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Die russische Kulturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa.

© Mike Wolff

Interview mit Irina Scherbakowa: „Ich muss einfach in Russland sein“

Sie interviewte Überlebende des Gulag und versteckte die Kassetten bei sich zu Hause. Die russische Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa über den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution.

Frau Scherbakowa, Ihre Organisation „Memorial“ war 1989 die erste NGO der Sowjetunion und bemüht sich seitdem um die Aufarbeitung kommunistischer Verbrechen. Gerade jährte sich die Oktoberrevolution zum 100. Mal, haben Sie etwas zu diesem Jubiläum veranstaltet?

Ja, eine Ausstellung, in der es um 50 Leute geht, die zu den ersten Opfern der Bolschewiki gehörten, noch vor dem Beginn des Bürgerkriegs im Frühjahr 1918. Unter den Verhafteten waren interessanterweise viele Sozialdemokraten. Aber auch Leute, die man auf der Straße aufgegriffen hatte, weil sie irgendwie bürgerlich aussahen.

Wir wollen über die Geschichte der Sowjetunion sprechen – und wie sie nachwirkt. Wie haben Sie den Jahrestag der Revolution erlebt?

Offizielle Feierlichkeiten gab es nicht. Revolution ist in Russland ein sehr unangenehmes Wort geworden, etwas Gefährliches, da denkt man an die Orangene Revolution oder so. Aus der Perspektive der heute herrschenden Ideologie betrachtet, war die Oktoberrevolution eine Katastrophe. Vorher hatten wir ein stolzes Zarenreich, dann kamen die Bolschewiki und haben alles zerstört, unterstützt vom Ausland. Die bestimmende historische Figur ist derzeit der letzte Zar, Nikolaus II. …

den Lars Eidinger gerade in „Mathilde“ verkörpert. Der Film erzählt von einer Affäre des Monarchen mit einer Balletttänzerin. In Russland hat er starke Proteste ausgelöst.

Es entflammte fast ein Krieg dagegen! Der Zar soll nicht als Mensch gezeigt werden dürfen. Andererseits liegt Lenin, sein Hauptgegner und der für seinen Tod Verantwortliche, nach wie vor im Mausoleum auf dem Roten Platz. Es gab Gerüchte, dass man ihn um den Jahrestag der Revolution herum begraben wird, doch das ist nicht passiert. Die Parole lautet eben: Stabilität, keine Umwälzungen.

Woran arbeiten Sie bei „Memorial“ gerade?

Am 5. Dezember haben wir unsere erneuerte Datenbank veröffentlicht. Sie verzeichnet jetzt 3,1 Millionen Opfer, mit Kurzbiografie, Verhaftungsgrund und Todesursache. Wir haben auch eine Datenbank mit 40 000 Tätern. Es gab ein Riesengeschrei darum. Wir wollten den Bürgerkrieg, hieß es. Doch da steht nicht, an welchen Verbrechen jemand konkret beteiligt war, sondern nur, wo er in den Staatssicherheitsstrukturen gearbeitet hat.

Präsident Putin hat mal gesagt, wer die Sowjetunion nicht vermisse, habe kein Herz, aber wer sie sich zurückwünsche, keinen Verstand. Hat er recht?

Also gut …

Sie zögern.

Zumindest in diesem Fall hat er wahrscheinlich recht. Es gibt auch Zitate von ihm, die anders klingen. Zum Beispiel, dass der Zerfall der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe für Russland im 20. Jahrhundert war.

Ihr eigener Großvater war überzeugter Kommunist. Er hatte eine hohe Stellung in der Kommunistischen Internationale, der Komintern. Sie haben vor Kurzem die Biografie Ihrer Familie geschrieben – um Ihre Vorfahren besser zu verstehen?

