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Der Dampfer. Vor dem Verfall gerettet: 2004 wurde das Isokon renoviert.

© Arcaid Images/Alamy Stock Photo

Bauhaus in London: Denker und Spione aus den Lawn Road Flats

Anfang der 30er traf sich hier die Bohème Europas. Die Wohnungen im Londoner Isokon waren winzig, dafür wurde einem alles Lästige abgenommen.

Minimalismus, schön und gut, waren sie ja auch dafür, haben sie selbst propagiert. Aber man musste es nicht übertreiben. Als Walter Gropius und seine Frau Ise 1934 in ihre 45 Quadratmeter an der Londoner Lawn Road zogen, bestellten sie erst mal einen extra Satz Handtücher und Kopfkissenbezüge bei Selfridges, dem Luxuskaufhaus an der Oxford Street, sowie Vorhänge und Gardinenstangen. Ein bisschen kuschelig wollten es die Gründer des Bauhauses schon haben. Doch sonst – waren sie begeistert. „Endlich leben wir so, wie wir es anderen immer geraten, wie wir für andere gebaut haben.“ Sie hätten sich keinen glücklicheren Ort vorstellen können, bedankten sie sich später bei ihren Vermietern, die enge Freunde wurden. Das radikale Architekturkonzept gefiel den Emigranten ebenso wie der Geist dahinter, die Menschen – und die Zentralheizung.

Wie wollen wir leben?, hatte die Psychiaterin Molly Pritchard in ihrem Auftrag für den Architekten Wells Coates gefragt. Und die Antwort gleich selbst gegeben: angenehm. Dafür wollten sie gemeinsam die Rahmenbedingungen schaffen. Anstelle eines ursprünglich geplanten Einfamilienhauses entstand ein Wohnblock für junge Berufstätige, die ihre Zeit nicht mit Hausarbeit verschwenden wollten. Kochen, Putzen, Waschen, Bettenmachen übernahmen Servicekräfte in den Lawn Road Flats, wie sie anfangs hießen, sogar die Schuhe wurden geputzt. Ein Leben wie im Hotel für Großstadtnomaden, bevor diese weiterzogen. Zum Beispiel, um eine Familie zu gründen. Denn das war hier praktisch unmöglich. Die meisten Wohnungen waren winzig – 25 Quadratmeter, ein Zimmer, Kochnische, Bad, alles ausgestattet mit passgenauen Einbaumöbeln. „Ready to live in“ lautete das Motto. In diese Apartements konnte man schlüpfen wie in einen Mantel. Gerade für all jene, die hier auf der Flucht vor den Nationalsozialisten vorübergehend Obdach fanden, erwies sich das Konzept als genial.

Weiß leuchtet er einem inmitten all der viktorianischen Reihenhäuschen entgegen, der elegante, langgestreckte Bau, der mit seinen bauchigen Rundungen und Laubengängen schon Agatha Christie an einen Ozeandampfer erinnerte. Die Krimiautorin gehört zur großen Schar der illustren Bewohner in den 30er, 40er Jahren – Künstler, Architekten, Schriftsteller, Archäologen, Intellektuelle, Spione –, die maßgeblich zur Berühmtheit des Wohnhauses beitrugen. Heute steht das Isokon als rare britische Ikone der Moderne unter Denkmalschutz erster Klasse. Ein Dampfer, der auf dem grünen Hügel von Hampstead im Londoner Norden gestrandet ist und nach dem Krieg fast untergegangen wäre.

Eine Geschichte, von der in Deutschland nur wenige wissen

An diesem Tag der offenen Tür im Herbst 2018 können jeweils fünf Besucher – mehr passen nicht rein – ein paar Apartements besichtigen. Die vollgestopfte, esoterisch angehauchte Bude der Künstlerin. Die mit Vintagemöbeln herausgeputzte Zweitwohnung des älteren Designfans. Und, die Krönung, das Penthouse von Magnus Englund. Der gebürtige Schwede, Designhändler und -experte, ist das wandelnde Gedächtnis des Hauses. „Ich kenne mehr Mitglieder der Familie Pritchard, der Hausherren, als aus meiner eigenen“, sagt der 52-Jährige und lacht. Zum 100. Geburtstag des Bauhauses im nächsten Jahr hat er ein Buch geschrieben über die Beziehung zwischen Bauhaus und Isokon. Eine Geschichte, von der zu seinem Erstaunen in Deutschland nur wenige wissen.

