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Die Wasserfälle sind für alle da.

© Julia Prosinger

Heiltherme: Rein in den Gestank

Verspannt, gestresst, verschleimt, verschorft? Hier wird allen geholfen.

Von Julia Prosinger

Angeblich gewöhnt man sich nach wenigen Stunden an diesen Geruch. Überriecht ihn. Verdrängt ihn.

Nicht wahr. Auch am dritten Tag stinkt dieser Ort zum Himmel. Die Artischockenherzen auf dem Teller lassen die Nase glauben, sie seien faule Eier. Die Handtücher haben den Duft unauswaschbar aufgesogen, und man selbst müffelt auch, aus jeder Pore, wenn man nach 20 Minuten – maximaler Aufenthalt in dieser Brühe – das Heilwasser von Saturnia verlässt.

Macht nichts, alle stinken. Und es gilt die stille Verabredung, darüber zu schweigen. So wie sich auch niemand zu wundern scheint, dass alle weiße Bademäntel tragen, selbst im Restaurant dieses 5-Sterne-Hotels, dessen Mitte die Quelle des üblen Geruchs ist. Schicksalsgemeinschaft Schwefel.

Nur Dr. Domenico Mazzone schwebt in blau-weiß gestreiftem Hemd heran, umgeben von einem auffallend frischen Eau de Toilette. Mazzone herrscht seit 26 Jahren als medizinischer Leiter über diese größte Heiltherme der Welt. Bis zu 2000 Menschen können hier parallel genesen. Indem sie: nichts tun. Außer eine Weile in 37,5 Grad warmem Wasser zu dümpeln.

"Sie baden keine zwei Mal im selben Wasser"

Die Therme Saturnia liegt in der südlichen Toskana, zwischen Rom und Florenz, vor 3000 Jahren entdeckten sie die Etrusker. Denn auch sie litten unter Arthrose, Rheuma und Bronchitis, auch sie hatten Schuppenflechte und Verdauungsprobleme. Die Römer schickten später ihre verwundeten Soldaten hier auf Kur und badeten sogar ihre Pferde, um hinterher, so erzählt man es sich, stärker denn je in den Krieg zu ziehen.

Dottore Mazzone lässt sich am Rand des Beckens nieder und kippt Zucker in seinen bereits gesüßten Espresso. Er will erklären, wo der Geruch herkommt: 33 Kilometer entfernt, bei Grosseto, steht der Monte Amiata, der mal ein Vulkan war. Tief im Inneren des Berges sammelt sich Flüssigkeit, die eine weite Reise antritt. Zunächst den Berg hinauf, wobei sie Mineralien aufnimmt. Schwefel zählt dazu – 865 Milligramm pro Liter. Das Element erweitert die Gefäße, senkt den arteriellen Blutdruck, entspannt Muskeln und wirkt entzündungshemmend. Mazzones Wasser enthält auch Kohlenstoffdioxid und wenige Gramm Calcium.

Die Nobelvariante.
Die Nobelvariante.

© promo

Der Doktor deutet nun mit seinem rechten Fuß auf den großen türkisfarbenen Pool vor ihm, der 3000 Kubikliter fasst. Hier sprudelt sein Allheilmittel nach vielen Jahren unterirdischer Wanderschaft auf perfekte 37,5 Grad temperiert heraus. Und zwar mit ziemlicher Kraft: 500 Liter pro Sekunde. „Sie baden keine zwei Mal im selben Wasser“, garantiert Mazzone. Dadurch, und weil Schwefel und Kohlenstoffdioxid antibakteriell und desinfizierend wirken, können auch Personen mit Hauterkrankungen schwimmen gehen, ohne dass andere sich anstecken.

Schilddrüsenpatienten können bei Mazzone baden, anders als viele Heilquellen ist sein Wasser nicht radioaktiv. Nur Silberschmuck sollte man abnehmen, den ließe der Schwefel sonst oxidieren. Egal – die Italiener bevorzugen Goldkette.

