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Weit hinaus geht es von der Mole ins Meer.

© LTM / K.E. Voegele

Ferien der Kindheit: Im Westen immer noch nichts Neues

Stimmt schon, Josephine Baker tanzt hier nicht mehr im Casino. Dafür begegnet man einem altbekannten Urlaubsgefühl: Langeweile. Nur Travemünde will sich nicht mit seinem Los abfinden.

Von Fatina Keilani

Über 142 Stufen muss man gehen. Dann ist der Besucher oben auf dem Alten Leuchtturm in Travemünde angekommen, dem Wahrzeichen der Hafenstadt und gleichzeitig deren Backstein gewordener Stolz. Holländische Maurer haben ihn im 16. Jahrhundert gebaut, um die Einfahrt für die Lübecker Hansekoggen zu sichern, 31 Meter hoch ist der Turm, und der beste Ort, um sich einen Überblick zu verschaffen.

Damals wie heute sieht man von hier oben, wo der Wind pfeift, die Schiffe ein- und auslaufen. Bis vor 100 Jahren waren es Handelsschiffe für die Hansestadt Lübeck, in diesen Tagen sind es Ausflugsdampfer und Fähren nach Skandinavien. Die Trave flussabwärts, den Bogen der Mündung entlang, am Museumsviermaster „Passat“ vorbei, hinaus in die offene Ostsee. Travemünde war Lübecks Außenposten zur Welt und ist heute zum Strandbad verdammt.

Denn es liegt sich nicht leicht an der Lübecker Bucht, die noch Ostsee heißt, aber für Berliner gefühlt Nordsee sein könnte. Seit der Wende reden sie begeistert von Rügen, Usedom und vom Darß, wenn sie Ostsee meinen, von Zingst, Sellin und Zinnowitz, wenn sie an die dortigen Badeorte denken.

Was machst du hier? Gar nichts

Travemünde, Ostsee-West, ist in Vergessenheit geraten. Das könnte auch daran liegen, dass der Westen noch nicht konkurrenzfähig ist. Der Strandsand ist auf Usedom feiner, die Wellnessbereiche der Hotels sind im Osten meist größer, und es gibt auch einfach mehr davon. Jahrelang wurde in Mecklenburg fleißig aufgebaut, während die Lübecker Bucht in Schönheit erstarrte.

Travemünde ist immer noch unverkennbar Westdeutschland. 40 Kilometer der Lübecker Stadtgrenze waren Zonengrenze. Die ist zwar lange abgebaut, doch das Urlaubsgefühl West ist nach wie vor vorhanden. Die Segelboote sind ein bisschen rasanter, das Essen ein wenig vielseitiger, die Menschen zugänglicher. Die Wachsjackenfraktion trifft auf die Elbseglertraditionalisten. Fehlen nur noch Schilder aus längst vergangenen Zeiten wie „Draußen nur Kännchen.“

Moin, moin, was machst du hier?

Gute Frage. Beste Antwort: gar nichts. Der heutige Mensch optimiert sich ja ständig, er geht in Fitnessstudios und Rückenschulen, isst mal vegan oder low-carb, verbringt mehr Zeit damit, sein Instagram-Profil aufzumöbeln als aufs Meer zu gucken. Er weiß gar nicht mehr, wie das geht – sich zu langweilen. Hier in Travemünde kann er es üben. Im Strandkorb lesen, während die Möwen kreischen. Die Beine hochlegen, wenn der Bewegungsdrang der anderen nervt. Wer braucht Ultimate Frisbee, wenn er extrem ausspannen kann. Hashtag Einfachmalnichtstun.

Überall wird gebaut, Hotels und Luftschlösser

Weit hinaus geht es von der Mole ins Meer.
Weit hinaus geht es von der Mole ins Meer.