Wie es sich für ein Schiff gehört, wurde der Bau zur Eröffnung am 9. Juli 1934 richtig getauft: mit einer Flasche Bier. In der sagenhaften Zeit von einem Dreivierteljahr war das erste Betonwohnhaus Londons hochgezogen worden. Dabei hatte Wells Coates noch nie ein Haus gebaut, ja, er war nicht einmal Architekt. Maschinenbau hatte der Kanadier studiert, sich zeitweise als Journalist ernährt. Mangelnde Erfahrung machte er mit Begeisterung für die Moderne und ausgeprägtem Selbstbewusstsein wett. Als Sohn von Missionaren, die Mutter hatte Architektur studiert, war Wells Coates in Tokio aufgewachsen, wurde geprägt von der Ästhetik, der Handwerkskunst und dem Minimalismus Japans. Seine Liebe zu Booten inspirierte ihn zu seinen kompakten Einbauten.

Zum Zeitpunkt der Haustaufe hatten sich die Pritchards und Coates allerdings schon verkracht. Was nichts mit der Affäre zwischen Bauherrin und Architekt zu tun hatte. Die Pritchards führten eine offene Ehe. Freiheit hieß ihr Programm, Freiheit von überflüssigem Ballast, Freiheit der Bildung, der Gedanken – und der Sexualität. Jack Pritchard hatte seinerseits eine Liaison mit der Montessori-Erzieherin seiner Söhne, zeugte eine Tochter mit ihr.

Die Pritchards erweckten das Haus zum Leben

Der Kapitän und die erste Offizierin. Die Eigentümer Jack und Molly Pritchard füllten die Architektur mit Leben.
Der Kapitän und die erste Offizierin. Die Eigentümer Jack und Molly Pritchard füllten die Architektur mit Leben.

© Pritchard Papers, University of East Anglia

Beim Zerwürfnis zwischen Bauherren und Architekt ging es zwar um Eifersucht, aber anderer Art: um Anerkennung. (Und um Geld natürlich, wie meistens beim Bau.) Sie machten sich gegenseitig die Urheberschaft streitig. Als hätten sie das Ganze nicht zusammen entwickelt, hätten sich nicht gemeinsam von den Vorbildern, der Weißenhofsiedlung, dem Bauhaus und Le Corbusier mitreißen lassen. Zusammen hatten sie 1929 eine Firma gegründet, für die Coates den Namen Isokon erfand, kurz für Isometric Unit Construction; das K anstelle des C war eine Verbeugung vor dem russischen Konstruktivismus. Unter diesem Namen wollten sie avantgardistisches Industriedesign am Fließband produzieren, Häuser aus Beton und Möbel aus Sperrholz. Das wiederum war Jack Pritchards Spezialität. Als Manager für eine große estnische Firma entwickelte der Wirtschaftsingenieur neue Anwendungsmöglichkeiten für das Material, das der Moderne so gut entsprach: leicht, robust und biegsam.

Jetzt aber war der Architekt draußen und die Bauherren zogen ein. Und zwar ins nicht ganz so minimalistische Penthouse mit großer Dachterrasse zum Feiern und FKK-Sonnenbaden. Großzügig und gesellig, erweckten die Pritchards das Haus zum Leben; Jack als Kapitän des Dampfers, wie ein späterer Bewohner sagte, Molly als Steuermann. Da die Bewohner befreit waren vom Ballast des Eigentums und der Fron der Hausarbeit, hatten sie umso mehr Zeit, sich dem Leben, dem Reden, der Kunst und dem Vergnügen zu widmen. 1937 wurde die Isobar eröffnet, halb Bar, halb Restaurant, auch mal Ausstellungsraum oder Vortragssaal, wo sich nicht nur die Bewohner trafen, sondern auch ihre interessanten Nachbarn: Hampstead, heute unerschwingliches Zuhause von Multimillionären und Stars, war in den 30er, 40er Jahren das Zentrum der Bohème, der Linken und Emigranten, von Sigmund und Anna Freud, Elias Canetti, Oskar Kokoschka bis zu Henry Moore, Barbara Hepworth, Julian Huxley und George Orwell.

