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Vater und Sohn: Patricio und Rupert.

© Doris Spiekermann-Klaas

Eltern, Kinder und der Sex: "Denk' an die Kondome!"

Es ist in Familien immer noch ein Tabu: Wie erkläre ich Sex? Drei Eltern und ihre Kinder erzählen, wie das bei ihnen lief – und was daran peinlich war.

Patricio, 46, Koch:

Als ich elf war, habe ich mir ein Zimmer mit meinem 14-jährigen Bruder geteilt. In der ersten Nacht, in der seine Freundin bei ihm schlief, musste ich ins andere Zimmer zu meinen älteren Schwestern ziehen. Das war eine wirklich heftige Aufklärung für mich. Mädchen sind oft weiter entwickelt als Jungs, und meine Schwestern haben die ganze Nacht gequatscht: über Typen, in die sie verknallt waren oder nicht, welcher Mann besser aussah, mit wem wer gerne schlafen würde. Mir war das alles so peinlich.

Ich bin in Santiago de Chile geboren. Da war es damals normal, dass die Väter den Söhnen mit 14 oder 15 Jahren Geld gaben und sie zu einer Prostituierten schickten. Als wir 1973 wegen des Putsches in Chile nach Berlin flohen, waren meine Eltern erstaunt, wie Aufklärung hier funktionierte: Es wurde debattiert. In der Schule wurde aufgeklärt und auch zu Hause über Sex gesprochen.

Während mein Vater wegen der freizügigen Frauen fast verrückt geworden ist, hat sich meine Mutter an das deutsche liberale Gesellschaftssystem angepasst. Sie hat sehr viel mit meinen Schwestern über die Pille gesprochen.

Sechs Kinder mit drei Frauen

Doch bei uns Jungs verhielt sie sich anders. Ich kann mich an kein Gespräch erinnern, in dem sie mir erklären wollte, was Sex ist. Wenn meine Freundin bei mir schlief, musste die Tür einen Spalt offen stehen. Das sollte wohl meine Verhütung sein.

Kondome habe ich nie benutzt. Heute habe ich sechs Kinder mit drei Frauen und muss gestehen, dass ich absolut kein perfekter Vater bin. Natürlich wäre vieles anders gelaufen, wenn ich verhütet hätte. Aber ich habe fest an die Liebe geglaubt.

Rupert, 19, Schüler:

Es war mir immer peinlich, mit meiner Mutter über Sex zu reden. Ich will ihr einfach nicht erzählen, was ich mache. Und ich möchte auch nicht, dass sie mir von ihren Erlebnissen erzählt. Da blocke ich total ab. Eine Zeit lang rief sie mir am Wochenende nur noch „Denk an die Kondome!“ hinterher. Jetzt nicht mehr.

Mir ihrer besten Freundin konnte ich wiederum über Sex sprechen. Vor ein paar Jahren saßen wir im Liegestuhl, während meine Brüder am Meer spielten, und ich habe ihr von einem Mädchen erzählt, in das ich verliebt war. Da habe ich mich nicht geschämt.

Mit meinem Vater spreche ich erst jetzt über Frauen. Ich habe nie mit ihm zusammengelebt, sondern bin in einer riesigen Familie aus Freunden und Halbgeschwistern groß geworden. Die meisten Mütter waren wie meine alleinerziehend. Überall waren Kinder, unter ihnen einige Mädchen. Von ihnen habe ich viel gelernt. Wie ihre Körper aussehen, wie sie sich bewegen, was schön an ihnen ist. Mädchen sind überhaupt reifer. Sie kennen allein durch die Menstruation ihre Körper viel besser als Jungs. Das habe ich irgendwie bewundert.

Mit zehn der erste Kuss

Die Jungs, mit denen ich abhing, waren meist älter. Sie hatten schon Freundinnen. Es ging ums Knutschen und Anfassen, das habe ich schon früh gesehen. Aber sie haben mir auch beigebracht, wie man Mädchen behandelt: mit Respekt.

Dadurch hatte ich nie Probleme, Anschluss zu finden. Ich war eigentlich schon immer bei den Mädels beliebt. Mit zehn Jahren habe ich in der Pause das erste Mal geküsst. In der dritten Klasse habe ich im Unterricht gelernt, wie ein Diaphragma funktioniert, und was genau die Pille bewirkt. Wenn ich Sex habe, verhüte ich immer. Die wenigsten benutzen Kondome, um sich vor Krankheiten zu schützen. Es geht ihnen wie mir in erster Linie darum, dass sie kein Kind bekommen.

