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Der französische Schauspieler Vincent Lindon kann in seiner Heimat keine zehn Meter gehen, ohne erkannt zu werden.

© AFP

Interview: "Mann, Kevin!": So zieht Vincent Lindon über Kevin Spacey her

Schauspieler. "Nennen sich Künstler und bilden sich eine Menge darauf ein". Ob er anderen gefällt, ist Vincent Lindon, der gerade als Rodin auf der Kinoleinwand zu sehen ist, herzlich egal, sagte er - und redet sich in Rage.

Monsieur Lindon, was ist für Sie das Wichtigste bei der Schauspielerei?

Glaubwürdigkeit. Allein die kleinsten Gesten. Wenn ich einem Darsteller nicht glaube, verlasse ich sofort das Kino. Für mich ist es in meinem Beruf ganz entscheidend, nicht zu schauspielern. Ich kann nicht bloß so tun, als ob – ich muss eine Filmfigur wirklich verkörpern, sie durchdringen, eins werden mit ihr.

Sie haben unter anderem einen Maurer (in „Mademoiselle Chambon“), einen Bademeister (in „Welcome“) und einen Ladendetektiv (in „Der Wert des Menschen“) gespielt. Wie versuchen Sie, in diesen Berufen glaubwürdig zu wirken?

Ich habe immer schon sehr gern Menschen beobachtet. Es interessiert mich, wie jemand eine Zigarette hält, ein Stück Fleisch schneidet oder eine Kaffeetasse in die Hand nimmt, wie ein Bademeister am Beckenrand entlangläuft, ein Maurer seine Bierflasche öffnet oder ein Wachmann im Supermarkt in sein Funkgerät spricht. Solche Details bilden für mich die Essenz eines Charakters. Und wenn ich diese Bewegungsabläufe einmal gesehen habe, kann ich sie problemlos speichern, verinnerlichen und wieder abrufen.

Können Sie denn als Prominenter überhaupt noch ungehindert andere Leute beobachten?

In Frankreich kann ich keine zehn Meter gehen, ohne erkannt zu werden. Aber ich versuche trotzdem, mich ganz normal in der Öffentlichkeit zu bewegen: Ich habe keinen Leibwächter, keinen Assistenten und keinen Chauffeur; ich erledige alle meine Einkäufe selbst und bin mit dem Motorroller oder mit der Bahn unterwegs; ich trete in Kontakt mit Passanten, rede mit ihnen und beobachte sie dabei. Die meisten Begegnungen sind sehr nett. Probleme gibt es nur, wenn jemand mich mit seinem verfluchten Handy filmt, ohne um Erlaubnis zu fragen. Manche Leute haben jeglichen Anstand verloren. Seit Jahren führe ich einen Krieg gegen Smartphones. Sie sind für mich die Pest der Neuzeit.

Nun verkörpern Sie die Titelfigur im Historiendrama „Auguste Rodin“. Wie haben Sie sich dem berühmten Bildhauer genähert?

Ich habe viel über ihn gelesen und bin x-mal ins Pariser Rodin-Museum gepilgert. Vor allem jedoch habe ich in einem Kurs fünf Monate lang rund fünf Stunden täglich gelernt, wie man Skulpturen macht. Es war eine wunderbare Erfahrung: Bei der Bildhauerei konnte ich alles um mich herum vergessen. Ich stamme eigentlich aus einer Intellektuellenfamilie und hatte bislang nie richtig mit den Händen erarbeitet. Darum fand ich es großartig, dass ich nun als Rodin meine Hände dazu benutzen konnte, um etwas zu erschaffen.

2015 gewann Lindon in Cannes die Palme als bester Schauspieler für "Der Wert des Menschen".
2015 gewann Lindon in Cannes die Palme als bester Schauspieler für "Der Wert des Menschen".

© imago/Haytham Pictures

Tatsächlich zeigen minutenlange ungeschnittene Einstellungen im Film, wie Sie im Atelier werkeln.

