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Andria Zafirakou unterrichtet seit 13 Jahren Kunst und Textilgestaltung an der Alperton Community School in London.

© Varkey Foundation

Interview mit Andria Zafirakou: „Null Talent gibt’s nicht“

Sie wurde zur besten Lehrerin der Welt gewählt. Andria Zafirakou über Fehlermachen fürs Leben und warum die Schule auch mal geschlossen bleiben muss.

Frau Zafirakou, können Sie sich noch an Ihren ersten Schultag als Lehrerin erinnern?

Und ob. 13 Jahre ist das her. Der Kunstraum lag unterm Dach, ich kam zur Probestunde rein – schrecklich!

Was war denn so schlimm?

Die Tische standen alle in Reihen hintereinander, als sollten die Schüler eine Prüfung ablegen. Dabei ist Kunst ein Fach, bei dem man zusammenarbeitet. Die Tapete löste sich, es hingen kaum Bilder an der Wand, die die Kinder hätten inspirieren können, und die Oberlichter der Fenster ließen sich nicht mehr schließen. Es war eiskalt und schneite rein, ich habe bitterlich gefroren. Die Kids kannten das ja, die trugen alle Handschuhe und warfen mit Schneebällen rum.

Warum haben Sie sich nicht umgedreht und sind gegangen?

Ich habe sie zeichnen lassen, Porträts. Wenn Kinder das hören, flippen sie aus: Ich kann kein Gesicht malen! Diese Mauer wollte ich durchbrechen. Sie sollten mit ausgestrecktem Arm zeichnen, mit einem Bleistift, der an einer Stockspitze befestigt war, was ausprobieren. Und wenn man Schülern viele kleine Aufgaben gibt, die sie ganz schnell lösen müssen, zwei Minuten, los, die nächste, zwei Minuten, weiter, zack, zack, zack, haben sie keine Zeit mehr zu quatschen oder sich ablenken zu lassen. Am Ende hat’s ihnen Spaß gemacht.

Ihnen auch?

Ich wollte nicht bleiben, das war mir zu heftig. Ich dachte, ich finde was Besseres, wo die Kinder wirklich zeichnen wollen. Aber nach der Stunde kamen zwei Mädchen zu mir, die kaum Englisch konnten, ganz schüchtern, und sagten: Miss, können Sie bitte bleiben! Die beiden haben mich umgestimmt.

Sie hatten sich mit Brent auch eines der ärmsten und multikulturellsten Viertel Londons für Ihre Bewerbung ausgesucht, mit der zweithöchsten Mordrate im ganzen Land

… aber die damalige Direktorin war umwerfend, sie wollte etwas verändern.

Das scheint dem Kollegium gelungen zu sein: Die Alperton Community School sitzt seit diesem Sommer in einem Neubau, hat Kunst als Schwerpunkt, wurde mehrfach ausgezeichnet. Und am Eingang hängt ein Banner mit Fotos von Ihnen – Sie mit Theresa May, Sie mit Meghan Markle, Sie mit Lewis Hamilton. Sieht schwer nach Starkult aus.

Die Schule zeigt nur, dass sie stolz auf mich ist.

Die Varkey Foundation, Bildungsstiftung eines indischen Milliardärs mit Wohnsitz in Dubai, hat Sie in diesem Jahr zur besten Lehrerin der Welt gekürt: Sie haben den mit einer Million Dollar dotierten „Global Teacher Prize“ gewonnen. Mehrere Jurys haben Sie aus 30000 Kandidaten herausgefiltert. Was macht Ihren Unterricht denn so besonders?

Ich kann Ihnen nur sagen, was mir wichtig ist. Unsere Gesellschaft will dauernd Zahlen sehen: Aber was sagen uns die Daten? Dabei wird ganz vergessen, dass man, um jemandem helfen zu können, Zeit braucht. Zeit für einen allein. Manchmal löst ein einziger Satz etwas aus, was das Leben dieses Menschen verändert.

