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Sind Arztgeschenke ein archaisches Überbleibsel?

© Illustration: Julia Schneider; Foto: iStock

Kleine Aufmerksamkeiten: Schenken bis der Arzt kommt

Schokoküsse für den Gynäkologen, Familienfotos für den Kinderarzt. Im Advent grassiert das Virus Dankbarkeit.

Der morgendliche Kaffee, ein lang erwartetes Paket oder ein frisches Franzbrötchen sind angenehmer als eine Stunde im Wartezimmer mit akuter Bronchitis. Trotzdem denken viele, wenn sie sich in diesen Tagen in Einkaufszentren mit Plastiktannen und falschem Schnee auf die Jagd nach Präsenten machen, an ihre Ärzte – und nicht an ihre Barista, die Postbotin oder den Bäckereifachverkäufer.

Zeit, bei ein paar Medizinern anzurufen: Wie ist das in Ihrer Praxis mit den Weihnachtsgeschenken?

„Ich habe das Gefühl, dass die Geschenke zunehmen, je näher das Fest rückt. Meistens sind es selbstgemachte Sachen. Einmal habe ich ein genähtes Stoffherz bekommen, ein anderes Mal ein grau meliertes, selbstgestricktes Etui für Papiertaschentücher. Das benutze ich auch, ehrlich!“ (Jillena Zinsser-Krys, Internistin, 29, Niederbayern)

„Wir erhalten viel Selbstgebasteltes und Bilder mit Weihnachtsmännern. Mit Süßigkeiten werden wir auch sehr gut versorgt. Eine Familie zum Beispiel macht selbst Honig, von dem haben sie uns etwas mitgebracht.“ (Bernhard König, 57, Kinderarzt in Berlin)

Manche spenden auch Geld

Die amerikanische Soziologin Jennifer Drew folgert in einem Aufsatz über die Beziehung zwischen Doktoren und ihren Patienten, dass Menschen ihren Ärzten deshalb etwas überreichen, weil sie sich in deren Schuld fühlen. „Bisweilen schreiben Patienten ihren Ärzten die Fähigkeit zu, ,Gesundheit’ zu schenken“. Und diese Gabe sei unbezahlbar.

„Eine Dame, die inzwischen im Pflegeheim lebt, hat mir jedes Mal teure Butter-Lindner-Pralinen mitgebracht. Die musste sie sich, glaube ich, wirklich vom Munde absparen. Ich habe es dann angenommen, obwohl es mich beschämt hat. Ich konnte es ihr ja nicht ausreden. Eine andere Patientin brachte mir jedes Mal, wenn sie ein Rezept abholte – und das war alle vier Wochen – 40 Schokoküsse vorbei. Ihr Mann arbeitete in einer Süßwarenfabrik. Kaum hatten wir die aufgegessen, kamen schon neue.“ (Oliver Schmid, 48, Gynäkologe in Berlin)

„In unserer Tagesklinik quellen an Weihnachten die Schubladen über vor selbstgebackenen Keksen. Manchmal bekommt man von Patienten auch extra etwas, mit dem Hinweis, dass das aber jetzt nicht für die gesamte Belegschaft bestimmt sei. Da ist auch mal eine Flasche Wein dabei. Geschenke sind fast immer Naturalien. Der ein oder andere spendet auch Geld. Das wird dann auf ein Konto eingezahlt, ganz offiziell, mit Spendenquittung. Das geht an die Palliativstation, dafür wurde extra ein Verein gegründet.“ (Jorge Riera-Knorrenschild, 50, Onkologe aus Marburg)

Doch ist das eigentlich erlaubt?

Kann aus einem unschuldigen Geschenk nicht schnell Bestechung werden? „Übertragung des Eigentums ohne Erwartung einer Gegenleistung“ steht im Lexikon unter „Geschenk“. Man gibt etwas und will nichts dafür zurück.

