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Pancho Villa ritt in Mexiko.

© Mauritius Images/United Archives/Felicity W

Erster Weltkrieg: Mit Mexiko gegen die USA

Amerika ist 1917 kein Feind Deutschlands. Noch nicht. Wie eine geheime Depesche den Ersten Weltkrieg veränderte.

Von Andreas Austilat

Die Deutschen hungerten, die Bank von England stand vor der Pleite und Frankreich hatte seinen Oberkommandierenden nach verlustreichen Misserfolgen entlassen: Im Frühjahr 1917 war die Westfront des Ersten Weltkriegs zum Stillstand gekommen. Hundertausende Briten, Franzosen und Deutsche waren sinnlos geopfert worden. Könnte ein Telegramm in dieser Situation alles verändern und damit diesen Krieg entscheiden?

Nigel de Grey war davon überzeugt. Es war der 17. Januar 1917. Der Brite, im bürgerlichen Beruf Lektor, sprach neben seiner Muttersprache fließend Deutsch und Französisch, war dabei so unscheinbar, dass ihn seine Kollegen frei übersetzt das „Mäuschen“ nannten. Am Morgen jenes Tages überreichte er seinem Vorgesetzten einen handgeschriebenen Zettel mit der Überschrift „7500“. „D.I.D.“, sagte er zu seinem Chef – D.I.D. stand für Director of the Intelligence Divisons und bezeichnete den Geheimdienstchef der Marine –, „wollen Sie die Amerikaner in den Krieg hineinziehen?“ „Yes, my boy“, antwortete der D.I.D. ungläubig, und de Grey fuhr fort: „Nun, dann habe ich hier eine ziemlich erstaunliche Nachricht.“

De Grey war damals 31 Jahre alt und Mitarbeiter im „Room 40“, dem streng abgeschirmten Quartier des britischen Marinegeheimdienstes. Und „7500“ war der Schlüssel des aktuellsten deutschen Geheimcodes. In Room 40 arbeiteten sie seit Stunden an der Entschlüsselung eines Telegramms, das die Briten in der Nacht abgefangen hatten. Es enthielt zwei Nachrichten aus der Wilhelmstraße – damals Sitz des deutschen Außenministeriums – für den deutschen Botschafter in den USA, das dieser unbedingt nach Mexiko weiterleiten müsse. Die Briten hatten einen gewaltigen Zahlensalat in der Hand, Gruppen aus jeweils vier und fünf Ziffern. Doch inzwischen konnten sie einiges davon lesen.

Der Satz könnte von heute stammen

„Wir beabsichtigen am 1. Februar uneingeschränkten U-Boot-Krieg zu beginnen“, stand dort. Und, was weitaus wichtiger war: Die Deutschen planten offenbar ein neues Bündnis, das sich gegen die bislang in diesem Konflikt noch neutralen USA richten sollte. Auch der Name des Partners, den sie sich dafür ausgesucht hatten, war entschlüsselt: Mexiko, der arme amerikanische Nachbar. Das klang wie eine heimliche Kriegserklärung an die USA. An dieser Stelle war auch de Greys Chef klar, dass er Sprengstoff in der Hand hielt. Wie konnten die Deutschen nur auf eine derartige Idee kommen?

Arthur Zimmermann, damals Staatssekretär im Berliner Auswärtigen Amt – eine Position, die heute der des Außenministers entspricht –, fand den Gedanken gar nicht absurd. Zimmermann hatte das Telegramm abgeschickt, in dem es im Klartext hieß: „Es wird versucht werden, Amerika neutral zu halten. Für den Fall, dass dies nicht gelingen sollte, schlagen wir Mexiko ein Bündnis vor.“

Für sich genommen könnte dieser Satz von heute stammen. So sagte vor zwei Wochen der CSU-Politiker Manfred Weber dem Tagesspiegel: „Wenn Trump die Türen schließt, sollten wir eine Partnerschaft mit den Staaten praktizieren, die Trump vor den Kopf stößt.“ Weber, Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europaparlament, meinte damit ausdrücklich Mexiko.

Zimmermann befand sich 1917 in einer dramatischen Situation. Das mit dem U-Boot-Krieg war nicht seine Idee gewesen. Zwar waren die US-Amerikaner noch neutral, aber man konnte sie auch nicht als Freunde der Deutschen bezeichnen. 1915 hatte ein deutsches U-Boot in der Irischen See den Passagierdampfer Lusitania versenkt. 128 amerikanische Staatsbürger waren dabei ums Leben gekommen. Nur mit Mühe hatten die Deutschen anschließend die USA beschwichtigen können.

Diplomaten hoffen, Amerika aus diesem Krieg halten zu können

Seit dem Lusitania-Zwischenfall mussten sich U-Boot-Kommandanten vergewissern, dass sie kein neutrales Schiff vor den Torpedorohren hatten. Das bedeutete im Einzelfall geringere Erfolgsaussichten, weil sie auftauchen mussten. Jetzt, das kündigte das Telegramm an, würde damit Schluss sein. Vom 1. Februar an hieß es wieder: Feuer frei auf alles, was schwimmt. Denn seit Beginn des Krieges hatten die Briten mit ihrer Flotte Deutschland vom internationalen Warenverkehr abgeschnitten. Nun hofften das Kaiserreich und seine Heeresleitung mit den U-Booten umgekehrt, die Briten zur Aufgabe zu zwingen.