Am Herd der Isobar stand ein Mann, der bald als einer der ersten Fernsehköche Englands Furore machen sollte. Denn „die Pritchards glaubten an gutes Essen, feinen Wein und unzensierte lebhafte Unterhaltungen“, wie es in einem der Bücher über das Isokon heißt. Ein Glaube, den sie auch in ihrem Supper Club praktizierten, zu dem 25 handverlesene Mitglieder zählten, die nicht nur auf der Dachterrasse dinierten, sondern an exotischen Orten wie dem Zoo. Dort gab es Bison zu essen.

Agatha Christie hat hier mehrere Krimis verfasst

Das Isokon war als soziales Experiment gedacht, das die heute wieder moderne Idee des kommunalen Wohnens verfolgte: Der knappe individuelle Raum wurde aufgewogen durch Gemeinschaftsflächen wie Tennisplatz, Terrasse und Isobar. Für deren Einrichtung war Marcel Breuer verantwortlich – ein weiterer Bauhausmeister, der in der Lawn Road ein vorübergehendes Zuhause fand –, und zwar mit Isokon-Schichtholz-Möbeln. Breuers Stapeltisch und -stühle und vor allem sein „Long Chair“, ein komfortabler Liegestuhl fürs Wohnzimmer, wurden Klassiker.

Zu den Annehmlichkeiten des Baus gehörte auch die Lage, in der Nähe von U-Bahn, S-Bahn und Bus, fußläufig zu einem der größten und schönsten Londoner Parks, Hampstead Heath. Im Krieg galt der Betonbau als einer der sichersten der Stadt, eine Art überirdischer Bunker. Das war der Grund, warum Agatha Christie, eher Villen gewohnt, hier 1941 herzog und sagenhafte sechs Jahre blieb. Auch für sie eine glückliche Zeit. Während ihr Mann als Archäologe auf Ausgrabungen beziehungsweise später im Krieg weilte, hatte sie immer Gesellschaft und Bridgepartner. Und sie konnte wunderbar schreiben, mit Blick auf die Kirsche, die an ihr Fenster klopfte, wie sie erzählte. Hinter dem Haus liegen nur noch Bäume.

Mehrere Krimis und ihren einzigen Spionageroman hat Agatha Christie hier verfasst. Wobei die Autorin so wenig wie die Hausherren ahnte, denn das kam erst in den 90er Jahren peu à peu heraus, dass im Hause zeitweise Top-Spione lebten: Der Wiener Emigrant Arnold Deutsch, der den legendären Spionagering der „Cambridge Five“ rekrutierte, war der Erste. Dann Simon Kremer und Jürgen Kuczynski – in der DDR ein prominentes zerknittertes Gesicht als „fröhlicher Marxist und linientreuer Dissident“, wie er sich selbst beschrieb, sowie als Wirtschaftshistoriker – sowie Kuczynskis Schwester Brigitte. Schwester Ursula, eine der wichtigsten Agenten in der Geschichte der Sowjetunion, lebte ebenfalls in der Nachbarschaft.

„Großbritannien und das Bauhaus, das ist keine Erfolgsgeschichte“

Die Kajüte. Die kompakten Einbauten des Architekten Wells Coates machten Möbel in Bad und Küche überflüssig.
Die Kajüte. Die kompakten Einbauten des Architekten Wells Coates machten Möbel in Bad und Küche überflüssig.

© Sue Barr-View/Alamy Stock Photo

Was das Isokon für Spione so angenehm machte: Sie fielen gar nicht weiter auf. Links, radikal, gebildet und auf Durchreise sind hier sowieso die meisten gewesen. Jack Pritchard half Emigranten, wo er nur konnte, bemühte sich um Visa, Arbeit, Unterkunft. Weniger Erfolg hatte er mit dem Geschäft.