Ja, es ist ein Film über den künstlerischen Schaffensprozess. Biopics interessieren mich nicht – das ist bloß abgefilmtes Wikipedia. Wir wollten Rodin bei der Arbeit zeigen; die handwerklichen Abläufe, die Zweifel, die Schmerzen. Oft sieht man ja Filme über Maler oder Pianisten, in denen mit wüsten Schnitten getrickst wird, sodass man instinktiv spürt, dass der Darsteller gar nicht malen oder Klavier spielen kann. Von mir aus dürfen Sie gern kritisieren, unser Rodin-Film sei zu lang oder zu dröge. Aber eines lasse ich mir nicht vorwerfen: dass ich in der Rolle unglaubwürdig oder nicht authentisch wäre. Sie sehen auf der Leinwand, wie ich als Bildhauer arbeite, in Echtzeit, ohne jede Schummelei. Und darauf bin ich stolz.

Planen Sie irgendwann eine Ausstellung mit den Werken, die Sie erschaffen haben?

Sicher nicht. Doch eine meiner Skulpturen steht jetzt tatsächlich am Eingang zum Musée Rodin in Paris. Sie stellt einen Fuß dar. Ich finde, es ist eine schöne Arbeit geworden.

Hat Izïa Higelin, die im Film Camille Claudel spielt, denselben Bildhauerei-Kurs besucht wie Sie?

Nein. Ich finde Izïa toll, sie agiert frisch und frei, sie ist Rock ’n’ Roll – und irrsinnig talentiert. Doch genau das ist ihr Problem. Wie viele Menschen, denen alles zufliegt und die sich nichts erarbeiten müssen, ist sie einfach eine stinkfaule Socke. Während ich zur Vorbereitung ganze fünf Monate lang geschuftet habe, hat sie sich bloß mal zwei Tage lang einige wenige Handgriffe zeigen lassen. Man könnte also durchaus sagen: Sie ist ziemlich clever, weil man als Zuschauer fast nicht merkt, dass sie nur so tut als ob. Man könnte aber auch feststellen: Die ganze verdammte Arbeit blieb an mir hängen.

"Ich muss mich seit der Premiere als Macho beschimpfen lassen"

Auguste Rodin (Vincent Lindon) und die ihm handwerklich ebenbürtige Camille Claudel (Izia Higelin) in einer Szene des Films "Auguste Rodin".
Auguste Rodin (Vincent Lindon) und die ihm handwerklich ebenbürtige Camille Claudel (Izia Higelin) in einer Szene des Films "Auguste Rodin".

© WildBunch/dpa

Hat sich Ihre Meinung über Rodin durch die Dreharbeiten verändert?

Je mehr ich mich mit ihm beschäftigte, desto mehr wurde ich eingeschüchtert von der Aufgabe, ein Genie verkörpern zu müssen. Rodin war ein Genie, weil die Bildhauerei nach ihm nie wieder so war wie zuvor. Ich hingegen bin definitiv keines – die Schauspielerei hat sich durch mich um keinen Deut verändert. Darum hörte ich ständig eine Stimme in meinem Hinterkopf: „Wie sehr du dich auch abrackerst, du wirst nie wie Rodin sein!“

Rodin sagt im Film, er wolle niemandem gefallen. Auch Sie scheinen nicht um die Gunst des Publikums zu buhlen.

Stimmt. Ich versuche nie, anderen zu gefallen – weder in einer Rolle noch im wirklichen Leben. Das vermittle ich auch meinen Kindern. Es kommt nur darauf an, dass man sich vor seinem Spiegelbild nicht schämen muss. Mein Vater hat einmal zu mir gesagt: „Entscheidend ist, sich selbst treu zu bleiben. Wenn nur ein einziger Zuschauer dankbar für deinen Film ist, dann hat es sich schon gelohnt.“ Als Schauspieler darf man kein Schisser sein, man muss Risiken eingehen und auch das Monströse in seinen Figuren akzeptieren.

Mögen Sie denn Auguste Rodin als Mensch?

Warum sollte ich ihn nicht mögen?

Weil er Frauen nicht gut behandelt hat. Seine Geliebte Camille Claudel musste ihn mit seiner Lebensgefährtin und anderen Affären teilen.

Sie sind durch den Camille-Claudel-Film mit Isabelle Adjani vergiftet.

Nun ja, ich habe den Film vor 30 Jahren gesehen.

