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Vater der Neurose. Sigmund Freud (1856-1939) prägte den Begriff entscheidend mit. Heute gilt er als eher überholt.

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Lob der Neurose: Besorgte leben länger

Obwohl sie eher ungesünder leben, haben Neurotiker bessere Überlebenschancen. Vielleicht, weil sie zur Hypochondrie neigen.

Neurotiker sind nicht zu beneiden. Sie werden von Ängsten, Depressionen, Phobien, Zwängen und anderen Leiden gequält. Sie sind gestresst und von negativen Emotionen erfüllt. Man kann sie sich kaum als glückliche Menschen vorstellen. Auch wenn es Untersuchungen gibt, nach denen Neurosen kreativer (Kafka!), geistig beweglicher und motivierter machen können. Umso überraschender, was britische Psychologen herausgefunden haben. Ganz offenbar leben Neurotiker länger, berichten sie im Fachblatt „Psychological Science“.

Die Wissenschaftler um Catharine Gale nutzten Daten der UK Biobank. Das ist eine große Gesundheitserhebung mit rund einer halben Million Teilnehmern in den Jahren von 2006 bis 2010. Ermittelt wurde neben dem Gesundheitsverhalten und körperlicher und geistiger Fitness auch der „Neurotizismus“ mithilfe eines Fragebogens. Zwar ist der Ausdruck „Neurose“ in der Medizin kaum noch gebräuchlich – heute beschreibt man psychische Leiden genauer, etwa eine Zwangsstörung oder eine Phobie. Dennoch, aus Sicht der Psychologie gehört der mehr oder weniger stark ausgeprägte Hang zu neurotischen Störungen zu den Charaktermerkmalen.

Pessimismus ist gut fürs Überleben

Im Beobachtungszeitraum von im Mittel 6,5 Jahren starben annähernd 5000 Studienteilnehmer. Die Frage war nun, ob Neurotiker eher gefährdet waren als Nicht-Neurotiker. Tatsächlich hatten sie ein um acht Prozent verringertes Sterberisiko. Das betraf alle häufigen Todesursachen wie Krebs, Herz-Kreislauf-Leiden und Atemwegserkrankungen. Vor allem jene Teilnehmer, die sich als besorgt und verwundbar einstuften, erwiesen sich am Ende als langlebiger. Hinzu kam jener Personenkreis, der seine Gesundheit als eher schlecht einschätzte. Auch diese pessimistische Sicht war günstig für das Überleben.

Wie erklärt sich das scheinbar verrückte Ergebnis? Am gesundheitsbewussten Verhalten kann’s nicht liegen. Ernährung, Sport, Alkohol und Rauchen, in diesen Disziplinen schneiden Neurotiker eher schlechter ab. Sie essen weniger Obst und Gemüse, bewegen sich seltener, rauchen öfter und trinken tendenziell mehr. Auch andere Möglichkeiten konnten die Forscher ausschließen.

Neurotiker gehen rechtzeitig zum Arzt

„Die einzige Sache, die am Ende infrage kam, war, dass diese Leute wachsamer waren, was ihre Gesundheit anging“, sagte die Studienleiterin Gale dem amerikanischen Sender CNN. „Vielleicht gingen sie eher zum Arzt, wenn sie besorgniserregende Symptome verspürten, und das könnte zu einer früheren Diagnose ernster Krankheiten geführt haben, besonders im Fall von Krebs.“

Ganz wasserdicht ist die Annahme noch nicht, doch gibt es andere Untersuchungen, die die These vom gesunden Neurotizismus stützen. Eine Prise Hypochondrie – noch ein neurotisches Ding – schadet nicht. Irgendeinen Nutzen muss die Neurose ja wohl haben! Oder, mit den Worten des englischen Komikers Tony Hancock: „Die Hypochondrie ist die einzige Krankheit, die ich nicht habe.“

Unser Kolumnist leitet das Wissenschaftsressort des Tagesspiegels und schreibt an dieser Stelle alle vier Wochen. Haben Sie eine Frage zu seiner guten Nachricht? Bitte an: sonntag@tagesspiegel.de

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