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Peter Lorenz in seinem Kreuzberger Gefängnis.

© pa/dpa

Lorenz-Entführung 1975 in Berlin: Die Machtprobe des 2. Juni

Im Februar 1975 wird Peter Lorenz entführt, Berlins CDU-Chef. Die Täter: linke Terroristen. Die Regierung gibt nach und lässt Gefangene frei – ein Präzedenzfall der deutschen Geschichte.

Sogar eine Wahrsagerin kam ins Polizeipräsidium. Ein Pendler versuchte, für die Ermittler auf der Berlinkarte den Aufenthaltsort des Entführten ausfindig zu machen. Klaus Hübner winkt ab. „Das hat natürlich nichts gebracht“, sagt der ehemalige Polizeipräsident. Aber die Öffentlichkeit war im Ausnahmezustand, nahezu hysterisch. „Ich wollte mir nicht vorwerfen lassen, ich hätte nicht alles versucht“, sagt der 90-Jährige heute über die sechs Tage, die die Republik erschütterten.

Dabei konnte Hübner eigentlich nichts tun. Stillhalten musste er, seine Leute bremsen, auf Befehl des Regierenden Bürgermeisters Klaus Schütz. „Der Schutz des Lebens des Entführten geht allem anderen vor“, hatte Schütz im Krisenstab erklärt. „Was müsste man tun, was darf man nicht“, diese Frage habe ihn, Hübner, Tag und Nacht umgetrieben. Das Feldbett, das man ihm in sein Büro im Präsidium gestellt hatte, nutzte er nie. Er machte durch und bereitete die größte Fahndung in der Geschichte Berlins vor.

Der Frühling hatte in der Luft gelegen an jenem 27. Februar. Seiner Frau kündigte der CDU-Spitzenkandidat und Landesvorsitzende Peter Lorenz an, er wolle anders als sonst in diesen Wochen des Wahlkampfs früher nach Hause kommen. Doch erst 24 Stunden später sah sie ihren Mann wieder: auf einem Polaroid-Foto, mit einem Schild „Gefangener der Bewegung 2. Juni“.

Es wurden Tage der Ohnmacht einer Staatsmacht. Hilflos gegenüber Entführern, die mit ungeheurer Präzision Lorenz entführt hatten – wenige Tage vor der Abgeordnetenhauswahl am 2. März 1975. Entführer, die keine Spuren hinterließen und keine Fehler machten, die immer die Handelnden waren und die Polizei nur hilflos reagieren ließen. Die der Politik ihre Forderungen diktierten.

Die Falle war perfekt geplant. Lorenz’ Wagen geriet in der Nähe des Wohnhauses in Zehlendorf am Waldrand in einen Hinterhalt. Sein Fahrer musste stoppen, als ein Transporter den Weg versperrte, unmittelbar darauf fuhr ein zweiter Wagen auf. Als der Chauffeur ausstieg, wurde er mit einer Eisenstange bewusstlos geschlagen, der 52-jährige Lorenz in seinem Wagen überwältigt, betäubt und weggefahren. Obwohl der kräftige, 1,90 Meter große Mann bei seiner heftigen Gegenwehr die Frontscheibe heraustrat, fuhren die Entführer mit ihrem Opfer über die Stadtautobahn in die Innenstadt, ohne dass andere Autofahrer aufmerksam wurden. „Wir überholten sogar einen Polizeiwagen“, feixte später der Entführer Till Meyer.

Peter Lorenz wurde in eine Kiste umgepackt

In einem Parkhaus wurden die Fahrzeuge gewechselt, Lorenz erst in den Kofferraum eines zweiten Wagens gesteckt und später in eine Kiste, die mit einem ebenfalls gestohlenen Kastenwagen in die Kreuzberger Schenkendorfstraße gebracht wurde. Dort schleppten vier Entführer die Kiste mit dem 80 Kilo schweren Lorenz über den Gehweg bis ins Haus mit der Nummer 7 – vorbei an drei Nachbarinnen, die sich beim Gespräch nicht stören ließen.

Zur Tarnung hatte der „2. Juni“ einen Secondhand-Laden angemietet, Lorenz wurde durch eine Bodenluke in den Keller gebracht. Das Geschäft sollte auch während der Entführung jeden Tag öffnen. Während oben verkauft wurde, saß unten der Entführte im „Volksgefängnis“, wie die Täter den Ort getauft hatten. Heute nutzt eine soziale Einrichtung die Ladenwohnung; statt der Luke gibt es nun eine Treppe in einen Keller mit großem Raum und kleinem Badezimmer.