© LTM / K.E. Voegele

Nur, die Stadt will das nicht hinnehmen, gibt sich Mühe, aufzuholen. Überall wird gebaut, neue Hotels entstehen, Ferienwohnungen, Dünenvillen, Urlaubsanlagen. Es gibt drei Promenaden, die demnächst allesamt erneuert werden. Zwei Fähren sollen die gegenüberliegenden Schlenderwege einmal verbinden. Die Touristen sollen sehen, spüren, erleben.

Auf dem Priwall, der Halbinsel an der Travemündung, entstehen 16 Villen am Hafen und weitere 32 in der Dünenlandschaft. Die Stadt Lübeck, zu der Travemünde seit 1913 gehört, hatte im Jahr 2015 einen knapp zweistelligen Anstieg bei den Besucherzahlen im Vergleich zum Vorjahr, Travemünde hat davon praktisch nicht profitiert. Die hoffnungsfrohe Vermutung: In Zukunft könnte sich das ändern. Also baut man Luftschlösser anstatt die Behäbigkeit anzunehmen. Dabei braucht niemand ein teures Peeling, es reicht, sich einfach bei Sturm den Ostseesand ins Gesicht prasseln zu lassen.

Vom Strand aus sieht man die alte Pracht noch. Allen voran das Atlantic Grand Hotel, das nichts mit dem Hamburger Haus zu tun hat, wie viele Urlauber denken. Weiß gestrichene Fassaden, feuerrote Dachziegel, eine Empore wie bei „Downton Abbey“, die Grande Dame der örtlichen Hotellerie wirkt noch fein. Bis 2015 gab es im Travemünder Atlantic sogar ein Restaurant mit drei Michelin-Sternen, das nördlichste in Deutschland. Heute genießt man im Speisesaal Zwiebelrostbraten vom Holsteiner Rind und Zanderfilet mit hausgemachten Blutwurstravioli.

Geduld, Geduld, der Weg ist das Ziel

Auch das Casino, das einst in dem Gebäude untergebracht war, und dessen Erlöse die Armenkasse und das Irrenhaus sowie die Gasbeleuchtung der Stadt finanzierten, hat geschlossen. Vermutlich nicht, weil zu viel los war. Die Travemünder trauerten um ihre Spielhalle, sie wurde 1833 eröffnet und galt lange als eine der ältesten Deutschlands. In den 1960er Jahren stauten sich die Luxuslimousinen auf der Kaiserallee. Schauspielstars wie Curd Jürgens oder Lale Andersen gingen ein und aus, Josephine Baker trat im angeschlossenen Nachtklub auf, und Aristoteles Onassis versuchte an den Roulettetischen sein Glück.

An der Trave ruht nun das hektische Glamourleben. Alles scheint verlangsamt, wie die Zeitlupenversion eines alten, aber schönen Urlaubsfilms. Zum Beispiel die Fahrt auf dem Panoramaschiff „MS Hanse“ die Trave hoch, um einen Tagesausflug nach Lübeck zu machen. Der Kapitän sagt: „Wir könnten eigentlich in 45 Minutn da sein.“ Die Fahrt dauert 90 Minuten, Geduld, Geduld, der Weg ist das Ziel. Sonst hätte man gar nicht genug Möglichkeiten, die alten Fischerdörfer entlang des Ufers zu bestaunen, sich wieder und wieder umzudrehen, um am Leuchtturm Maß zu nehmen, wie Travemünde entschwindet. Und wie die Ruhe in einem bleibt.

Reisetipps für Travemünde

ANKOMMEN

Mit der Deutschen Bahn über Lübeck dauert die Fahrt fast dreieinhalb Stunden. Wer den Sparpreis bucht, kann für 60 Euro hin- und zurück.

UNTERKOMMEN

Das Atlantic Grand Hotel Travemünde kostet ab 200 Euro pro Nacht, atlantic-hotels.de

HERUMKOMMEN

Mit dem E-Bike entlang des Brodtener Steilufers. Ent- und beschleunigen zugleich.

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