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Die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe ist Stasibeauftragte in Brandenburg.

© Manfred Thomas

Brandenburgs Stasi-Beauftragte: DDR-Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe: "Ich war jung und voller Trotz"

Als die Stasi Müllsäcke aus ihrer Wohnung schleppte, blieb sie ruhig. Ulrike Poppe erinnert sich an die DDR und die Widerstände ihres Lebens.

Die DDR-Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe gibt ihr Amt als Stasi- und Diktaturbeauftragte des Landes Brandenburg vorzeitig auf. Bereits im Sommer 2017 geht sie aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand, teilte sie am Montag mit. Der Tagesspiegel führte im Herbst 2016 mit Poppe ein langes Interview über ihren Widerstand als Jugendliche, ihre heutige Sicht auf die DDR sowie die Veränderungen in Prenzlauer Berg und Ostdeutschland. Hier veröffentlichen wir es noch einmal:

Frau Poppe, wann haben Sie zuletzt ganz privat an die DDR gedacht?

Als ich die Wohnung meiner Eltern aufgelöst habe; viele Unterlagen und Fotos erinnerten mich an die Zeit vor 1989. Meine Kindheit und die DDR – das lässt sich nicht trennen. Das politische System ist die eine Seite, die andere Seite ist das lebendige Dasein darin mit allen Höhen und Tiefen. Solche Prägungen verleugne ich nicht und halte auch an ossitypischen Sprachgewohnheiten fest: „Dimitroffstraße“ statt Danziger Straße und …

… „Stalinallee“ statt Karl-Marx-Allee?
Wolf Biermann hat das Lied verfasst, das acht Gründe benennt, warum der Name „Stalinallee“ beibehalten werden sollte.

Jetzt müssen Sie lachen.
Biermann polemisierte, weil mit der Umbenennung nicht alle stalinistischen Relikte beseitigt waren. Ich halte es ja für richtig, kommunistische Führer nicht mit Straßennamen zu ehren. Doch eine Kaufhalle nenne ich noch Kaufhalle. Warum sollte ich diesen treffenden Begriff gegen einen Markennamen austauschen? Am Alex, da steht für mich …

… etwa das Centrum Warenhaus?
Genau! Natürlich freue ich mich über die aufgebauten Innenstädte, besonders wenn dafür die historische Bausubstanz saniert wurde. Manchmal sind die Wohnviertel auch zu schick geworden, das sprudelnde Leben verzieht sich dorthin, wo den Anwohnern Raum für Gestaltung geblieben ist.

Warum kommen viele Ostdeutsche in diesem vereinten Land nicht an?
Zu DDR-Zeiten verlief für viele der Lebensweg in festgelegten Bahnen. „Von der Wiege bis zur Bahre“, so hieß es, war alles geplant. Sicherheit vor Selbstbestimmung. Die Ostdeutschen waren nicht gewohnt, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten, sich von einem kurzfristigen Job zum nächsten zu hangeln und mit allen Risiken einer selbstverantworteten Lebensgestaltung zurechtzukommen. Diese Umstellung war für manche eine Befreiung, für andere eine erhebliche Verunsicherung.

Der Mauerfall jährt sich zum 27. Mal. Die ostdeutsche Prägung verblasst doch zunehmend.
Das hatte ich auch erwartet! Doch selbst die im vereinigten Deutschland aufgewachsenen Ostdeutschen weisen DDR-Spuren auf: Sie sind in annähernd homogenen Milieus aufgewachsen und fühlen sich mitunter bedroht oder verunsichert im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen.

Ist deshalb die Einheitsfeier am 3. Oktober in Dresden so massiv gestört worden? „Politiker in den Gulag“, das Nazi-Wort „Volksverräter“, „Haut ab!“ und Schlimmeres stand auf den Plakaten.
Diese menschenverachtende Sprache in der Öffentlichkeit ist neu. Solche Töne sind Vorboten von Gewalt, und die Gewalttaten gegen Fremde nehmen stetig zu. Unbestreitbar gibt es im Osten mehr Rechtsextremismus, auch wenn dieser ein gesamtdeutsches Problem ist. In der DDR hatten wir kaum mit Fremden zu tun – im Gegensatz zu den Westdeutschen, die durch Gastarbeiter und Reisen anders sozialisiert waren.