Wo diese Grenze verläuft, musste im Jahr 2007 ein Chirurg im Saarland schmerzlich erfahren. Eine Patientin, die er seit fast 30 Jahren behandelte, wollte ihm eine Freude machen – im Wert von 500 000 Euro. Zunächst war sich der Arzt nicht sicher, ob er eine solch hohe Summe rechtlich annehmen dürfe. Schließlich ließ er einen Vertrag aufsetzen, in dem seine Patientin versicherte, dass sie ihm als „Dank – und ausdrücklich nicht als Vergütung – für seinen Einsatz und seine Hilfsbereitschaft, aber insbesondere in der Hoffnung, dass er sich in Zukunft ebenso für mich einsetzt“, die halbe Million Euro schenkte. Der Fall endete vor dem saarländischen Ärztegericht, das den Chirurgen zu 15000 Euro Bußgeld wegen Verletzung seiner Berufspflichten verurteilte.

Was man dem Arzt seines Vertrauens unter den den Christbaum legen darf, ist nämlich sehr genau geregelt. Die Berufsordnung, sagt der Pressesprecher der Berliner Ärztekammer, sei, was das Schenken betrifft, „relativ kompakt“: Paragraf 32 bestimmt, welche Präsente Ärzte annehmen dürfen. Erlaubt seien Geschenke, die die Geringfügigkeitsgrenze nicht übersteigen. Die liegt in Berlin bei 25 Euro. Mit selbstgebackenen Plätzchen sei man immer auf der sicheren Seite.

Verboten ist hingegen alles, was die „Unabhängigkeit der ärztlichen Entscheidung“ beeinflussen könnte, also den Arzt dazu bringen könnte, anders zu handeln als normalerweise. Deshalb dürfe der Schenkende keine Gegenleistung erwarten. Das schließe auch Geschenke von Pharmafirmen mit ein.

Es drohen fünf Jahre Haft

Sind Arztgeschenke ein archaisches Überbleibsel?
Sind Arztgeschenke ein archaisches Überbleibsel?

© Illustration: Julia Schneider; Foto: iStock

Solche Gaben kennt auch der Onkologe Jorge Riera-Knorrenschild. Im Rahmen einer Forschungsstudie arbeitet seine Praxis mit einer Pharmafirma zusammen. Kürzlich habe er eine CD mit Weihnachtsliedern des Thomanerchors aus Leipzig geschenkt bekommen. „Das sind aber nie mehr als kleine Aufmerksamkeiten.“ Angeblich wurden früher auch größere Sachen verschenkt. Diese Zeiten seien allerdings vorbei. „Die Pharmaindustrie hat ihren Kodex, wir haben unseren Kodex und man macht sich ja auch strafbar.“

Seit Mitte dieses Jahres ist das Gesetz gegen Korruption im Gesundheitswesen in Kraft. Zuvor konnten niedergelassene Ärzte nicht wegen Bestechung belangt werden. Das neue Gesetz richtet sich aber nicht gegen Geschenke von Patienten, sondern solche von der Pharmaindustrie. Ärzte, die für eine Bevorzugung Vorteile annehmen, sich also bestechen lassen, können mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. In besonders schweren Fällen drohen sogar bis zu fünf Jahre Haft. Das gilt auch für Vertreter der Pharmaindustrie, die bestechen.

Während bei Geschenken von Pharmafirmen die Motive eher beruflich sein dürften, ist dies bei den Patienten nicht so einfach zu beantworten. Worin besteht die herzliche Beziehung, die manche dazu veranlasst, ihren Ärzten an Weihnachten etwas vorbeizubringen? Und warum bekommen die Baristas, Bäckereifachverkäufer und Postbotinnen dieser Welt von solch einer weihnachtlichen Stimmung nichts mit?

Die Geschichten werden vor Weihnachten persönlicher

Möglicherweise sind Arztgeschenke nicht mehr als ein archaisches Überbleibsel. Der Medizinmann war einer der ersten spezialisierten Berufe der frühen menschlichen Gesellschaft, der nicht mehr selbst für seine Nahrung sorgte – er hatte anderes zu tun. Und damit er nicht verhungerte, bekam er eben Geschenke vom Rest der Gruppe.

