächeln, wenn ich diesen Satz von Hannah Arendt aus einem Brief an Karl Jaspers lese: „Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848.“ Arendt dachte an die Proteste gegen den Vietnamkrieg, an die Studentenbewegungen, die Revolten, den Prager Frühling, den Schah-Besuch ... ich denke immer an den Kommunisten auf der Frau des Komponisten.

Viele, viele Jahre später stand ich mit dem Schriftsteller Peter Schneider, einem der berühmtesten Protagonisten von ’68, auf dem Tennisplatz nahe des Kurfürstendamms, wo auch Nabokov gespielt haben soll. Wir trugen weiße Hosen, weiße Strümpfe, weiße Hemden und fegten feinsäuberlich die Linien des Spielfelds frei. Irgendwie beruhigte mich das.

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