Ja. Zum Glück blieb meine Familie vom Großen Terror unter Stalin verschont. Dadurch konnten wir relativ offen sprechen, es gab keine sprichwörtlichen Leichen im Keller. Bei „Memorial“ erleben wir oft das Gegenteil: Familien, in denen immer geschwiegen wurde. Unser Archiv ist voll mit zerschnittenen oder geschwärzten Fotos. Es gibt viele, die jahrzehntelang nicht wussten, dass ihre Großväter gar nicht die sind, von denen sie das immer glaubten. Ihre Familien hatten die Erinnerungen an die Angehörigen, die während des Terrors verschwunden waren, aus Angst getilgt.

Ihre Großeltern wohnten im Moskauer Hotel Lux, wo in den 30er Jahren vor allem kommunistische Emigranten untergebracht waren, etwa Herbert Wehner und Markus Wolf. Kennen Sie die Tragikomödie von Leander Haußmann über das Lux?

Ehrlich gesagt finde ich den Film ein wenig plump. Man hätte Komischeres daraus machen können. Meine Mutter hat in dieser Zeit zum Beispiel das Skilaufen von Walter Ulbricht gelernt. Als Kind hat man mir oft davon erzählt, ich konnte gar nicht glauben, dass er so eine „menschliche“ Seite hatte. Selbst in Russland erzählte man Witze über ihn, er galt als Inbegriff des sturen Parteifunktionärs.

"Der KGB arbeitete genauso schlecht wie der Rest des Landes"

Im Winterpalast in St. Petersburg weist eine hohe Plakatwand auf eine Ausstellung zum 100-jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution hin.
Im Winterpalast in St. Petersburg weist eine hohe Plakatwand auf eine Ausstellung zum 100-jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution hin.

© Friedemann Kohler/dpa-Bildfunk

Ihre erste bewusste Erinnerung, schreiben Sie, sei im Alter von vier Jahren Stalins Tod gewesen. Eine Art Vorbestimmung?

Unbedingt. Weil das eine unglaubliche Zäsur war. Die „Menschenfresserzeiten“ waren zu Ende, der fanatische Glaube an diese Person und an den Kommunismus ging verloren. Mein Leben begann und schritt voran, während das von Stalin errichtete System immer schwächer wurde. Auch wenn es natürlich Rückschläge gab, wie unter Breschnew, der Reformen stoppte.

Ihr Vater, der Literaturkritiker war, mochte die Deutschen nicht besonders, auch, weil er wegen einer Kriegsverletzung verstümmelte Hände hatte. Trotzdem schickte er Sie später in den Deutschunterricht.

Deutsch war die Fremdsprache, die meine Großeltern am besten beherrschten, und es war traditionell die Sprache der Komintern. Mein Vater interessierte sich auch für deutsche Literatur und Philosophie, vor allem für die Bücher zum Krieg. Er wollte die andere Seite verstehen. Was von Böll oder Grass übersetzt wurde, hat er sofort gelesen.7

Sie haben später das Werk deutschsprachiger Schriftsteller, von Franz Kafka bis Christa Wolf, ins Russische übertragen. Welcher Autor hat Ihnen am meisten Kummer bereitet?

Ich muss gestehen, dass die Übersetzungsarbeit für mich eher eine Nische war, wie man sie in einer Diktatur wählt, um möglichst frei zu sein. Am meisten habe ich mich immer für Geschichte interessiert und mich über den Umweg der Literatur damit beschäftigt. Anfang der 80er Jahre habe ich etwa einen Band mit Erzählungen von DDR-Autorinnen zusammengestellt. Nun konnte man das Ende der DDR damals so wenig absehen wie das der Sowjetunion, aber der trostlose Alltag, der in diesen Geschichten geschildert wurde, zeigte mir, dass alles … Wie sagt man auf Deutsch? ... Dass alles morsch war.

Die DDR wirkte bei Ihren Besuchen in den 70er und 80er Jahren besonders repressiv auf Sie.

Das vielleicht nicht, aber mein Eindruck war, dass es mehr Angst gab, der Druck stärker war. Man hat mir oft gesagt, dass ich bestimmte Dinge nicht in Briefen erwähnen oder bestimmte Namen nicht in der Öffentlichkeit nennen sollte.

