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Der Oberstabsarzt bei der Visite im Zug.

© privat

Der Zweite Weltkrieg auf Schienen: Im Lazarettzug 606

Er war Sanitäter und verbrachte den Zweiten Weltkrieg auf Schienen. Tausende Kilometer, tausende Verwundete und Tote, jahrelang. Manfred Pfeffer schrieb Tagebuch. Jetzt, mit 94, erzählt er seine Erlebnisse.

Aus dem Kessel des Heizwagens zischt Dampf durch etliche Löcher. Alle Fenster sind zerbrochen. Laskowski, der Heizer, liegt am Boden und blutet. Die Wucht der Explosion hat seinen linken Arm vom Körper gerissen, die Hand umklammert weiter die Kohlenschaufel. Wir verbinden Laskowski, so gut es geht. Er lebt noch eine Stunde.

Viereinhalb Jahre lang ist unser Zug da schon durch Europa gereist. Angegriffen wurde er mehrfach, aber nie so schwer getroffen. In den vorderen Wagen entdecken wir zwei weitere Tote, einer ist Dr. Haack, ein Assistenzarzt, mein Freund. Die Splitter seiner Schädelknochen stecken in den Wänden des Waggons fest. Später wird der Wagen gründlich gereinigt und neu gestrichen, aber die Spuren von Dr. Haack kriegen sie nie ganz entfernt.

Bis zu diesem Sonntagmittag, es ist der 5. März 1944, habe ich tausende Schwerverletzte gesehen und viele Sterbende. Es gibt aber einen Unterschied: Die sind immer bereits in ihrem schrecklichen Zustand angeliefert und eingeladen worden. Nie habe ich erlebt, wie sie zu ihren enormen Wunden, zu den Löchern in den Körpern gekommen sind. Das hat sich nun geändert.

Beim Versorgen der Verletzten sagt Schwester Tilde irgendwann, mir laufe hinten Blut in den Kragen rein. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich am Hinterkopf verletzt bin. Wahrscheinlich nur Glassplitter. Ich habe Glück gehabt, wieder mal.

Dass ich im Lazarettzug 606 gelandet bin und nicht an der Front, verdanke ich einer Reihe von Zufällen, letztlich aber zwei Klassenkameraden in der Schule: Die waren Epileptiker, sind regelmäßig umgekippt. Also hat unser Lehrer drei Jungen zum Roten Kreuz geschickt, Erste Hilfe lernen. Er hat sich die Klassenbesten rausgepickt, ich war einer davon. Der Beginn meiner Sanitäterlaufbahn.

Der Lazarettzug 606 hat 22 Waggons. Die vorderen sechs sind für die Leichtverletzten, also solche, die auf Bänken sitzen können. Immer sechs pro Abteil. Dahinter reihen sich Küche, einige Schlaf- und Speisewagen für die Mannschaft, der Materialwagen und der für die Operationen. Dann noch mal neun Stück für die Schwerverletzten. Die liegen in Etagenbetten, immer drei übereinander. Eigentlich durften die Deutschen ja gar keine Lazarettzüge besitzen, das war laut Versailler Vertrag verboten. Deshalb waren die ersten Modelle bloß Güterzüge, in die man ein paar Etagenbetten reingestellt hat. Die am schwersten Verletzten legen wir auf halber Höhe ab, so kommen wir am leichtesten dran, später beim Ausladen.

Offiziell kann der Zug 450 Soldaten transportieren. Es passen aber deutlich mehr rein, wenn man sie auch auf den Boden legt. Auf einer Fahrt sind es 1500.

Wenn der Zug bremst, stöhnen die Verwundeten

Der Oberstabsarzt bei der Visite im Zug.
Der Oberstabsarzt bei der Visite im Zug.

© privat

Meist ist es ziemlich still in den Waggons, gesprochen wird kaum. Manche Verletzte wimmern vor Schmerz, andere stöhnen oder weinen. Vor allem dann, wenn der Zug abbremsen muss und die Puffer der Waggons gegeneinander gedrückt werden. Für uns Gesunde ist der Moment kaum spürbar, aber den Verwundeten bereitet er starke Schmerzen. Manchmal platzen frische Nähte auf. Dann höre ich Schreie.

Trotz allem darf man sich den Lazarettzug 606 nicht als Ort vorstellen, in dem alle Mitreisenden deprimiert und zu Tode betrübt sind. Im Gegenteil: Die meisten Verletzten wirken erleichtert. Weil sie wissen, dass der Krieg für sie – zumindest vorläufig – zu Ende ist. Sie haben ihn überlebt, und nun wird es Monate dauern, bis ihre Körper soweit wiederhergestellt sind, dass man sie zurück an die Front schicken kann. Vielleicht auch nie. Das ist doch ein Grund zur Freude. Das gibt ihnen Hoffnung.