Es war eine Kraftprobe. Die erste Geiselnahme eines Politikers forderte den Staatsapparat heraus. Im selbsterklärten Krieg der Stadtguerilleros gegen den deutschen Staat war die einzig erfolgreiche Entführung auch ein Wendepunkt im Kampf gegen den Terror. Die Aktion wurde zur Blaupause für spätere Taten; ohne sie hätte es möglicherweise 1977 keine Schleyer-Entführung gegeben. Mancher ahnte den exemplarischen Charakter dessen, was die RAF später unter „Big Raushole“ verstand – etwa der damalige Chef des Bundeskriminalamtes, Horst Herold. Dass der bereit war, im Kampf gegen den Terror mit weitreichenden computergestützten Fahndungsmethoden die Freiheit einzuschränken, machte ihn damals zum Buhmann der liberalen Öffentlichkeit. Heute gehören diese Mittel zum polizeilichen Alltag.

Beim Banküberfall gab es Schokoküsse

Die Entführer Gerald Klöpper, Ronald Fritzsch und Ralf Reinders (von links) während der Urteilsverkündung im Oktober 1980.
Die Entführer Gerald Klöpper, Ronald Fritzsch und Ralf Reinders (von links) während der Urteilsverkündung im Oktober 1980.

© Ullstein Bild

An der Entschlossenheit der „Bewegung 2. Juni“ gab es für den langjährigen Polizeipräsidenten Hübner in diesen Krisentagen keinen Zweifel. Die Gruppe hatte sich 1972 in bewusster Abgrenzung zur „Roten Armee Fraktion“ (RAF) gegründet, um mehr politische Verankerung mit den „werktätigen Massen“ anzustreben, statt wie die RAF ausschließlich auf bewaffneten Kampf zu setzen. In der revolutionären Praxis aber ähnelten sich beide Gruppen schon bald. Der „2. Juni“ verübte allein zwischen 1971 und 1973 sieben Banküberfälle zur Geldbeschaffung, dazu einen Sprengstoffanschlag auf den britischen Yachtclub in Berlin, bei dem ein Bootsbauer starb.

So wenig sich ihre Taten unterschieden, so verschieden waren die Gruppen. „Die RAF war intelligenter, der 2. Juni eine richtige Straßenbande“, urteilt Klaus Hübner, der heute noch mit einem bemerkenswerten Gedächtnis für Namen und Geschehen beeindruckt. Die RAF-Mitglieder stammten zum großen Teil aus bürgerlichen Familien, der theoretische Diskurs und eine verschwurbelte Sprache spielten eine wichtige Rolle. Beim „2. Juni“ rechneten sich zahlreiche Aktive den Proletariern zu, so Till Meyer oder Ralf Reinders. Bis auf ein Mitglied der Gruppe hatten alle die Hauptschule besucht. Es gab eine unerklärte Konkurrenz zur RAF, regelmäßig ärgerte man sich über deren als arrogant empfundenen Führungsanspruch. Beim „2. Juni“ fanden sich viele „Genossen“ aus ursprünglich gewaltlosen und aktionistischen Gruppen zusammen, etwa aus den „Umherschweifenden Haschrebellen“. Auch hat der „2. Juni“ für sich eine subversive Ironie reklamiert, die ihm durchaus Sympathie einbrachte. Bei einem Banküberfall etwa verteilten die Täter Schokoladenküsse an die Kunden.

Die Entführer waren selbst verblüfft

Während der Entführung bestand die Gruppe darauf, dass die Antworten der Polizei auf alle Botschaften über Radio und Fernsehen öffentlich gemacht wurden. Zugleich waren die Entführer verblüfft über die „Beflissenheit“, erinnert sich Till Meyer, mit der die Gegenseite auf die Forderungen der Gruppe einging. „Wir hatten die mächtige Bundesrepublik in die Knie gezwungen“, staunte Meyer: „Wir, die Underdogs, die ewigen Verlierer und Proleten, diktierten das Handeln.“

