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Das Faultier

© Illustration: Andree Volkmann

Berliner Schnauzen (21): Das Faultier

Im Zoo ist das Faultier eines der beliebtesten Tiere. Warum nur?

Am Unterhaltungsfaktor kann es nicht liegen. Der bewegt sich knapp unter der Goldfischgrenze. Auch das possierliche Äußere – mit ihren Zottelhaaren und dem treuherzigen Mondgesicht sehen Faultiere aus wie gutmütige Landstreicher – fällt als Erklärung aus: Dafür müsste der Besucher die Tiere ja auch mal sehen.

Stichprobe an einem Freitagvormittag, zwischen elf und zwölf Uhr. Juannes und Fidelma, die beiden Zweifingerfaultiere im Zoo, haben sich zusammen in die colakastengroße Holzbox gezwängt, die ganz oben in der Ecke ihres Geheges hängt. Zu sehen sind herabhängende Haarbüschel, sie gehören wohl zu einem Bein, es könnte auch ein Arm sein. Zur näheren Bestimmung müssten die Faultiere sich bewegen. Tun sie aber nicht. Zurückgelegte Zentimeter in der Stunde: null, beide Tiere zusammengenommen.

Nein, für die hohen Sympathiewerte muss es andere Ursachen geben. Offenbar berührt uns das Faultier auf einer tiefer liegenden Ebene. Vielleicht ist es der stoische Gleichmut, mit dem die Tiere ein Leben in fast vollständiger Untätigkeit verbringen. Vielleicht bewundern wir das völlige Desinteresse, mit dem sie ihre Umwelt strafen, in sich ruhend, ohne jeden Hauch von Selbstzweifel, ohne jeden Anflug von Langeweile oder Aktionismus. Vielleicht beneiden wir sie um ihre Gelassenheit.

Natürlich sind das menschliche Eigenschaften, die wir auf ein wehrloses Tier übertragen. Beim Faultier hat das Tradition, das fängt schon beim Namen an. Tiere sind nicht faul, Tiere sind „kostenoptimierend“, wie Kurator Heiner Klös sagt. Und das Faultier optimiert seine Kosten eben besonders konsequent. Muss es auch, denn die Blätter, von denen es sich in freier Wildbahn ernährt, liefern kaum Energie. Da heißt es haushalten: bis zu 20 Stunden Ruhe am Tag, eine Körpertemperatur zwischen 24 und 33 Grad, ein langsamer Stoffwechsel.

Selbst das Fell ist erstaunlich ausgeklügelt. Da das Faultier den Großteil seines Lebens hängend verbringt, den Blick nach oben, verläuft der Haarstrich auf dem Bauch. So kann bei Regen das Wasser besser ablaufen. Im Dschungel Südamerikas, wo die Faultiere zu Hause sind, wachsen außerdem grün schimmernde Algen in ihrem Fell. Die verbessern nicht nur die Tarnung, sie sind auch essbar.

Ein Leben der kurzen und ganz kurzen Wege, träge, aber ökonomisch. Ein gutes Pferd springt nicht höher, als es muss, hieße das in der Fußballsprache. Nur eins passt nicht ins Bild: Einmal pro Woche erleichtern sich die Faultiere. Doch statt die Exkremente einfach fallen zu lassen, steigen sie auf den Boden herab und suchen sich ein ruhiges Plätzchen.

Warum tun sie das? Die Ausflüge sind lebensgefährlich. Am Boden sind die Faultiere noch langsamer als im Baum – und das will etwas heißen. Leichte Beute für Jaguar und Ozelot. Als spränge ein Fisch freiwillig an Land.

Einer neuen Theorie zufolge sind die Bodenspaziergänge Teil einer symbiotischen Beziehung. Den Motten, die im Fell der Faultiere leben und ihre Eier in deren Dung ablegen, wird so ein sanfter Abstieg ermöglicht. Das Risiko für die Faultiere scheint unverhältnismäßig hoch zu sein. Doch man darf davon ausgehen, dass sie auch diese Kosten gut kalkuliert haben.

ZWEIFINGERFAULTIER

Lebenserwartung:  30–40 Jahre

Fütterungszeiten:  täglich 14 Uhr

Interessanter Nachbar: Orang-Utan

Vorherige Schnauzen: Der Brillenbär, der Erdwolf, der Kiwi.

Paul Munzinger

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