Wollen die Kinder überhaupt mit einem Lehrer reden?

Unsere Schüler stehen unter einem wahnsinnigen Druck, wachsen oft unter schlimmen Zuständen auf, in großer Armut. Da leben fünf, sechs Familien in einem Einfamilienhaus, Kinder sind sich selbst überlassen. In der Situation gehen sie zu Menschen, die ihnen das Gefühl geben, gewollt zu sein. Das können auch Bandenmitglieder sein. Deswegen müssen wir Beziehungen zu unseren Schülern aufbauen, mit ihnen reden. Dann öffnen sie sich: Miss, ich will nicht nach Hause gehen.

Und was machen Sie in so einem Fall?

Dann frage ich: Was ist los? Es kann sein, dass sie irgendwann sagen: Ich ritze mich, mein Vater schlägt meine Mutter. Wir bringen Polizei, Sozialpädagogen und Lehrer an einen Tisch. Die Schule ist für unsere Kinder ein sicherer Ort. Viele bleiben nach dem Unterricht im Klassenzimmer, machen dort Hausaufgaben, hören Musik.

„Die großen Firmen suchen nicht nach Technologen“

Mehr als Malen. Im Kunstunterricht lernen Kinder Kommunikation und Selbstvertrauen.
Mehr als Malen. Im Kunstunterricht lernen Kinder Kommunikation und Selbstvertrauen.

© imago/Panthermedia

Dank des Preises sind Sie nun eine reiche Frau. Eine Million Dollar – genug für ein kleines Häuschen ...

... das Geld wird in Raten ausgezahlt, über zehn Jahre verteilt. Ich habe damit eine Stiftung gegründet, Artists in Residence, bringe bildende Künstler, Musiker, Schauspieler und Tänzer an Schulen in benachteiligten Vierteln mit hoher Kinderarmut. Damit will ich auch klar machen, wie wichtig diese Fächer sind, dass sie fester Bestandteil des Lehrplans sein müssen und nicht nur eine Zugabe.

Die Stunden und der Etat für Kunst und Musik werden in England kontinuierlich gekürzt, der Lehrermangel ist eklatant. Auch in Berlin fehlt es in diesen Fächern nach Angaben der Senatsverwaltung an voll qualifizierten Pädagogen.

Der Schwerpunkt liegt zunehmend auf dem Kerncurriculum: Englisch, Mathe, Naturwissenschaften. Darüber muss ein Schuldirektor der Behörde gegenüber Rechenschaft ablegen. Das stellt ihn vor schwierige Entscheidungen: Eigentlich brauche ich in dieser Klasse einen Mathelehrer – kann ich da einen speziellen Kunstkurs anbieten, an dem nur vier Kinder teilnehmen? Mit der Stiftung will ich helfen, diese Lücke zu füllen.

Bringen Mathe und Englisch nicht mehr bei der Jobsuche?

Die Elfjährigen, denen ich gerade textiles Werken beibringe, kommen zum Unterricht gerannt, weil sie sich so darauf freuen. Die künstlerischen Fächer fördern den Kontakt miteinander, die Kinder können reden, Ideen austauschen, einander helfen. Bei uns kann ein Schüler, der in den akademischen Fächern schlecht abschneidet, Erfolg haben, selbst wenn er kaum Englisch spricht. Man lernt so viel mehr als Malen: Kommunikation, Selbstvertrauen – etwas, was sie mehr denn je brauchen.

Und was, wenn ein Kind sagt: Ich habe null Talent?

Dann antworte ich: Das gibt’s nicht. Lass mich helfen. Wenn sie mit einer Aufgabe kämpfen, setze ich mich zu ihnen, wenn’s sein muss, eine halbe Stunde lang, während die anderen an ihren Sachen arbeiten. Wir bleiben einfach dran, ich werde etwas finden, was ich loben kann. Bei uns gibt’s einen Jungen mit besonderem Förderbedarf, sehr aggressiv. Er rannte ständig aus dem Unterricht, kann keinen ganzen Satz schreiben, Freunde hat er auch nicht. Einmal haben die Mitschüler ein Bild von ihm richtig gefeiert. Als herauskam, dass er es gemalt hatte, haben alle geklatscht.