Natürlich war das Risiko groß, wieder neutrale Schiffe zu treffen, weshalb der Botschafter in Washington schon mal vorgewarnt werden sollte. Irgendwie hofften die Diplomaten, die Amerikaner trotzdem aus diesem Krieg halten zu können. Und wenn nicht? Für diesen Fall war Zimmermann also auf Mexiko verfallen, das mit den USA mehr als eine Rechnung offen hatte.

Arthur Zimmermann, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, machte Pläne in Berlin.
Arthur Zimmermann, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, machte Pläne in Berlin.

© mauritius images/United Archives

Viele Mexikaner hatten nicht vergessen, dass Kalifornien, Colorado, New Mexiko und Texas mexikanisch gewesen waren, bevor die USA diese Territorien für sich reklamierten. Und machtlos mussten sie mitansehen, wie US-Truppen immer wieder auf ihrem Staatsgebiet operierten.

Das war in Deutschland 1917 nicht unbemerkt geblieben. Wie auch, mehrere mexikanische Abgesandte hatten in Berlin ihrerseits für ein Bündnis geworben. Darunter waren allerdings dubiose Gestalten, die kaum für ihre Regierung sprechen konnten. Und wenn doch, für welche Regierung? Mexiko war seit Jahren durch einen Bürgerkrieg zerrissen, der deutsche Botschafter in Mexiko-City meldete „ein Bild unschildbarer Verwüstung, elenden Ruins“. Man musste schon ziemlich verzweifelt sein, um anzunehmen, dieses Land käme jetzt als Verbündeter infrage.

Die Deutschen hatten nicht viel zu bieten

Eine Person hatte das besondere Interesse der Deutschen erregt: Pancho Villa. Für die einen war der Schnauzbartträger so etwas wie ein Revolutionär im Bürgerkrieg, für die anderen der Anführer einer Banditentruppe. Pancho Villa hatte 1916 seinerseits die Grenze zwischen Mexiko und den USA überquert und eine US-Kleinstadt einschließlich Militärgarnison angegriffen. Er wurde zurückgeschlagen, seitdem versuchte eine immer größere nordamerikanische Expeditionstruppe erfolglos, ihn in Mexiko einzufangen. Sollten sich die Amerikaner auf diese Weise dort in einen Krieg verstricken, hätten sie weniger Kapazitäten für Europa übrig.

Konkret hatten die Deutschen nicht viel zu bieten. Der Generalstab signalisierte, 30 000 Gewehre, 100 Maschinengewehre und zehn Geschütze bereitstellen zu können. Reichlich wenig für die Eroberung von Texas und New Mexico. Genau das versprach Zimmermann in seinem Telegramm: „Gemeinsame Kriegführung. Gemeinsamer Friedensschluss. Reichlich finanzielle Unterstützung und Einverständnis unsererseits, dass Mexiko in Texas, Neumexiko, Arizona früher verlorenes Gebiet zurückerobert.“

Falls das nicht reichen sollte, holte er noch weiter aus: Kalifornien könne man leider nicht den Mexikanern überlassen, das wäre für Japan zu reservieren. Im Übrigen wolle man Mexiko bitten, zwischen Japan und dem deutschen Kaiserreich zu vermitteln. Schon damals gab es in Deutschland Stimmen, die das Telegramm für Irrsinn hielten. Die Chance, dass die Sache nach hinten losging, war groß.

Die Briten konnten deutsche Codes knacken

Ein deutsches U-Boot 1917.
Ein deutsches U-Boot 1917.

© mauritius images/Alamy

Bereits 1914, am Morgen ihres ersten Kriegstages, hatten die Briten ein altes Postschiff losgeschickt. Der Auftrag: Alle fünf deutschen Unterseekabel finden und kappen. Danach waren die Deutschen auf fremde Leitungen angewiesen, wenn sie mit ihren Auslandsvertretungen kommunizieren wollten.

Zimmermann blieben für seine Nachricht nur drei Wege. Der Funksender Nauen hatte eine Relaisstation auf Long Island. Aber die Funkverbindung war störanfällig. Die neutralen Schweden boten ihre Telegrafenverbindung an, ebenso die neutralen US-Amerikaner. Lange wurde angenommen, die Deutschen hätten für ihre brisante Depesche alle drei Kanäle gewählt. Der amerikanische Historiker Thomas Boghardt geht aber heute davon aus, dass zunächst nur die amerikanische Leitung verwendet wurde. Was die Sache noch ein bisschen brisanter machte.

Gleich zu Beginn des Krieges war den Briten ein deutsches Marinecodebuch in die Hände gefallen. Die Beute landete in Zimmer 40 des Admiralitätsgebäudes. Touristen kennen den riesigen, roten Backsteinbau an der Horse Guards Parade in London. Auf dem Platz davor findet jedes Jahr die Parade zu Ehren des Geburtstages der Königin statt. 1914 wurde hier die Dechiffrier-Abteilung eingerichtet, zu der auch Nigel de Grey, das „Mäuschen“, gehörte.