Nicht nur in Berlin, auch am Sitz der Bundesregierung in Bonn wurde ein Krisenstab eingerichtet. Bundeskanzler Helmut Schmidt stellte sich intern gegen seinen Berliner SPD-Parteifreund Schütz. „Ihr dürft nicht nachgeben“, habe Schmidt betont, erinnert sich Hübner. Der Kanzler formulierte damit, was bei der Schleyer-Entführung im September 1977 Staatsmaxime werden sollte. Doch bei der Lorenz-Entführung gab Helmut Schmidt nach, auch auf Drängen des damaligen CDU-Oppositionsführers Helmut Kohl. Zwei Monate später, bei der Besetzung der Deutschen Botschaft in Stockholm im April 1975 durch ein RAF-Kommando, ließ sich Schmidt nicht mehr auf Verhandlungen ein: Dort starben zwei Geiseln und zwei Terroristen.

Heute ist unvorstellbar, welche Stimmungslage in der Linken gegenüber dem bewaffneten Kampf herrschte. Die vielen persönlichen Kontakte und das gemeinsame Engagement, von der politischen Arbeit mit Jugendlichen im Neubaugebiet Märkisches Viertel über die „Rote Hilfe“ für von Prozesse bedrohte „Genossen“ bis zur Arbeit in Betrieben, um dort die Proletarier zu aktivieren, waren ein Netzwerk einer Gegengesellschaft. Dieses Geflecht schuf jene Sympathien, die auch gewaltbereite Stadtguerillas anfänglich noch bei jenen aus der ehemaligen Studentenbewegung fanden, die selber längst zu einer friedlichen Veränderung der Republik entschlossen waren. Der Tod des RAF-Mitglieds Holger Meins am 9. November 1974 bei einem Hungerstreik brachte in dutzenden deutschen Städten Zehntausende zum Protest auf die Straße; die als unmenschlich geltenden Haftbedingungen symbolisierten für viele den „faschistoiden Charakter“ der Bundesrepublik. Mitglieder von RAF und „2. Juni“ konnten sich deswegen lange darauf verlassen, dass „Genossen“ ihnen ihre Wohnungen als Versteck und auch den Personalausweis überließen oder Autos für sie anmieteten. Auch nach der Lorenz-Entführung waren viele Sympathisanten bereit für einen Gefallen. So wurde die vom „2. Juni“ nach der Lorenz-Freilassung in einer Auflage von 30 000 Stück gedruckte Rechtfertigungserklärung von etwa 120 Helfern überall in Berlin verteilt. „Das war für die Polizei ein Schock“, freute sich noch Jahre später Ralf Reinders.

4000 Berliner Polizisten gingen 10000 Hinweisen nach

Der Ort der Entführung am Zehlendorfer Waldrand wurde nach der Tat weiträumig abgesperrt.
Der Ort der Entführung am Zehlendorfer Waldrand wurde nach der Tat weiträumig abgesperrt.

© Ullstein Bild

In der linken Szene wurden die Entführer nach dem unblutigen Ende der Aktion fast wie Helden gefeiert. Es kursierte sogar ein „Lorenz-Song“: „Mehr Tatkraft schafft mehr Sicherheit / Die Praxis hats gezeigt/ die Bonzen sind verletzbar / 7 Gefangene sind befreit / Von euch können wir lernen / wie man kämpft und wie man lebt / Nur durch Gewalt und Waffen / wird der Faschismus weggefegt...“

Das über Monate von den Entführern ausgebaute „Volksgefängnis“ sollte die Polizei erst acht Monate nach der Freilassung entdecken; Endpunkt einer beispiellosen Fahndung, bei der man nahezu 10 000 Hinweisen nachging. An der Fahndung waren nicht nur 4000 Berliner Polizisten beteiligt, sondern anfänglich auch 500 aus „Westdeutschland“ eingeflogene Beamte. Zudem stellten die drei West-Alliierten Hubschrauber und Armee-Einheiten bereit. Dabei ging die Polizei auch rabiat gegen linke Einrichtungen vor, was der Behörde den Vorwurf einbrachte, hier ginge es mehr um Rache als um Fahndung. Weil die Polizei trotz des gewaltigen Aufwands wochenlang keine Ergebnisse vorweisen konnte, höhnte die Springer-Presse über die „Aktion Wasserschlag“.