Ein schönes Erlebnis. Und am nächsten Tag ist alles beim Alten?

Von dem Moment an war der Junge verwandelt. Jetzt erzählen die anderen Lehrer, dass er eine ganze Schulstunde durchhält, sich länger auf eine Aufgabe konzentrieren kann.

Kunst ist doch keine Wunderkur.

Er hat immer noch schlechte Tage. Aber für ihn ist es ein Durchbruch. Kunstunterricht gibt gerade Sonderschülern die Möglichkeit, mal keine Fehler zu machen. Eins und eins macht zwei, da gibt’s nur die eine Lösung. Wenn bei uns etwas nicht gelungen ist, sage ich ihnen: Kein Problem, probier einfach was anderes aus. Wenn diese Farbe nicht funktioniert, nimm halt eine andere.

Das ist doch frustrierend, immer wieder von vorne anzufangen.

Das sollen sie auch nicht. Ich sage ihnen ausdrücklich, schmeiß das Bild nicht weg, arbeite weiter daran. Diese Art der Problemlösung wird hilfreich sein, wenn sie erwachsen sind. Die großen Firmen heutzutage, die suchen ja nicht nach Technologen, sondern nach Kreativen. Das prophezeit auch das Weltwirtschaftsforum, dass dies die Jobs der Zukunft sein werden.

In Ihrem Bezirk werden 150 Sprachen gesprochen, von Gujarati über Tamil bis Portugiesisch. Können Sie sich überhaupt ohne Dolmetscher verständigen?

Ich komme aus einer griechisch-zypriotischen Familie und bin bilingual aufgewachsen. Wenn ich die Kinder mit Guten Morgen auf Hindi oder Arabisch begrüße, fangen sie an zu strahlen. Für mich ist es einfach eine Geste der Freundlichkeit. Wir feiern die Herkunft, die Kulturen der Kinder. Und bieten Eltern Englischkurse an.

„Ich habe schwierige Phasen an der Schule gehabt“

Im Rampenlicht. Seit der Preisverleihung wird Zafirakou zu Gesprächen, Tagungen und Events eingeladen.
Im Rampenlicht. Seit der Preisverleihung wird Zafirakou zu Gesprächen, Tagungen und Events eingeladen.

© imago/Matrix

Theresa May hat Ihnen persönlich zum Preis gratuliert. Obwohl Sie, wie der „Guardian“ schrieb, diesen nie hätten gewinnen können, wenn Sie sich an den staatlich vorgeschriebenen Lehrplan gehalten hätten. Sie fordern, dass die Schule sich vom Standard-Curriculum lösen, mehr an den Bedürfnissen der Schüler orientieren sollte, haben die Gründung eines Somali-Chors unterstützt, ein Cricket-Team nur für Mädchen gegründet.

Nach der Verleihung wurde ich gefragt, ob ich das Werbegesicht für die Rekrutierung von Lehrern sein wollte. Ich habe mich geehrt gefühlt, aber abgelehnt. Ich weiß, was der Beruf bedeutet. Sie können sich das Tempo nicht vorstellen. Wir haben 1600 Schüler hier – und 110 Lehrer. Von dem Moment, da Sie die Schule betreten, geht es nur noch bam, bam, bam. Ich fange um halb acht morgens an und komme um halb acht abends nach Hause. Dann bringe ich meine Töchter ins Bett und setze mich wieder an den Schreibtisch.

Gehen Sie mit den Kindern auch ins Museum?

Klar! Für Bildungsbürgerfamilien ist das ganz selbstverständlich, für unsere Schüler nicht. Viele sind noch nicht mal U-Bahn gefahren, und die hält gleich neben der Schule. Wir müssen ihnen erst mal U-Bahn-Etikette beibringen: Wenn jemand Älteres reinkommt, steht ihr auf, achtet auf eure Ausdrucksweise, auf den Lärmpegel.