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In der Sowjetunion war das tatsächlich anders?

Wir hatten das Gefühl, dass der KGB genauso schlecht arbeitete wie der Rest des Landes. Sie lachen, doch der Blick in die Akten hat das später bestätigt. Nehmen Sie Alexander Solschenizyn, den Staatsfeind Nummer eins. Über den gab es Berge von Dokumenten, es gab Durchsuchungen und Anweisungen, wie man seine feindliche Tätigkeit unterbinden müsse. Gut, sie haben ihn irgendwann aus dem Land geworfen, aber seine Schriften haben sich extrem stark verbreitet.

Nach der Lektüre von Solschenizyns „Archipel Gulag“ beschlossen Sie Ende der 70er Jahre, Frauen zu interviewen, die in den sowjetischen Lagern eingesessen hatten. Wie gefährlich war das?

Es gab eine ganze Gruppe, die ein ähnliches Ziel verfolgte, und deren Kopf Arseni Roginski …

... heute der Vorsitzende von „Memorial“ ...

… ist 1982 verhaftet worden. Er musste für vier Jahre ins Lager, weil die Gruppe die gesammelten Texte im Ausland veröffentlicht hatte. Ich habe das ja nur für mich selbst gemacht, in aller Heimlichkeit. Zu einigen Leuten ging ich mehrere Male, manchmal saßen wir tagelang zusammen. Ich nahm die Gespräche auf Tonband auf, bis 1988 habe ich keines davon transkribiert. Die Kassetten lagen bei mir, versteckt in verschiedenen Ecken. Weil ich dachte, dass Manuskripte viel Platz wegnehmen, leicht les- und auffindbar wären.

Sie schildern, dass viele Häftlinge auch nach der Zeit im Gulag gläubige Kommunisten blieben.

Einmal habe ich eine Frau interviewt, die 1927 mit 17 Jahren als Trotzkistin ins Lager gesteckt und erst 1957 wieder freigelassen wurde. An ihren Ideen hielt sie dadurch eher noch stärker fest. Ich habe sehr wenige Menschen erlebt, die aus dem Gulag kamen und nicht in die Partei zurückgingen. Gut, es gab praktische Gründe, man wollte wieder ins Leben. Aber manche haben sich so sehr mit der Ideologie identifiziert, andernfalls wäre ihnen das Leben sinnlos erschienen; sie hassten Stalin, doch glaubten nach wie vor an Lenin.

"Heute wird alles Ideele auf die Vergangenheit projiziert"

Russlands Präsident Wladimir Putin.
Russlands Präsident Wladimir Putin.

© Alexei Nikolsky/dpa-Bildfunk

„Memorial“ entstand in der Perestroika, in einer Aufbruchsstimmung.

Und die dauerte höchstens vier Jahre. Anfangs hatten wir das Gefühl, Teil einer breiten Bewegung zu sein. Dann kamen die marktwirtschaftlichen Reformen, und die Leute hatten immer weniger Lust, sich an die Vergangenheit zu erinnern, weil die Gegenwart so schwierig war. Schon unter Jelzin wurden unsere Menschenrechtler wegen unserer Kritik am Tschetschenienkrieg vom Staat als Feinde betrachtet. Und als mit den nuller Jahren ein neuer Nationalstolz aufkam und damit die Verdrängung von kommunistischem Terror, fühlten wir uns ziemlich am Rand der Gesellschaft. Doch seit einigen Jahren spüren wir neues Interesse, vor allem von jungen Menschen. Einigen unserer Mitbürger ist klar geworden, dass die Mächtigen die Vergangenheit missbrauchen, um sich eine neue Ideologie zu basteln – und dass man sich deshalb mit ihr beschäftigen muss.

Laut Umfragen gehört Stalin doch wieder zu den beliebtesten politischen Figuren.