„Einmal hat mich ein Patient gefragt, ob ich Countrymusik mag. Er ist dann nach seinem Aufenthalt in unserer Klinik extra nochmal vorbeigekommen, um mir eine CD seiner Band zu bringen. Das schönste an solchen Geschenken ist, dass man den Patienten eine Freude macht, wenn man es annimmt und sich darüber freut. Da ist der Tag eigentlich schon gerettet, egal, was noch passiert.“ (Jillena Zinsser-Krys)

„Mein Vater war Gynäkologe wie ich, aber nicht in Berlin, sondern in einer schwäbischen Kleinstadt. Bei ihm, also vor 40 Jahren, haben die Hausfrauen immer etwas in die Praxis gebracht. Eine kam von einem größeren Bauernhof und schenkte kartonweise frische Eier. Ganz besonders natürlich zum heiligen Fest. Als Kind erschien es mir immer so, als sei das auch ein ein bisschen ein Wettbewerb darum, wer im Dorf die besten, die ausgefallensten Plätzchen mitbrachte. Die Patientinnen kamen mit Riesentüten voller Gebäck. Und meine Eltern brachten die Tüten aus der Praxis mit nach Hause. Auch die Geschichten werden vor Weihnachten persönlicher. Eine Frau erzählt, wie sie letztes Jahr noch mit ihrem Mann gefeiert hat oder dass die Kinder nicht mehr zum Feiern kommen oder dass sie jetzt einen neuen Partner hat.“ (Oliver Schmid)

Der Arzt gehört zur Familie

„Für viele Familien ist das Fest auch ein Anlass, uns Familienfotos zu schicken. Manche kennen wir schon seit Jahren. Die zeigen uns dann, wie die Familie gewachsen ist, wie die Kinder größer geworden sind. Je älter die Kinder werden, desto seltener kommen sie in die Praxis. Deshalb ist es schön, wenn wir an Weihnachten ein kleines Update bekommen. So zehn, fünfzehn Karten und Bilder sind das schon mal. Die hängen wir dann am schwarzen Brett auf.“ (Bernhard König)

Für den französischen Soziologen Marcel Mauss sind Geschenke, auch wenn sie, anders als zum Beispiel Kauf- oder Tauschhandel, dem ersten Anschein nach ohne Gegenleistung funktionieren, nie komplett bedingungslos, nie „gratis“. In seinem Essay „Die Gabe“ schreibt er, dass jemand, dem ein Geschenk angeboten wird, dieses Geschenk auch annehmen muss. Andernfalls würde man den Schenkenden ja vor den Kopf stoßen. Außerdem, schreibt Mauss, erwartet der Schenkende immer auch eine Erwiderung. Hier wird es kompliziert. Schließlich, so steht es in der Berufsordnung, darf der Schenkende keine Gegenleistung erwarten.

Die vielleicht schönste Antwort auf das großzügige Verhalten der Patienten hat vor knapp 50 Jahren der englische Schriftsteller und Dichter John Berger gefunden. Mitte der 1960er Jahre lebte er für mehrere Wochen im Haus des britischen Arztes John Sassall, ein Aufenthalt, der zu der soziologischen Beobachtung „Geschichte eines Landarztes“ führen sollte. „Wir gewähren“, schreibt Berger in einer Reflektion über den Beruf des Arztes, „dem Arzt Zugang zu unserem Körper, wie wir ihn sonst freiwillig nur Geliebten gewähren.“

Aufgrund dieser Nähe schlössen Patienten ihren Arzt quasi in den Kreis der Familie mit ein: „Wir stellen ihn uns als Ehrenmitglied vor“, schreibt Berger.

Und an Weihnachten, so ist das eben, gibt es Geschenke für die ganze Familie. Auch wenn sie weiße Kittel trägt.

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