Für jeden Schlafwagen, also mindestens 30 Mann, ist ein Sanitäter zuständig. Die meiste Zeit wechselt er bloß Verbände, teilt Medikamente aus oder hilft, die Verletzten zur Kloschüssel zu tragen. Operationen gibt es nur im Notfall: wenn sich zum Beispiel eine Wunde entzündet hat und der Eiter dringend raus muss oder wenn die Amputation eines Körperteils unumgänglich wird. Dann stehe ich im OP-Wagen neben dem Chefarzt, reiche ihm Schere und Skalpell. Manchmal muss ich Schüsseln halten, um die Körperflüssigkeiten aufzufangen.

Ich habe mich nicht freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Anfang 1941 bin ich eingezogen worden, im Alter von 20 Jahren. Zum „Heeressanitätsdienst 3 Berlin“. Die Kasernen stehen dort, wo sie später den Flughafen Tegel hinbauen werden. Meine erste längere Fahrt beginnt am 18. Februar 1941: vom Bahnhof Hoppegarten über den Südring nach Tangermünde, dort laden wir Verwundete ein. Weiter nach Hannover, Koblenz, Mainz, Karlsruhe bis Konstanz, dort wird ausgeladen, dann geht es zurück nach Hoppegarten. Macht 2500 Kilometer in sechs Tagen. Am Wochenende wird der Zug zum Güterbahnhof Grunewald gebracht, damit die Berliner ihn am „Tag der Wehrmacht“ von innen erkunden können. Er steht am selben Gleis, von dem sie später die Juden deportieren.

99 Fahrten wird der Lazarettzug 606 bis Kriegsende absolvieren. Wobei die Strecken jeweils mehrere tausend Kilometer lang sind, die Touren dauern Wochen. Meist fahren wir ganz dicht an die jeweilige Front heran, halten am nächstgelegenen Güterbahnhof, laden die Menge an Verletzten ein, die uns vorher telefonisch angekündigt wurde. Die bringen wir dann ins Landesinnere, stoppen hier und da, verteilen die Soldaten auf verschiedene Lazarette. Je nachdem, wo gerade Platz ist. Weil sich die Fronten verschieben, ändern sich auch unsere Transportrouten, und ich lerne halb Europa kennen. Troppau, Königsberg, Riga, Chalon-sur-Saône, Wilna, Ostrow, Pleskau. Bei Zwischenhalten ist es meine Aufgabe, die Vorräte aufzufüllen. Ich bestelle mir dann einen Lastwagen und gehe auf Besorgungstour: Wir brauchen ständig Medikamente und Klopapier, vor allem aber Brot, Wurst, Gemüse, Kartoffeln.

Dass ich diese Details noch 70 Jahre später erinnern werde, liegt daran, dass ich auf den Fahrten penibel Tagebuch führe. Einer in der Mannschaft muss es tun, und da ich der Jüngste bin, trifft es mich. Komischerweise darf ich meine Aufzeichnungen auch nach Kriegsende behalten, die Amerikaner betrachten die alte Kladde wohl als wertlos. Zurück in Berlin werde ich sie in einer Schublade verstauen und Jahrzehnte lang keinen Blick reinwerfen.

Ein Ereignis fehlt in meinem Tagebuch: Auf einem Güterbahnhof, in einem Dorf irgendwo hinter Königsberg, sehen wir Waggons mit Menschen drin. Wir wissen sofort, dass es Juden sind. Wir wissen zu diesem Zeitpunkt auch schon, dass sie allesamt in Lager abtransportiert werden. Wir wissen nicht, dass man sie dort umbringen wird.

Gelegentlich verlasse ich den 606 für mehrere Tage, werde nach Berlin geschickt, zum Beispiel, um Feldpost zu holen. So erfahre ich auch, dass im August 1943 die Wohnung meiner Eltern in Lankwitz zerstört wird. Zum Glück sind sie nicht zu Hause, als die Bomben fallen.

Unser eigener Hitler-Gruß

Der Oberstabsarzt bei der Visite im Zug.
Der Oberstabsarzt bei der Visite im Zug.

© privat

Wenn man jeden Tag immer nur Leid sieht, so viele Wunden, so viele zugerichtete Körper, dann ist es logisch, dass keiner in unserer Mannschaft den Krieg gutheißt. Euphorie gibt es nicht, wir haben ja nie die militärischen Erfolge der Anfangszeit erlebt, sondern immer bloß die Zerstörungskraft des Krieges. Da hofft man automatisch, dass bald alles vorbei sein wird. Wir haben eine spezielle Form des Hitler-Grußes: Die Hand des ausgestreckten Arms zeigt gebogen nach unten. „System Trauerweide“ nennen wir das.  Den Gruß zeigen wir natürlich nur, wenn wir unter uns sind.