Ironie der Geschichte: Ursprünglich sollte in der Schenkendorfstraße nicht Lorenz, sondern der Besitzer des Europa-Centers, Karl Heinz Pepper, gefangen gehalten werden. Dieser sollte Weihnachten 1974 zwecks Lösegeld-Erpressung entführt werden, hatte die Gruppe mit Anspielung auf das Beatles-Album unter dem Codewort „Sergeant“ geplant. Doch die Zeitplanung kam durcheinander. Auslöser war der Tod des RAF-Mitglied Holger Meins am 9. November. Ein Tag später wurde – als direkte Reaktion – vom „2. Juni“ der sozialdemokratische Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann bei einer spontan geplanten Entführung in seiner Wohnung erschossen. Der Mord ist immer noch ungesühnt.

Die RAF-Spitze in Stammheim wollte mitreden

Wegen der kommenden Abgeordnetenhauswahl am 2. März 1975 konzentrierte man sich statt auf Pepper nun auf Lorenz. Den CDU-Chef, der einen scharfen Wahlkampf führte unter dem Slogan „Mit Tatkraft mehr Sicherheit schaffen“, wurde vom „2. Juni“ angesichts der schwachen SPD als kommender Regierender Bürgermeister eingestuft. In der ersten „Mitteilung“ der Lorenz-Entführer wurde die „präzise Erfüllung aller Forderungen“ angemahnt – „anderenfalls ist eine Konsequenz wie im Falle des obersten Richters G. v. Drenkmann unvermeidbar“. Die Erinnerung an diesen Mord beeinflusste deswegen auch während der Lorenz-Entführung die Stimmungslage in Berlins politischer Führung. Im Mittelpunkt der Forderungen stand die Freilassung von sechs inhaftierten Mitgliedern des „2. Juni“ und der RAF – darunter auch der ehemalige Anwalt Horst Mahler. Sie sollten in den Süd-Jemen ausgeflogen werden. Als Begleiter hatten die Entführer den vormaligen Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz (SPD) ausbedungen. Auf die Freipressung von inhaftierten Führungsfiguren wie Andreas Baader oder Gudrun Ensslin wurde verzichtet, weil man nicht glaubte, dass der Staat dazu bereit wäre. Außerdem, heißt es, habe die kontaktierte RAF-Spitze in Stammheim mitbestimmen wollen, wer auf die Liste kommt.

Die 1978 wegen der Entführung verurteilten Ralf Reinders, Ronald Fritsch, Gerald Klöpper, Andreas Vogel und Till Meyer sind heute alle um die 70 Jahre alt. Meyer war noch während des Prozesses im Mai 1978 von „2. Juni“-Mitgliedern spektakulär aus der Untersuchungshaftanstalt Moabit befreit worden. „Keine Feier ohne Meyer“, skandierten Unterstützer des militanten Kampfes danach bei Demonstrationen. Einen Monat später wurde Meyer in Bulgarien wieder verhaftet. Zurück in der Zelle schwor er der Gewalt ab. Seinen Kampf gegen den Kapitalismus setzte er auf besondere Weise fort: Nach der vorzeitigen Freilassung 1986 verdingte er sich bei der DDR-Staatssicherheit und spitzelte fortan die „taz“ aus, die ihm zur Resozialisierung einen Arbeitsplatz in der Redaktion angeboten hatte. Die Stasi war vor allem an den Kontakten zur DDR-Opposition interessiert. Wenn man heute mit dem 70-jährigen Meyer spricht, möchte er möglichst wenig über die Entführung sagen. „Da bin ich im Kollektivzwang.“ Und er fügt hinzu: „Ich kann das nicht über die Genossen hinweg machen.“

Peter Lorenz, der 1987 starb, trug nach seiner Freilassung zur Enttäuschung der Ermittler wenig zur Aufklärung bei. Er konnte sich kaum an Einzelheiten und Einrichtung des Kellers erinnern. Manche vermuteten, Lorenz habe eine starke Traumatisierung erlitten. Helmut Kohl, bei dem Lorenz von 1982 bis 1987 Staatssekretär im Kanzleramt und Berlin-Bevollmächtigter war, sagte später, dieser sei nach der Entführung „nie wieder der Alte gewesen“.

Auch Marianne Lorenz, die fast 90-jährige Witwe, will über die Tage der Angst möglichst wenig sagen. Dass da noch ein gewisser Groll ist, spürt man. Es habe sie geärgert, gibt sie zu, dass vor Jahren für einen TV-Film zwei Entführer vor ihrem Haus standen und sich rühmten, sie würden es „heute noch einmal so machen“.

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