Unangenehmes im Beate-Uhse-Shop

Mutter und Tochter: Melanie und Maimouna.
Mutter und Tochter: Melanie und Maimouna.

© Georg Moritz

Melanie, 43, Erzieherin:

Meine Mutter dachte als Teenager noch, sie würde von Küssen schwanger. Erst in der „Bravo“ hat sie die Wahrheit erfahren. Daher gab es den Wunsch, mich so früh wie nötig in Kenntnis zu setzen. Ich war zwölf Jahre alt, als sie an meine Zimmertür klopfte und sagte: Wir müssen miteinander reden! Allein der Ton der Stimme ließ mich zusammenzucken. Ich wusste: Sie will mit mir über dieses unangenehme Thema sprechen. Sie fing an zu stammeln, da habe ich ihr gesagt, dass mich das jetzt nicht interessiert, später vielleicht, sie solle sich keine Sorge machen – und Tschüss! Ich habe sie aus dem Zimmer geschickt.

Kurz zuvor hatte ich meine erste Menstruation bekommen, als ich bei einer Nachbarin übernachtete. Am Abend kam ich nach Hause, da saß meine Mutter mit der Nachbarin auf der Couch, war megastolz und hat mir zu den Tagen gratuliert. Dass ich jetzt eine richtige Frau sei. Ich dachte nur: Jetzt beginnt das Ende meines Lebens. Das war doch intim.

Der Mann schleudert

In der Schule war es mir dann wiederum zu prüde. Im Bio-Buch gab es kein einziges Bild, das zwei Menschen zeigte, die miteinander schlafen. Da stand nur: „Der Mann schleudert sein Ejakulat in die Scheide der Frau.“ Ich habe diesen Satz tausend Mal gelesen.

Eigentlich wollte ich so lange wie möglich Kind bleiben und auf Bäume klettern. Ein schlimmer Aufklärungsmoment war ein Besuch im Kölner Beate-Uhse-Shop während einer Klassenfahrt. Im Regal stand eine Armee von Riesendildos mit fetten Adern. Hinter der Theke wurde ein Sodomie-Quartett angeboten und überall schlichen so alte Säcke herum, die scheel guckten. Das war schon sehr heftig.

Maimouna, 17, Schülerin:

Ich habe schon sehr früh gerafft, was Sex ist. In der Schule hatte ich allein wegen des jahrgangsübergreifenden Lernens immer wieder Sexualunterricht. In der ersten Klasse haben wir nur nackte Menschen gemalt, Körperteile wie Brüste, Penis und Po benennen müssen. Das war noch nicht mit Schamgefühl besetzt. In der vierten Klasse haben wir gelernt, wie sich der Körper in der Pubertät verändert, in der siebten wurde ein schwarzer Dildo ausgepackt, und wir sollten lernen, Kondome abzurollen.

Erst viel später, ich war in der neunten Klasse, wurden wir nach Geschlechtern aufgeteilt und haben mehr als zwei Wochen sehr intensiv durchgenommen, wie ein Kind entsteht und auf wie viele verschiedene Weisen eine Schwangerschaft verhindert werden kann. Zum Abschluss haben wir gemeinsam einen Film über die Geburt gesehen. Die Kamera zeigte direkt auf die Scheide.

Übungen mit der besten Freundin

Die meisten meiner Mitschüler trauten sich gar nicht, hinzuschauen. Besonders die Jungs fanden die Schreie und Schmerzen der Frau krass. Ich aber auch. Sie presste, und ich musste aus dem Zimmer gehen. Mir war so übel. Als ich zurück in die Klasse kam, war auf dem Bildschirm ein blau gefärbtes neugeborenes Baby zu sehen.

Von meinen Eltern wurde ich nicht aufgeklärt. Es stand nie zur Debatte. Sie wussten, dass ich kapiert hatte, was Sex ist – wie man eben weiß, wie Bäume entstehen. Küssen habe ich mit meiner besten Freundin geübt. Dennoch hat mir ein Heft sehr geholfen, die verschiedenen Phasen des Erwachsenenwerdens zu erkennen: „Annas Tagebuch“. Es wurde in der Schule verteilt. Darin erzählt ein Mädchen anhand ihrer eigenen Geschichte, wie es ist, die Periode zu bekommen, den ersten BH zu kaufen, zum ersten Mal verliebt zu sein, mit ihrem Freund Sex zu haben und zu verhüten. Von diesem Mädchen konnte ich viel annehmen.