Erklärt das denn rechte Demos und Gewalttaten?
Von der Wandlung in eine offene Gesellschaft und in eine zunehmend entgrenzte Welt profitiert, wer qualifiziert, jung, weltgewandt und mobil ist. Andere fürchten, ins Abseits zu geraten. Statt wohlfeiler Empörung sollten die Verlusterfahrungen mancher Bevölkerungsgruppen ernstgenommen werden, auch um rechtsextremen Bewegungen den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Sie haben natürlich gut reden. In Ihrem Kollwitz-Kiez in Prenzlauer Berg läuft alles wunderbar.
Junge Familien haben es nicht leicht. Selbst, wenn man eine gute Ausbildung hat, ist es schwer, einen Job zu bekommen und diesen mit Kindern zu vereinbaren. Für Familien sind die Mobilitätsanforderungen hart! Wochenendehen! Da schwindet die Bereitschaft, Kinder in die Welt zu setzen.

Frau Poppe, gucken Sie doch mal aus dem Fenster!
Ja, hier am Kolle sind viele Kinder auf der Straße. Das heißt aber nicht, dass es für Familien einfach ist. Insgesamt schrumpft die Bevölkerung. Das Leben mit Kindern sollte mehr gefördert werden.

Mit Wochenkrippen, wie es sie in der DDR gab?
Also, bitte. Das ist keine Lösung. Ganztagsschulen ja, wenn sie gut sind. Wenigstens am Abend sollten die Kinder aber zu Hause sein dürfen.

"Wir waren auf eine Verhaftung vorbereitet"

Wissen, wie es war. Die ehemalige Oppositionelle zeigt 2012 im Berliner Stasi-Museum einen Barkas-Kleintransporter der für Verhaftungen eingesetzt wurde.
Wissen, wie es war. Die ehemalige Oppositionelle zeigt 2012 im Berliner Stasi-Museum einen Barkas-Kleintransporter der für Verhaftungen eingesetzt wurde.

© imago

Sie haben Anfang der 80er-Jahre den einzigen selbstverwalteten Kinderladen in Ost-Berlin mit gegründet. Was denken Sie, wenn Sie heute dort in der Husemannstraße vorbeigehen?
Jetzt stehen da Kinder nach herrlichen Eiskugeln an. Manchmal denke ich daran, was wir damals versucht haben. Es gab zwar in der DDR nahezu flächendeckend Kindereinrichtungen, doch die waren zum Teil von so schlechter Qualität, dass manche ihre Kinder dort nicht abgeben wollten.

Was haben Sie anders gemacht?
In den staatlichen Kindereinrichtungen gab es Vorgaben, was jedes Kind in welchem Alter können muss: Mit zehn Monaten gehen wir aufs Töpfchen, mit 18 Monaten essen wir mit Besteck. Wir wollten unsere Kinder nicht in eine Norm pressen. Kriegsspiele? Nein. Es wurde mit Fingerfarben gemalt, die man nur aus dem Westen bekommen konnte.

Nicht jeder, der in der Wochenkrippe war und Krieg gespielt hat, ist heute ein emotionales Wrack.
Natürlich nicht. Jedes Kind, jeder Mensch ist anders. Ich erlebe es hier bei meinen Beratungen ehemaliger Heimkinder. Die gleichen Umstände – und der eine hat heute schwere Störungen, der andere hat seine Heimzeit gut verkraftet.

Forscher erklären sich das mit Resilienz, psychischer Widerstandsfähigkeit.
Wobei Resilienz ja gerade dadurch entsteht, dass ein Kind durch die Liebe und Geborgenheit ein Urvertrauen entwickeln kann.

Heute übt nicht mehr der Staat den Druck aus, das erledigen die Eltern jetzt selbst.
Ja. Für manche Eltern soll das Kind ehrgeizige Erwartungen erfüllen, die ihnen selbst versagt blieben. Anreize sind gut, wenn dem Kind die Freiheit bleibt, selbst zu bestimmen, was es annehmen will – und genug Zeit zum Spielen bleibt. Ich erlebe manche Eltern zu selbstbezogen. Wenn ich auf dem Gehsteig mit einem großen Koffer laufe und mir eine junge Mutter mit Kinderwagen entgegen kommt, könnte sie auch ein Stückchen ausweichen. Diese Mentalität: Hier bin ich mit dem Baby, und ich darf alles, das war bei uns damals anders.