Mit dem Durchsetzen werden Sie keine Probleme haben, Sie haben sich selbst als „bossy“ beschrieben, hätten schon als Kind der Lehrerin gesagt, wo es langgeht.

Oh ja! Auch meinen Mann und meine Töchter kommandiere ich gern rum.

Sie lachen. Schreien Sie im Unterricht auch mal?

Was denken Sie denn! Ich will nicht den Eindruck vermitteln, dass alles happy happy ist. Unterrichten ist richtig hart. Ich habe schwierige Phasen an der Schule gehabt, Tage, an denen ich kurz davor stand, wegzulaufen. Aber ich habe es nie getan und werde es nie tun. Denn es geht um die Kinder. Ich verbringe einen großen Teil meines Tages damit, Kinder zu beraten, mir ihre Probleme erzählen zu lassen, statt sie zu disziplinieren, wenn sie etwas angestellt haben.

Wann haben Sie das letzte Mal an der Schule geweint?

Ich hatte darum gebeten, einen Morgen frei zu bekommen, um meine Tochter im Krippenspiel zu sehen, da muss sie fünf oder sechs gewesen sein, und es wurde abgelehnt. Das hat mich sehr verletzt. Meine Kinder sind doch auch wichtig! Daraus habe ich gelernt: Es ist nie wieder passiert, ich habe meine Position deutlich gemacht. Als Schuldirektorin würde ich immer dafür sorgen, dass die Mitarbeiter auch an ihr eigenes Leben denken. Ihr Wohlbefinden muss uns wichtig sein, sie bringen so viele Opfer. Der Krankenstand war bei uns stark gestiegen.

Was können Sie denn für das Wohlergehen der Lehrer tun?

Gerade haben wir die Schule wieder für einen Tag geschlossen, damit sie sich um eigene Sachen kümmern, zum Arzt gehen können. Wir bieten ihnen Kurse an: Kendo, Ringen, Kochen, Yoga, Badminton, Tischtennis. Vor drei, vier Jahren haben wir mit Achtsamkeitsseminaren angefangen – das hat sich als unglaublich hilfreich für die Kollegen entpuppt. Wir müssen ihnen Instrumente geben, den Druck meistern zu können. Wir haben sogar einen Boxtrainer angeheuert.

Und wie wird das alles finanziert?

Aus dem Schuletat. Es ist eine Investition in unsere Mitarbeiter.

Bei der Preisverleihung im Frühjahr waren Sie nicht allein. Insgesamt zehn Lehrer standen auf der Shortlist und kamen aus der ganzen Welt nach Dubai.

Das Ganze war gewaltig, zu gewaltig. Der Glamour, die Celebrities, wir fühlten uns total eingeschüchtert. Dort saßen Minister, Prominenz, CEOs, Multimillionäre – und dann wir Lehrer. Als käme man in ein fremdes Land und träfe jemanden, der die eigene Sprache spricht: Man spürt eine Verbundenheit. Wir waren die Medienaufmerksamkeit überhaupt nicht gewohnt, hatten keine Ahnung, wie man ein Interview gibt. Was soll ich sagen? Was nicht?

Sie reisen jetzt zu Tagungen und Gesprächen um die Welt, morgen Oslo, Freitag Brüssel, zwischendurch Regierungsgespräche in London ...

… ich hatte einen Auftritt in Harvard! So was erzählt man seinen Enkeln. Am liebsten würde ich alles in eine Büchse stecken, um es rauszuholen, wenn ich mal Aufmunterung brauche. In New York durfte ich auch eine Klasse unterrichten. Das war der Moment, wo ich mich wirklich zu Hause gefühlt habe. Ich tauche beim Unterrichten total ein, denke an nichts anderes mehr. Das hat etwas unglaublich Befriedigendes.

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