Erste Erfahrungen im Ferienlager

Tochter und Mutter: Lotti und Ulrike.
Tochter und Mutter: Lotti und Ulrike.

© DAVIDS/Laessig

Ulrike, 42, Hebamme:

Meine ältere Schwester hat mich aufgeklärt, als ich sechs war: „Wieso redest du die ganze Zeit über Sex? Das ist etwas ganz Normales. Das haben Mutti und Vater auch gemacht, sonst wärst du doch gar nicht da.“ Ich war so fasziniert, weil ich dachte, Sex sei etwas Außergewöhnliches und Schmutziges. Aber dass alle das machen, war mir neu.

Ich bin im Osten aufgewachsen, nackte Menschen an FKK-Stränden waren für mich normal. Weil meine Mutter im Ärztezentrum arbeitete, wurde ich früh zum Frauenarzt geschickt. Mit 14 Jahren habe ich die Pille verschrieben bekommen, den Rest habe ich mir selber beigebracht.

Die reinsten Vögelorgien

Ich habe mich früh für Jungs interessiert und meine Erfahrungen im Ferienlager gesammelt. Das lief damals nach einem Schema ab. Im ersten Jahr hat man sich auf die Lippen geküsst, im zweiten kam die Zunge mit ins Spiel, im dritten ging es unters T-Shirt. Und nach dem vierten Sommer war es dann so weit: Ich wurde entjungfert, mit 16 Jahren. Zu meinem Erstaunen hat es nicht geblutet. Danach gab es Partys bei Freunden, deren Eltern nicht da waren, das waren die reinsten Vögelorgien.

In den Jugendbüchern, die ich während meiner Schulzeit gelesen habe, ging es immer um mechanische Details wie in der Reihe „Mann und Frau intim“ – der Penis muss erigiert sein, damit das Kondom rübergezogen wird. Dass aber Verhütung kompliziert ist und nicht nur ein Thema für Jugendliche, sehe ich heute an meiner Generation sehr gut. Nach meiner Scheidung hatte ich ein paar Treffen mit Männern, die über 40 Jahre alt waren. Die wenigsten von ihnen wollten Kondome verwenden und haben nie über Krankheiten nachgedacht.

Lotti, 16 Schülerin:

Meine Mutter ist Geburtshelferin. Ich wurde sozusagen am Esstisch aufgeklärt. Jeden Abend, wenn wir mit meinem Vater und meinem Bruder zusammensaßen, erzählte sie die Erlebnisse des Tages. Erst neulich ging es wieder um Teenagerschwangerschaften – ein 16-jähriges Mädchen, das im Kreißsaal zum zweiten Mal entbunden hat. Auch meine Freundinnen wurde von meiner Mutter früh über Empfängnisschutz aufgeklärt. Sie kam zu uns in die Schule, und wir haben mithilfe von Milchpackungen das Gewicht eines Babys dargestellt. Früher hat mich diese Offenheit nicht gestört, mittlerweile sind mir die Gespräche peinlich.

Manche Themen nur mit Freundinnen

Bei Verhütungsmitteln bin ich ganz klar für Pille und Kondom, allein wegen der Geschlechtskrankheiten. Ich habe mich gegen HPV impfen lassen: einen Virus, der Gebärmutterhalskrebs hervorruft. Die meisten meiner Freundinnen wissen, dass sie am besten Kondome benutzen sollten.

Es gibt ganz klar Themen, die ich nur mit ihnen bespreche. Pornos, Homosexualität, Erfahrungen, die wir gemacht haben. Generell geht es schon viel um Sex. Wer mit wem? Wann?

Vor Sex habe ich keine Angst. Ich bin eher unsicher, weil ich nicht genau weiß, was sich danach für Konsequenzen ergeben können. Auch wenn ich neugierig bin, behalte ich sehr gern die Kontrolle: Auf sozialen Plattformen wird viel herumgepöbelt, deshalb möchte ich keine Bilder von mir im Internet finden. Davor warnt auch der Polizist, der in der Schule Gewaltprävention unterrichtet. Er klärt über Bild- und Persönlichkeitsrechte auf, wie Fotos, einmal im Netz, Karrieren verbauen können. Ich lerne so, die Gefahren einzuschätzen.

Lena Reich

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