Man beschwört den starken Staat, und in diesem Sinne verkörpert Stalin die Fortsetzung des verlorenen Zarentums. Denn er hat das Imperium wieder aufgebaut. Die ewige Gretchenfrage in Russland lautet: Ist der Staat für den Menschen da oder der Mensch für den Staat? Im Moment befinden wir uns erneut in einer Situation, in der der Staat das Wichtigste sein soll. Ein Staat, der angeblich Stabilität und Ruhe gewährleistet.

Ist Stalin nicht einfach das Symbol für den Sieg im Zweiten Weltkrieg, Russlands ganzen Stolz?

Eines der größten Probleme in Russland heute ist das Fehlen einer Zukunftsperspektive. Erstens haben die meisten Leute keine finanziellen Rücklagen, und außerdem gibt es keine Visionen. Was ist das überhaupt für ein Staat, den wir da haben – das wird ja niemals benannt –, und was wird aus ihm? In sowjetischen Zeiten hat man eine Utopie verkündet, die nächste Generation wird schon im Kommunismus leben und so weiter. Heute wird alles Ideelle auf die Vergangenheit projiziert.

Eben zum Beispiel auf den „Großen Vaterländischen Krieg“?

Der Krieg als ein Thema, das fast alle Familien anspricht, ist zu einer unantastbaren Ikone geworden. Schlimmer als in sowjetischen Zeiten. Damals gab es noch mehr ehemalige Soldaten, die die fürchterliche Seite dieses Kriegs kannten. Es wäre wichtig, Fragen zu stellen wie diese: Musste man wirklich so viele Menschen opfern? Und was waren die Folgen unseres Siegs für Osteuropa?

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Der Staat stuft Sie und Ihre Kollegen als ausländische Agenten ein. Was bedeutet das im Alltag?

Für uns ist die gemeinsame Arbeit mit Museen, Bibliotheken und Schulen wichtig, und leider haben viele dieser Institutionen Angst, sich sozusagen bei uns anzustecken. Wir fühlen uns stigmatisiert, sind mit unglaublichen bürokratischen Schikanen konfrontiert.

Warum verzichten Sie nicht auf das Geld ausländischer Stiftungen?

Bei manchen Projekten muss man über Grenzen hinweg arbeiten, das ist seit jeher unsere Überzeugung. Denn die Opfer des Sowjetsystems hatten ja alle möglichen Nationalitäten, es waren auch viele Deutsche darunter. Außerdem hat das große Geld in Russland meist Angst, die angeblichen ausländischen Agenten zu unterstützen, man will seine Geschäfte nicht gefährden. Wir haben aber auch russisches Geld für unsere Projekte.

Welcher russische Politiker gibt Ihnen Hoffnung?

Niemand. Was nicht heißt, dass ich einigen Politikern aus der Opposition nicht positiv gegenüberstehe. Aber ich sehe leider keinen, der eine relevante Bewegung, eine für die Menschen überzeugende politische Kraft schaffen könnte.

Wenn man sich große Teile der Opposition anschaut – Altkommunisten, extreme Nationalisten –, kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass Ihr Land mit Putin noch gut bedient ist.

Das ist immer die Täuschung, die die Macht bei den Menschen erzeugen will, damit die nicht auf den Gedanken kommen, etwas zu verändern: Wenn nicht wir, dann kommen noch Schlimmere.

Manche in Ihrer Familie sind in die USA, nach Deutschland oder Israel ausgewandert. Spielen Sie auch mit dem Gedanken?

Ich mag keine großen Worte, ich bin in diesem Land geboren, aufgewachsen, und mich hat mein ganzes Leben die Geschichte Russlands und seiner Menschen im 20. Jahrhundert interessiert. In den 90er Jahren hatte ich die Möglichkeit, dank Gastprofessuren oder Fellowships längere Zeit im Ausland zu verbringen. Dort fürchtete ich immer, den Anschluss zu verlieren, bald nicht mehr zu wissen, was bei uns passiert, was die Leute wirklich denken. Ich muss einfach in Russland sein.

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