Fragen Ihre Kinder Sie nach der DDR-Zeit?
Meine Tochter findet, wir hätten zu wenig Zeit gehabt. Es sei beim Abendessen immer um Politik gegangen. Ich habe deswegen ein schlechtes Gewissen. Mein Sohn sieht das anders. Beide respektieren, dass ihre Eltern in der Opposition waren. Sie erinnern sich auch an die Stasi vor unserem Haus.

Sie haben Sie nie nach Ihrer Haft gefragt?
Näheres darüber haben sie erfahren, als ich in ihrem Beisein Dritten davon erzählt habe.

Bis jetzt haben Sie nie öffentlich über Ihre sechs Wochen in Hohenschönhausen geredet.
Zur Erklärung: Nach dem Nato-Doppelbeschluss 1979 hatten sich viele Friedensinitiativen gegründet, auch „Frauen für den Frieden“, zu der ich gehörte. 1983 besuchte uns eine britisch-neuseeländische Friedensaktivistin, die mehr über Frauen in der DDR erfahren wollte. Bei ihrer Rückreise wurde sie festgenommen – und war Anlass, dass drei andere Frauen und ich verhaftet wurden.

Und wie ging das vonstatten?
Eines meiner Kinder war krank, ich lief in die Christburger Straße zur Poliklinik. Am Ausgang wurden wir umringt von Männern, die ihre Stasi-Ausweise zeigten. Als ich mich weigerte, in das Auto zu steigen, wurde mir erlaubt, erst die Kinder nach Hause zu bringen. Wir waren auf eine Verhaftung vorbereitet: Mein Mann hatte im Flur eine doppelte Decke eingebaut, wo wir Schriften versteckten, ein Wäscheschrank hatte eine doppelte Rückwand. Es gab Vollmachten für die Kinder.

Was geschah, als Sie nach Hause kamen?
Die waren gerade dabei, zehn 60-Liter-Müllsäcke mit Büchern, Fotos und Briefen aus unserer Wohnung zu schleppen. Aber ich war froh, dass sie nur mich verhafteten und nicht auch meinen Mann.

Was wurde Ihnen zur Last gelegt?
Es folgte eine stundenlange Vernehmung in der Stasi-Zentrale in der Magdalenenstraße und anschließend wurde mir verkündet: Paragraf 99 Landesverrat, Weitergabe nicht geheimer Nachrichten an eine fremde Macht, die geeignet sind, dem Ansehen der DDR zu schaden. Ein Gummiparagraf, auf den zwei bis zwölf Jahre standen. Ich wurde jeden Tag verhört, von morgens bis abends.

Das muss erschöpfend gewesen sein.
Ich habe in dieser Zeit so viel geschlafen wie nie. Wenn man berufstätig ist und kleine Kinder hat, leidet man unter ständigem Schlafdefizit. Mein Mann war auch in einer schwierigen Situation, denn die Staatssicherheit hatte den Kinderladen aufgelöst. Bei seinen Besuchen wirkte er ziemlich k.o..

Sie wurden dauerbefragt und sagten: „Ich sage nix.“
Bevor ich mit einem Anwalt sprechen durfte, habe ich nichts zur Beschuldigung gesagt, sondern unterhielt mich mit dem Vernehmer über das Waldsterben, Kinder, Umweltschutz. Es war jeden Tag derselbe. Wenigstens schrie er mich nie an. Mein erster Vernehmer dagegen war auch mal laut. Na gut, ich hatte ihn provoziert, indem ich seinen Telefonhörer abgenommen hatte. Da ist er aus-ge-flippt! „STELLEN SIE SICH SOFORT HIN!“

"Weißt du, wer das gewesen sein könnte?"

Der junge Anwalt Gregor Gysi vertrat Poppe nach ihrer Verhaftung. Hier 1992 in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Berlin.
Der junge Anwalt Gregor Gysi vertrat Poppe nach ihrer Verhaftung. Hier 1992 in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Berlin.