Der Film ist eine große Lüge! Er suggeriert, Rodin habe Camille vernichten wollen, und sie sei seinetwegen verrückt geworden. Dabei ist Camilles Paranoia schon viel früher ausgebrochen, und Rodin hat viel für Camille getan, sogar noch nach ihrer Trennung. Zudem sollten Sie berücksichtigen, dass unsere Geschichte im 19. Jahrhundert spielt, lange vor der Gleichberechtigung. Sicher, heute wäre so ein Verhalten wie das von Rodin ziemlich indiskutabel, doch damals haben Millionen andere Männer ähnliche Dinge getrieben wie er.

Trotzdem muss man das nicht gutheißen.

Ja, aber wir müssen deswegen auch nichts beschönigen. Die Welt war so, und Rodin war so, basta. Es ist paradox: Ich gehöre zu einer Generation von Männern, die Frauen die Tür aufhalten, ihnen beim Abwasch helfen und überhaupt viel netter zu ihnen sind als ihre Väter und Großväter – und dennoch muss ich mich seit der Premiere des Films ständig wegen Rodin rechtfertigen oder gar als Macho beschimpfen lassen. Nichts gegen Sie persönlich, ich habe einfach die Schnauze voll von diesen Vorwürfen.

Dann anders: Was schätzen Sie besonders an Rodin?

Seine Kompromisslosigkeit. Er folgt radikal seinen Ideen, koste es, was es wolle. Er widmet sich seiner Mission mit Leib und Seele. Er stellt sich gegen verkrustete Normen. Er arbeitet hart, zweifelt an sich und wächst über sich hinaus. So etwas gibt es heutzutage kaum noch. Leidenschaftliche Visionäre wie Rodin fehlen in unserer Gesellschaft an allen Ecken und Enden – vor allem jedoch in der Kunst.

Sie finden, Künstler haben keine Visionen mehr?

Ja. Und keinen Mut. Sehen wir doch den Tatsachen ins Auge: Die meisten Künstler sind feige und träge. Angepasste Angsthasen. Erbärmliche Egoisten. Sie nennen sich Künstler und bilden sich eine Menge darauf ein, machen aber einen faulen Kompromiss nach dem anderen und verkaufen sich an große Konzerne. Sie haben keine Ideen, kein Arbeitsethos und keinen Gemeinsinn. Sie lehnen sich bequem zurück und genießen den Komfort. Für mich ist das der Tod der Kunst.

"Ich vögle nicht wahllos mit Frauen, die ich gar nicht liebe"

Auguste Rodin (Vincent Lindon) bei der Arbeit. Der Film kommt am 31.08.2017 in die deutschen Kinos.
Auguste Rodin (Vincent Lindon) bei der Arbeit. Der Film kommt am 31.08.2017 in die deutschen Kinos.

© WildBunch/dpa

An wen oder was denken Sie dabei konkret?

Nehmen Sie nur Kevin Spacey: Der Kerl dreht Dutzende Folgen der Endlosserie „House of Cards“ und kassiert dafür zig Millionen Dollar, kriegt aber offenbar den Hals nicht voll – er macht auch noch Werbung für Renault und spielt darüber hinaus in bescheuerten Filmen wie der unsäglichen Katzen-Komödie „Voll verkatert“. Trotzdem finden es alle irgendwie okay. Das ist auch so eine Krankheit unserer Zeit, alles ist irgendwie okay, alles ist lauwarmes Wischiwaschi. Es ist überhaupt nicht okay, verdammt noch mal! Es ist armselig! Ich sitze kopfschüttelnd da und denke: Mann, Kevin! Wie soll man dich jetzt noch ernst nehmen, wenn du mal wieder was von künstlerischer Integrität faselst?

Was bedeutet Kunst für Sie?

Alles. Sie ist das, was zählt, was bleibt, was die Zeit überdauert. Kein Mensch erinnert sich an Politikergeschwafel aus vergangenen Jahrhunderten, aber die Werke von Mozart, Shakespeare oder van Gogh berühren uns noch heute. Darum bin ich so streng gegenüber Künstlern. Ich finde, wir haben eine Mission, eine Verantwortung. Manche Schauspieler drehen dämliche Werbespots und Filme, die sie gar nicht drehen wollen, treiben sich auf Partys rum und sacken dort Sponsorengeschenke ein – das hat für mich nichts mit Kunst zu tun. Wenn ein Kollege jammert, dass er mangels Jobs seine Miete nicht zahlen kann, sage ich: Niemand hat dich zu diesem Beruf gezwungen! Du musst bereit sein, für die Kunst zu leiden. Durststrecken gehören immer dazu. Es ist wie in einer Liebesbeziehung. Da gibt es auch wunderbare und schreckliche Phasen.