Die Römer glaubten, das Wasser käme aus dem Hades

Mit diesem Wissen noch mal rein in den Gestank. Gasbläschen wirbeln durchs Blau. Dampf macht einen kurzsichtig. Der Boden gleicht einem natürlichen Riff, Stalagmiten kitzeln die Sohlen. Träge gleitet der Körper durch diese Badewanne der Natur. Überall halb geschlossene Lider, die Frau da vorne, schläft sie etwa mit dem Kopf am Beckenrand?

Mazzone lacht, er kennt das. Die meisten Besucher verlieren nach wenigen Stunden unter seiner Obhut ihre stressbedingte Gereiztheit. Werden mild und liebenswert. Manche dösen einfach irgendwo ein. So ginge ja auch die Legende, sagt Mazzone. Saturn, der Gott der Ernte, soll erzürnt gewesen sein über die kriegstreiberischen Anwohner dieser malerischen Gegend. Da sandte er einen Blitz auf sie nieder, der die Erde spaltete und besänftigendes Wasser über die ganze Region quellen ließ.

Wieder am Ufer stinkt man nicht nur. Man ist auch schmutzig. Schwarze Striemen im Gesicht, grüner Schleim auf dem Badeanzug. Es ist das sogenannte Plankton, das die Quelle mit aus der Unterwelt spült. Die Römer glaubten, das Wasser käme direkt aus dem Hades. Mazzone macht aus den feuchtigkeitsspendenden Algenschwämmchen teure Kosmetik. Dabei sieht die Haut nun zunächst rot und unregelmäßig durchblutet aus. „Das gibt sich“, beruhigt der Dottore.

Matsch-Winzer Mazzone zeigt, was sein Elixier kann

Badegäste verirren sich selten in die Maremma-Region.
Badegäste verirren sich selten in die Maremma-Region.

© imago

In Italien verschreiben Ärzte Sitzungen – im wahrsten Wortsinne – in Saturnia. Die Patienten landen dann nicht im schicken Hotel, sondern im öffentlichen Bereich, dort hat das Wasser ein Grad weniger, stinkt aber unvermindert intensiv. Dr. Mazzone eilt voraus, er will zeigen, was sein Elixier kann.

Hinter einer Tür liegt ein Mann in Matsch. Fango heißt der Brei, von den Römern erfunden, möglicherweise in der Umgebung. Mazzone und seine Kollegen sammeln die Erde von den umliegenden Feldern und vermengen sie in Containern mit ihrem sakralen Wasser. Etwa ein Jahr müsse die Mischung gären, bevor sie rheumatische Erkrankungen, Gelenkbeschwerden, Muskelverspannungen und Koliken bekämpft.

Matsch-Winzer Mazzone tritt an den Mann heran, prüft, ob die Packungen die richtige Temperatur haben, zieht die Folie ein bisschen fester an den Patienten, damit nicht so viel auf den Boden tropft. Studien zufolge reduziert der Schlamm auch den Stress in den Zellen. Der wiederum kann Krebs verantworten.

Die Maremma ist noch nicht von Touristen überlaufen

Bevor man das hinterfragt, ist der Doktor bereits weitergeeilt in einen gekachelten Saal, der aussieht, als würden hier Menschenexperimente unternommen. Es faucht und zischt wie in einem Maschinenraum. Männer mit Raucherhusten, Frauen mit Bonchitis und Kinder mit Asthma sitzen vor Rohren und atmen Dampf ein. Manche durch den Mund, andere durch die Nase, alle tragen Duschhauben über den Haaren. Tatsächlich: Nach einer solchen Session fühlt sich die Lunge frei und weit. Deshalb lieber erneut auf den Doktor hören und gleich morgen früh, nach dem Frühstück, die Stinkebrühe auch noch trinken. In kleinen Schlucken, nur ein Gläschen, das, sagt Mazzone, entschlackt, hilft der Verdauung und verlangsamt die Zellalterung.