© imago/Detlev Konnerth

Waren Sie mutig?
Nee, voller Trotz. Ich war jung. Nach einer Woche kam mein Anwalt, Gregor Gysi. Ich wusste, als Beschuldigte hatte ich weder Wahrheits- noch Aussagepflicht. Außerdem konnte man in den 80er Jahren schon darauf hoffen, in den Westen ausgeliefert zu werden. Was ich allerdings nicht wollte.

Von Petra Kelly über Olof Palme bis Willy Brandt – alle protestierten für Ihre Freilassung.
Und viele Friedensgruppen im In- und Ausland, vor allem Holländer schickten Protestbriefe.

Wussten Sie davon über Gysi?
Nein, über meinen Mann, der mich einmal in der Woche besuchen durfte. Zwar war mein Vernehmer immer bei den Gesprächen dabei, doch er hat mir trotzdem von den Protesten berichtet.

Möglicherweise hatte Gysi Stasi-Kontakte. Darüber wird seit Jahren gestritten.
Natürlich, ich habe ihn ja nach meiner Freilassung in die Magdalenenstraße geschickt, um die Begründung für die Beschlagnahmung meiner Sachen einzuholen. Es gibt aber Hinweise in unseren Akten, dass Gysi auch mit der Stasi kooperiert haben könnte. Zum Beispiel fanden wir in den Akten ein Schreiben, das mein Mann ihm übergeben hatte, sowie die Aufzeichnung eines Gesprächs in seiner Amtsstube, das mit „IM Notar“ unterzeichnet war.

Haben Sie ihn damit konfrontiert?
Er sagt, offenbar sei sein Büro abgehört worden, und vielleicht habe man auch den Schreibtisch aufgebrochen, um an dieses Schriftstück zu gelangen.

Ist das glaubhaft?
Jedenfalls könnte es so gewesen sein. Aber auch andere Mandanten haben ja Verdachtsmomente geäußert.

Wiegt diese Ungewissheit schwer in Ihrem Leben?
Meine Akten sind in wesentlichen Teilen erhalten. Daher wissen wir, wer die maßgeblichen IMs in unserem Umfeld waren – und ebenso, wie die Zersetzungspläne der Staatssicherheit aussahen.

Wann haben Sie diese Aufzeichnungen gesehen?
Wir bekamen Einsicht im Januar 1992.

Ihr überwiegendes Gefühl nach der Lektüre?
Fassungslosigkeit über die Menge der vielen minutiös dokumentierten Details auch sehr privater Lebenssituationen. Überraschung über den offenbar riesigen Aufwand, der betrieben worden war.

Mehr Überraschung als Wut?
Natürlich auch Wut. Aber wir kannten ja vorher einige Spitzel und deren Berichte, die durch Mitglieder des Bürgerkomitees an uns gelangt waren. Manche, die ich unter Verdacht hatte, habe ich angesprochen. Zum Beispiel hatte ich kurz vor Öffnung der Akten einen ehemaligen Kollegen gefragt: „Hast du mir etwas zu sagen?“ Und er erzählte seine IM-Geschichte und betonte, mir keineswegs geschadet zu haben. Schließlich zog er erleichtert von dannen – und ich blieb mit einem Kloß im Hals zurück.

Sind Sie auch mal komplett befremdet gewesen?
Ich fand Berichte eines Freundes, dem ich einen solchen Verrat nicht zugetraut hatte. Noch während der Akteneinsicht rief ich ihn an. Wir verabredeten ein Gespräch, aber er unternahm einen Suizidversuch. Zum Glück wurde er rechtzeitig gefunden. Später redeten wir. Ich konnte seine Argumente nicht nachvollziehen. Hätte er sich mir in den zwei Jahren vor der Aktenöffnung offenbart, wäre ich vielleicht bereit gewesen, ihm zu verzeihen. Aber bis dahin hatte er geschwiegen, selbst als ich ihn mit seinen eigenen Berichten konfrontierte und fragte: „Weißt du, wer das gewesen sein könnte?“

Und er hat’s geleugnet?
Ja.

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