Keine Privilegien ohne Schattenseiten?

Genau! Heutzutage träumt ja fast jeder Jugendliche von einer Künstlerkarriere. Naive Mädchen glauben, sie müssten bloß ein bisschen modeln oder ein Lied trällern und könnten dann ihr restliches Leben als Star genießen. Mag sein, dass sie es damit schaffen, für ein oder zwei Jahre berühmt zu werden. Aber erstens ist das natürlich keine Kunst, und zweitens kann man mit dieser Arbeits- und Lebenseinstellung bestimmt nicht jahrzehntelang als Künstler überleben.

Wie schafft man das denn?

Indem man authentisch bleibt und sich nicht verbiegen lässt. Ich habe nie nach dubiosen Trends geschielt, nie auf fremde Ratschläge gehört, sondern stets nach meinem eigenen Bauchgefühl entschieden. Schließlich bin ich es ja, der vor der Kamera stehen muss, also wähle ich meine Projekte lieber selbst aus und überlasse das nicht irgendwelchen Beratern. Wenn mir alle von einer Rolle abraten, nehme ich sie erst recht an. Kaum zu glauben, wie viele Leute vor drei Jahren zu mir sagten, ich sollte auf keinen Fall „Der Wert des Menschen“ drehen. Hätte man diese schlechten Ratgeber alle in einer Reihe aufgestellt, dann hätte die Schlange von Berlin bis München gereicht. Und hinterher, als ich für den Film einen Preis nach dem anderen gewann, meinten dieselben Leute: „Ich hab’s dir ja gleich gesagt!“

Würden Sie behaupten, Sie seien ähnlich kompromisslos wie Rodin?

Ja. Vielleicht handle ich nicht ganz so extrem wie er, aber ich gehe ebenfalls keine Kompromisse ein. Ich sage immer, was ich denke, egal ob es den Leuten passt oder nicht. Und ich tue stets, was ich will, wann ich will, wo ich will und mit wem ich will. Mir ist klar, dass ich dadurch meinen Mitmenschen oft ganz schön auf die Nerven gehe. Aber ich stehe wenigstens zu meinen Fehlern. Und ich kann deshalb ruhigen Gewissens schlafen.

Sie mussten wirklich nie einen Film wegen des Geldes drehen?

Ja. Das wäre auch völlig unmöglich, denn ich könnte mich nie selbst belügen. Ich würde sofort krank werden und wäre dann wie gelähmt. Wenn ich die Geschichte, die Rolle und den Regisseur nicht liebe, kann ich morgens gar nicht aufstehen und ans Set kommen. Es ist wie bei einer Frau. Wenn ich den Geruch ihrer Haut nicht liebe, hat alles keinen Sinn. Die Basis muss stimmen. Ich muss von einer Geschichte begeistert sein, um mitspielen zu können. Später merke ich vielleicht, dass ich aufs falsche Pferd gesetzt habe, bloß anfangs denke ich jedes Mal: Das wird ein Meisterwerk.

Sie sind doch abhängig von den Angeboten. Was tun Sie, wenn Sie keines davon begeistert?

Dann arbeite ich nicht. In meinem Leben gab es bestimmt zehn Phasen, in denen ich mindestens ein Jahr lang keinen Job hatte. Es ist mir scheißegal, wie lange solche Durststrecken dauern. Und ich werde nie verstehen, wie manche Kollegen stattdessen einen Schrottfilm nach dem anderen drehen können. In der Dürreperiode zwischen zwei Liebesbeziehungen vögle ich doch auch nicht wahllos mit Frauen, die ich gar nicht liebe. Warum zum Teufel sollte ich so etwas in meinem Beruf tun? Bevor ich auch nur einen einzigen ungewollten Film fabriziere, mache ich lieber etwas völlig anderes. Wenn ich irgendwann die Leidenschaft für meinen Beruf verliere oder überhaupt keine guten Angebote mehr bekomme, dann gebe ich die Schauspielerei sofort auf und eröffne ein Restaurant!

Marco Schmidt

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