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Ein Syrer protestiert in Berlin gegen den Krieg in Syrien.

© Paul Zinken/dpa

Kolumne: Moritz Rinke sammelt Erinnerungen an die Gegenwart: Die Welt hinter dem Wort „Flüchtling“

Wenn ich heute den blauen Balken der AfD sehe, denke ich an das Schicksal des syrischen Dichters Kheder Alagha.

Als kurz vor der Wahl bei der Prognose der blaue Balken der AfD nach oben wuchs, stellte ich mir wieder vor, wie ich mit dem syrischen Dichter Kheder Alagha auf der Hinterbühne der Berliner Festspiele stehe. Internationales Literaturfestival. Im Rahmen des Projekts „Ankunft – literarische Reportagen von geflüchteten Autoren“ beschreibt Kheder Alagha seine ersten Tage in Deutschland.

Kheder nimmt meine Hand und fragt mich, ob er denn am Anfang wirklich auch auf Arabisch lesen soll. Natürlich, sage ich, es ist deine Sprache, wir fangen mit deiner Sprache an, danach lesen wir die Übersetzung. Ich habe die Patenschaft für Kheder übernommen und spüre, wie aufgeregt, fast benommen er ist, das erste Mal vor einem deutschen Publikum aufzutreten.

Er hat die meiste Zeit seines Lebens in Damaskus gelebt, war Chefredakteur einer syrischen Kulturzeitschrift, arbeitete als Sprachwissenschaftler, Literaturkritiker, schrieb Lyrik. Im März 2011 schließt er sich der friedlichen Protestbewegung gegen das Assad-Regime an.

Als eine Einladung aus Köln kommt, zögert er lange

Nachdem eine Rakete fast den Schulbus seines Sohnes trifft, flüchtet dieser mit seiner Mutter. „Als Aram sich ins Auto setzte, das ihn in den Libanon bringen sollte, setzte sich mein Herz neben ihn … Ich konnte während der gesamten gefährlichen Strecke die rasenden Schläge vernehmen, ich hörte sein Weinen, sah seinen Blick, seine Hand, die mir zum Abschied winkte.“

Kheder Alagha bleibt im Damaskus, er glaubt nicht, dass er als Schriftsteller gegen den Krieg anschreiben kann, aber er glaubt, dass er Teil der Kraft eines Volkes sein kann, das sich gegen die Unterdrückung auflehnt.

Der Zeitschriftenverlag kündigt ihm, Kollegen werden gefoltert, in seinem Viertel wimmelt es von Spitzeln, ihm droht Gefängnis. Er war schon vor den Demos ein Jahr inhaftiert und weiß, was ihn erwartet. 2013 bekommt er eine Einladung der Böll-Stiftung in Köln, zögert lange, will sein Land nicht im Stich lassen. Dann ruft sein Sohn aus Deutschland an. „Seine zitternde Stimme, seine Frage nach seinem Spielzeug, seinen Schildkröten, seinem Fahrrad, seine Worte: Ich will dich hier haben.“

Kheder verlässt Syrien. Von der kranken Mutter kann er sich nicht mehr verabschieden, sie stirbt ohne ihn.

"Ich wurde ein totes Wesen"

Er kommt mit dem Geruch von Fassbomben in der Nase nach Deutschland, später als Flüchtling nach Lübeck.

„Ich hätte meinen Kopf gegen die Wand schlagen müssen“, schreibt er, „um ihn davon zu überzeugen, dass er jetzt hier ist und nicht dort.“ Er sieht sich, wie er noch in Syrien zwischen all seinen Büchern sitzt.

„Im Alten Testament heißt es“, schreibt er, „dass die Kraft des Riesen Samson in seinem Haar liege. Als sein Haar geschnitten wurde, verlor er seine Kraft.“ Für Kheder ist das Haar seine Sprache. „Ich habe immer die Haare gerühmt, die ich besitze, und in Deutschland wurde mir das Haar geschnitten, ich wurde ein totes Wesen. Alle Bücher, die ich je geschrieben hatte, hatten keine Bedeutung mehr.“

Das Wort „Flüchtling“ wächst ihm über den Kopf, bis das Wort zu einem Riesen wurde und ihn verschlingt wie ein Monster. „Es verschlang mich so“, schreibt er, „dass ich mich selbst nicht mehr sah und die Deutschen mich nicht sahen.“

Wenn ich heute den blauen Balken der AfD sehe, denke ich an Kheder, und was für eine Welt sich hinter dem Wort „Flüchtling“ verbirgt.

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