zum Hauptinhalt
Straßenverkehr in Istanbul. Deutsche Touristen sind für die Türken oft eine Zumutung.

© imago/imagebroker

Kolumne: Moritz Rinke erinnert sich: In Istanbul würden Autos nicht mal für die Beatles halten

Langsam über einen Zebrastreifen zu gehen, ist in der Türkei eine Provokation. Warum ich mich trotzdem oft nach diesem blinkerlosen Leben sehne.

Die Türkei hat zwei Probleme: eines mit Erdogan, das andere mit Zebrastreifen. Letzterer ist ja in England berühmt geworden, man denke an die Abbey Road in London und diesen berühmten Streifen, den 1969 die Beatles überquerten. In Istanbul würde ich aber jedem raten, nur dann über einen Zebrastreifen zu gehen, wenn weit und breit kein Auto ist, denn in Istanbul würden sie nicht mal für die Beatles anhalten. In Antalya, wo eigentlich noch chaotischer als in Istanbul gefahren wird, kommt es hingegen immer wieder vor, dass völlig überraschend per Vollbremsung angehalten wird, weil hier Touristen ohne Vorwarnung von der Promenade in ihre Hotels laufen.

Meist sind es die Deutschen, die so tun, als sei es das Normalste der Welt, in der Türkei über einen Zebrastreifen zu gehen. Sie laufen ohne Blickkontakt einfach los, meist provozierend langsam. Für Türken ist die deutsche Langsamkeit ein kultureller Schock. Die Deutschen gehen quasi in Zeitlupe über den Streifen, so als existiere die restliche Welt gar nicht. Ich sehe häufig Türken, die in ihren Autos sitzen und die Deutschen anstarren wie Außerirdische.

Ich bin sehr oft in der Türkei, ich liebe das Land. Trotz Erdogan. Ich habe noch nie einen unfreundlichen Verkäufer oder Beamten erlebt, gestresst ja, existenziell am Abgrund, aber nicht unhöflich. Manchmal stört es mich, dass die Menschen nicht so wie bei uns Abstand halten, dass sie ständig im Café um den Stuhl herum wischen, auf dem man gerade sitzt oder dass einem die Verkäufer beim reinen Anschauen der Sachen hinterherlaufen oder die Kellner mitten im Gespräch unentwegt irgendwas hin und her räumen.

In Deutschland werde ich ständig beschimpft

Ich sehne mich dann komischerweise nach Begriffen wie Freiheit des Individuums, Distanz, Rationalismus, ich sehne mich nach Immanuel Kant, nach Aufklärung, nach Bürgertum, ja, und nach großen Bürgersteigen mit viel Platz und Abstand.

Wenn ich wieder in Deutschland bin, ist alles anders.

Ich stehe bewegungslos an Zebrastreifen, an denen mich wartende deutsche Autofahrer beschimpfen, ob ich eine Vollmeise hätte. Ich laufe durch Baumärkte auf der Suche nach einem Verkäufer, nach einer Hilfe. Ich zahle bei Rossmann und werde von anderen Kunden belehrt, wo man den roten Korb abzustellen hat. „Der kommt da nicht hin!“, schrie mich am ersten Tag allen Ernstes ein Rossmann-Kunde an. „Der kommt hier hin! Hier, nicht da!“

Ich bin dann immer fassungslos, ich wünsche mich in solchen Fällen wieder schlagartig zurück in die Türkei, nach diesem regellosen Irgendwie, nach dem Durcheinander, den Eselwagen und Pferdegespannen auf der Autobahn, nach den wahnsinnigen Rechtsüberholern, nach dem blinkerlosen Leben, denn niemand blinkt in der Türkei, wie einem auch nie jemand erklären würde, wo der rote Korb von Rossmann zu stehen hat.

In der Türkei freue ich mich auf Angela Merkel

Diese Extreme sind manchmal schwer in den ersten Tagen. Wenn ich in Deutschland bin, sehne ich mich nach der Türkei und umgekehrt. In der Türkei freue ich mich auf Angela Merkel und eine halbwegs intakte Opposition, ja, darüber kann man sich tatsächlich freuen. Und dass Demonstrationen in Deutschland von der Polizei freundlich begleitet werden, dass überhaupt Menschen, die protestieren, bewacht werden.

In der Türkei werden Pazifisten eingesperrt, bei uns dürfen die schlimmsten Pedanten bei Rossmann frei herumlaufen, das ist dann auch für heute der letzte Unterschied.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false