Aber erst mal schickt er einen hinaus, vor die Tür. Um die besänftigte Landschaft und ihre Bewohner kennenzulernen. Vor der Therme liegen Weinreben, Zypressenhänge, Olivenbäume, Weizenfelder. Im Frühjahr blüht hier der Klatschmohn, im Sommer lavendelt es violett. Dies ist die Maremma, jener wilde Teil der Toskana, den die Touristen noch nicht dominieren. Über den Golfplatz hinweg, ein paar Nutria aufgeschreckt, vorbei an ockerfarbenen Landgasthöfen verliert sich der Schwefelduft zunächst, wird ersetzt durch Rosmarin, Oleander.

Nur um kurz darauf umso intensiver zurückzukehren. Da stürzt ein Wasserfall hinab und bildet türkisfarbene Becken: Die Kaskaden, cascate, hier badet der Plebs, umsonst. Ein Whirlpool fürs Volk. Der Bach ist fast so warm wie oben bei Mazzone, aber trägt nur noch 50 Prozent der heilenden Mineralien.

Besonders schön ist es hier im Winter

Auf dem staubigen Parkplatz drängen sich die Fiats, darin, daneben und zwischen halb offene Türen gequetscht: Nackte, die in Badesachen schlüpfen. Kinder, Teenager, Greise. Umkleidekabinen gibt es keine. Vor Saturn sind alle gleich.

Großfamilien tragen Kühlboxen, Campingstühle und Sonnenschirme auf die abgesessene Wiese und machen sich auf die Suche nach dem geeigneten Becken. Mazzones Wunderwasser hat die Steine für jeden Zweck zurechtgewaschen und hübsch weiß gebleicht, ein bisschen glitschig sind sie auch. Zwei Väter unterhalten sich, von Wanne zu Wanne, über die Studienerfolge ihrer Söhne. Mütter lehren ihre Kleinkinder in einem niedrigen Bassin das Planschen, Jugendliche springen von den Felsen in eine der tieferen Mulden.

Besonders schön ist es hier im Winter, wenn alte Damen in Pelzmantel und Badelatschen auf das Wasserloch zuhumpeln und sich bis zur Nasenspitze in einen der dampfenden Pools versenken. Oder abends, wenn die Sonne hinter den Zypressenhängen untergeht – an der kleinen Bar gibt es Campari Soda dazu. Oder nachts, wenn junge Paare in den Becken, die jetzt Séparées genannt werden müssen, unter Sternen liegen.

Und wenn man ein paar Meter flussabwärts spaziert, dann kann es passieren, dass man Anwohner dabei beobachtet, wie sie ihre rheumakranken Hunde ins Wasser tunken. Sie sind schließlich die Nachfahren der alten Römer.

Reisetipps für Saturnia

Hinkommen

Von Berlin Tegel nach Rom Fiumicino fliegen, beispielsweise mit Alitalia ab 50 Euro. Von dort sind es mit einem Mietwagen oder Shuttle noch etwa 150 Kilometer bis nach Saturnia. Vorsicht: Die letzten Kilometer gestalten sich ziemlich kurvig.

Unterkommen

Wer direkt an der Quelle schlafen will, sollte im 5-Sterne-Resort Terme di Saturnia einchecken, Doppelzimmer ab 290 Euro, Zugang zu allen Pools inklusive (termedisaturnia.it). Rund um die Therme befinden sich viele kleine Hotels und Landgasthöfe. Zu empfehlen ist unter anderen das „Il Casale e Il Borghetto“ in Fontenuova/Manciano. Mehr Infos unter saturniafontenuova.it.

Rumkommen

Unbedingt im Golf Clubhouse des „Terme di Saturnia“ zu Mittag essen, das eine Familie aus der Region betreibt: Gigantische Tortelloni mit Spinat-Ricotta-Füllung, dazu würziges Hackfleischragout. Ein Ausflug nach Pitigliano, der kleinen Stadt aus Tuffstein, lohnt sich sehr. Dort kann man das Entwässerungssystem der Etrusker besichtigen.

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