Der britische Geheimdienst hört alle ab, Freund und Feind

Doch die Deutschen waren vorsichtig genug, ihr Verschlüsselungssystem von Zeit zu Zeit zu wechseln. Im November 1916 brachte ein deutsches U-Boot das Codebuch mit dem neuen Schlüssel „7500“ nach Washington. Was Zimmermann nicht ahnte, war, dass die Briten zwei Monate später auch diesen Code zumindest in Teilen knacken konnten.

Trotzdem zögerte de Greys Chef, Reginald Hall, als er am 17. Januar 1917 das brisante Telegramm in der Hand hielt. Er gab sofort Order, niemand außerhalb des Room 40 dürfe davon erfahren. Damit hatte er seine Kompetenzen überschritten, denn er war verpflichtet, solch eine Nachricht sofort dem britischen Außenministerium mitzuteilen. Hall fürchtete allerdings, dort wäre das Geheimnis nicht sicher. Und würde es jetzt öffentlich, dann wüssten die Deutschen, auch ihr neuer Code ist geknackt. Es gab allerdings noch jemanden, der auf keinen Fall davon erfahren sollte.

Als im August 2013 bekannt wurde, dass der britische Geheimdienst GCHQ die deutschen Internetkabel anzapfte, war die Aufregung hierzulande groß. Überrascht hätte eigentlich niemand sein dürfen. Die Briten hatten schon viel früher auch ein Ohr für ihre Freunde. 1917 schrieb man in Room 40 nicht nur den Schriftverkehr der Deutschen mit, der Diplomatenverkehr der Amerikaner wurde ebenso überwacht – und der der Schweden. Doch weil sie befürchteten, die USA würden ihnen die Freundschaft kündigen, bevor sie richtig geschlossen war, durfte das niemand erfahren.

Das Telegramm wird publik gemacht, US-Presse berichtet

Hall hoffte, die Amerikaner würden auch so in den Krieg eintreten, wenn die deutschen U-Boote Schiffe mit US-Bürgern an Bord versenkten. Tatsächlich brachen die USA die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland sofort nach Ankündigung der U-Boot-Offensive ab, weiter gingen sie nicht. Immerhin hatte ihr Präsident Woodrow Wilson seine Wahl mit dem Versprechen gewonnen, seine Landsleute aus diesem Krieg rauszuhalten.

Doch die Briten wussten, dass die deutsche Botschaft in Mexiko nicht über den aktuellen Geheimcode verfügte. Wenn sie also das mexikanische Telegramm vorlegen könnten, wüssten die Amerikaner nicht, dass die Information aus ihrer Diplomatenpost gefischt worden war. Und die Deutschen durften sich mit ihrem aktuellen Code weiterhin sicher fühlen.

Angeblich soll ein britischer Agent das entscheidende Telegramm in Mexiko beschafft haben. Es trägt das Datum 19. Januar und wurde mit Western Union für 85,27 Dollar von Washington nach Mexiko geschickt. Trotzdem dauerte es noch bis zum 24. Februar 1917, ehe der amerikanische Botschafter in London über die Zimmermann-Depesche informiert wurde. Vier Tage später wurde das brisante Telegramm an die Presse weitergegeben, am 1. März war es Aufmacher in den meisten US-Zeitungen.

Arthur Zimmermann lässt den Mexiko-Plan fallen und wird entlassen

Die Reaktion war ungeheuer. Zuvor waren die Amerikaner in der Kriegsfrage noch unentschieden gewesen. Nun schlug die öffentliche Meinung um in Entrüstung über die geheimen, gegen die USA gerichteten Pläne der Deutschen. Vor allem, als Arthur Zimmermann auf Nachfrage zwei Tage später auch noch einräumte, der Inhalt entspreche der Wahrheit.

Mexiko und Japan distanzierten sich von der Geschichte. Aber einen Monat später erklärten die USA dem deutschen Kaiserreich den Krieg. Bis heute wird die Bedeutung des Telegramms in der deutschen Geschichtswissenschaft vergleichsweise gering eingeschätzt. Anders in den USA, dort findet man die Zimmermann-Depesche in den Schulbüchern, als das Dokument, das die Amerikaner im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland aufbrachte.

Arthur Zimmermann ließ den Mexiko-Plan fallen. Am 23. März trug er dafür der deutschen Heeresleitung eine neue Idee vor: Man wolle den Revolutionär Lenin in einem verplombten Waggon nach Russland schleusen und so den russischen Kriegsgegner destabilisieren. Der Plan wurde akzeptiert. Aber niemand verstand, warum Zimmermann zugegeben hatte, dass die amerikanische Depesche echt sei. Im August 1917 wurde er entlassen.

Nigel de Grey, das „Mäuschen“ aus Room 40, wurde befördert. Im Zweiten Weltkrieg war er immer noch aktiv. Er wurde nach Bletchley Park versetzt, trug dort zur Entschlüsselung der Enigma bei, jener Maschine, mit der die Deutschen in diesem Krieg ihren Funk codierten.

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