Es vergeht kein Transport, ohne dass mindestens einer unserer Passagiere stirbt. Meistens sind es die, von denen wir es erst gar nicht gedacht hätten. Das hängt mit der Überbelegung zusammen: Wenn sich ein einziger Sanitäter simultan um 30 Schwerverletzte kümmern muss, bekommen im Zweifel diejenigen Aufmerksamkeit, die nachdrücklich darum bitten – eben weil sie es können. Die ganz schweren Fälle liegen einfach da und dösen weg. Das war’s. Wenn einer gestorben ist, wird er in Tücher gewickelt und am hinteren Ende des Waggons auf den Boden gelegt.

Denke ich heute, nach einem langen Berufsleben als Dekorateur, Shampoo-Verkäufer, Modelleisenbahnhändler und Zirkusartist, an meine Jahre im 606 zurück, dann wundert mich besonders, wie normal ich das alles fand. Im Grunde ist so ein Leben im Lazarettzug doch der permanente Ausnahmezustand. Aber den hält ein Menschenverstand wahrscheinlich über so lange Zeit nicht aus. Irgendwann verdrängt man einfach und geht nur noch stupide seinen Tätigkeiten nach. Lebt seinen Alltag. Da ist dann kein Platz im Kopf für Sorgen und Grübeleien, da mag man nicht über die ganzen persönlichen Katastrophen nachdenken, die vor einem übereinandergestapelt liegen. Mitleid empfinde ich auf meinen Reisen keines.

Einmal muss ich selbst die Lok steuern. Es ist Montag, der 31. Januar 1944. In der Nähe der russischen Stadt Porchow müssen wir an einem Bahnübergang halten, als der Zug plötzlich von der Seite beschossen wird. Partisanenüberfall! Die Angreifer können natürlich nicht ahnen, wie viele Soldaten sich im Zug befinden – und zumindest die Leichtverletzten haben alle ihre Waffen dabei und erwidern das Feuer. Der Schnee draußen färbt sich bald rot.

Leider können wir nicht einfach davonfahren. Unsere beiden estnischen Lokführer sind geflüchtet. Also muss einer von uns den Zug aus der Schusslinie bringen, und der Chef denkt, es sei eine gute Idee, mich auszuwählen. Zusammen mit dem Wagenmeister robbe ich am Boden entlang, ganz vorne zum ersten Wagen hin, rein in die Kabine. Ich habe es wirklich geschafft, das Ding zu steuern. Zumindest bis zur nächsten Station.

Im Laufe des Jahres 1944 nehmen die Angriffe deutlich zu, wir werden mehrfach bombardiert, oft in der Nähe von Bahnhöfen. Aber es geht immer glimpflich aus, nur ein paar Fensterscheiben zersplittern.

Bis zum 28. Dezember 1944. Wir sollen an die Westfront, stehen in Opladen in der Nähe von Düsseldorf. Um 6.20 Uhr morgens heulen die Sirenen. Kurz darauf kracht es schon. Der Chefarzt kommt in unseren Schlafwagen gestürzt, greift mich am Arm und zieht mich nach draußen. Dort steht nur ein Schuppen in der Nähe, wir rennen hin, legen uns Kopf an Kopf flach und ganz dicht an die Mauer. 20 Minuten lang fallen die Bomben, ohne Pause. Ein dicker Betonbrocken fliegt durch die Luft und gegen meine Schulter, doch wieder habe ich Glück, er streift mich bloß. „Sonst wär die Schulter weg“, sagt der Chefarzt später. „Das hätte ich dann auch nicht mehr reparieren können.“

Als wir uns aus dem Versteck trauen, sehen wir das Chaos. Zig Waggons sind komplett zerstört, die Bettenwagen stehen quer auf den zerrissenen Gleisen und brennen. Acht meiner Kollegen sind tot. Einen finden wir nicht, er muss unter einem der brennenden Wagen liegen.

Es dauert Wochen, bis der 606 neue Waggons erhält und weiterfahren kann, aber dann ist der Krieg auch schon fast zu Ende. Von der Kapitulation erfahren wir im Radio, wir stehen gerade im tschechischen Kdyne, der Ort heißt damals noch Neugedein. Wir harren dort aus, es vergehen zwei weitere Tage, bis die Amerikaner kommen und uns entwaffnen. Sie sind sehr freundlich, mal abgesehen von der Meckerei darüber, wie ungepflegt unser Zug aussehe. Die ganzen kaputten Scheiben und so. Kein guter Zustand, sagen sie.

Protokoll: Sebastian Leber

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