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Gepunktete Wurzelmundqualle.

© Illustration: Andree Volkmann

Berliner Schnauzen (29): Gepunktete Wurzelmundqualle

Tauschen möchte man nicht mit ihr. Sie hat kein Herz, kein Hirn, keine Knochen, vor allem aber: keine Lobby.

Neulich stellte der Schauspieler Til Schweiger ein Video auf Facebook, das zeigt, wie zwei unschuldige Quallen von Menschenhand zerquetscht werden. Bloß so zum Spaß. Der Typ läuft immer noch frei herum.

Immerhin: Im Zoo-Aquarium werden Quallen respektvoll behandelt, ja geradezu hofiert. Als wären sie die wichtigsten Tiere unterm Meeresspiegel. Direkt im Erdgeschoss, gegenüber der Souvenir-Ecke, steht ein raumhoher, von allen Seiten einsehbarer Plastikzylinder. Das ist ihr Becken. Die Toplage suggeriert: Diese Wundertiere darf kein Besucher verpassen! Auf den ersten Blick herrscht Chaos im Zylinder. Etwa 100 gepunktete Wurzelmundquallen schweben auf oder ab, gern auch quer oder diagonal, das Durcheinander erinnert ans Gerangel hochgeputschter Fans bei einem Punkkonzert, nur halt in viel, viel langsamer.

Ihre Schirme schimmern bläulich, und weil zudem kleine, weiße Punkte drauf sind, ist die Art auch unter dem Namen „Sternenhimmelqualle“ bekannt. Merkwürdig: Die Quallen stoßen nie an die Außenwand des Aquariums, drehen immer kurz vorher ab. Na, die können wohl super manövrieren, oder? Denkste, sagt Daniel Strozynski, der zuständige Pfleger. Wurzelmundquallen würden ohne Weiteres gegen alle möglichen Wände stoßen, sich verletzen und kaputtgehen, wenn man sie ließe. Deshalb sei ihre Haltung extrem kompliziert. Das Berliner Team hat ein eigenes, strudelfreies Strömungssystem ausgetüftelt und patentieren lassen. Es verhindert zum Beispiel, dass Quallen gegen die Scheibe gedrückt werden. Tödlich wären auch Luftblasen. Die könnten beim Aufsteigen zarte Quallenhäute durchreißen. Und vom Boden darf niemals starker Wasserdruck ausgehen, sonst würde den Tieren die ganze Nahrung aus dem Magen gespült – der ist nämlich nach unten hin offen. Weil das Berliner Strömungssystem so gut funktioniert, steht unten im Keller eine Zuchtstation mit 1500 weiteren gepunkteten Wurzelmundquallen drin. Die werden an Aquarien in ganz Europa verkauft, manchmal auch nach Nordamerika oder Kuwait.

Oben im Zylinder sind die Quallen nicht allein. Auf ihren Schirmen befinden sich, nur aus der Nähe erkennbar, winzige grüne Flächen. „Gemüsegärten“, sagt Pfleger Strozynski dazu. Tatsächlich sind es Algen, die mit den Quallen in Symbiose leben: Die Glibbertiere transportieren die Pflanzen in Richtung der nächstgelegenen Lichtquelle, die wiederum betreiben Photosynthese, der dabei entstehende Zucker ernährt die Quallen.

Um die Plastikscheiben durchsichtig zu halten, muss das Aquarium alle sechs Wochen mit verdünnter Salzsäure gereinigt werden. Dafür lässt Daniel Strozynski das Wasser ab, setzt alle Tiere in ein Ausweichbecken. Das geht natürlich nicht mit dem Kescher, sonst wären die zarten Geschöpfe wiederum, man ahnt es: sofort tot. Also muss Strozynski eine Schüssel unter die Wasseroberfläche halten und abwarten, bis da mal eine Qualle reinschwimmt. Und das dann eben 100 mal.

WURZELMUNDQUALLE IM AQUARIUM

Lebenserwartung:  1 Jahr

Extreme Verwandte: Die Riesenqualle Stygiomedusa gigantea wiegt bis zu 90 Kilo

Interessanter Nachbar: Röhrenseegurke

Vorherige Schnauzen: Lama, Löwinnen, Tapir

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