Eigentlich war das Haus als Prototyp geplant; das standardisierte, funktionale Bauen sollte in Serie gehen, um den Bedarf nach erschwinglichen Wohnungen zu erfüllen. Doch für die nächsten Projekte in Manchester, Birmingham und Windsor, die Gropius realisieren sollte, fehlte das Geld beziehungsweise die Baugenehmigung. Als der deutsche Architekt dann einen Ruf nach Harvard bekam, wanderte er nach zweieinhalb Jahren in der Lawn Road mit seiner Frau in die USA aus.

„Großbritannien und das Bauhaus, das ist keine Erfolgsgeschichte“, sagt Haushistoriker Magnus Englund. „Aber es ist eine Geschichte.“ Als Direktor des Isokon Gallery Trusts ist Englund verantwortlich für die sehenswerte Galerie in der früheren Garage, die die Historie des Hauses, seiner Bewohner und der Möbelfabrik erzählt. Hier kann man den „Penguin Donkey“ bewundern, den ein aus Österreich emigrierter Architekt, ebenfalls Isokon-Bewohner, 1939 entwarf: ein kleiner Buch- und Zeitungsständer, in dem die damals gerade erst erfundenen Taschenbücher Platz fanden. Ein so lieb gewonnenes Stück britischer Designgeschichte, dass der kleine Esel noch zwei Reinkarnationen erlebte. Alle drei Modelle werden nach wie vor hergestellt. Das Label Isokon Plus vertreibt die Klassiker ebenso wie neue Objekte. Schichtholz, eine Zeit lang als billiges Material verachtet, ist heute wieder ebenso en vogue wie das zwischenzeitlich verpönte Bauhaus.

Fünfeinhalb Jahre hat Englund im 65 Quadratmeter großen Penthouse der Pritchards gelebt und es Interessenten gezeigt. Diese Woche musste er ausziehen, die Wohnung wurde verkauft. Seine Nachbarn, den Zusammenhalt wird er vermissen.

Ein Architekt aus Hampstead rettete die Ruine vor dem Abriss

Dabei ist die Nachkriegsgeschichte gar nicht so glorreich verlaufen. 1946 wurde das Isokon von einer Zeitschrift zum zweithässlichsten Haus im Lande erklärt, was unter anderem am schrecklichen Dunkelbraun lag, in dem Pritchard den Dampfer zum Schutz vor Bombardements gestrichen hatte. Für nötige Renovierungsarbeiten fehlte den Eigentümern das Geld. 1969 verkauften sie ihn an den „New Statesman“. Nur ging es der linken Wochenzeitung mehr um den Profit als um die Idee. Die Bar wurde rausgerissen und in weitere Winzwohnungen umgewandelt, Gemeinschaftsräume gibt es nicht mehr. Drei Jahre später verkaufte sie das Isokon mit Gewinn an den Bezirk, der den Bau verkommen ließ, bis er, überwuchert, leer stand.

Die Passagiere. Seit diesem Sommer erinnert eine Plakette auf der Fassade an die drei berühmten Bauhäusler, die hier wohnten: Walter Gropius, Marcel Breuer und László Moholy-Nagy.
Die Passagiere. Seit diesem Sommer erinnert eine Plakette auf der Fassade an die drei berühmten Bauhäusler, die hier wohnten: Walter Gropius, Marcel Breuer und László Moholy-Nagy.

© Mick Sinclair/Alamy Stock Photo

Ein Architekt aus Hampstead rettete die Ruine vor dem Abriss. Er gründete einen Trust; ein gemeinnütziges Wohnungsunternehmen übernahm 2001 den Dampfer und ließ ihn renovieren: Elf Wohnungen kamen auf den freien Markt, 25 wurden an „key worker“ in Teileigentum verkauft – Menschen wie Krankenschwestern und Lehrer, die die Stadt am Leben halten, sich das Leben dort aber nicht leisten können. Die Apartements wurden nicht zu Schnäppchenpreisen vergeben, aber überhaupt etwas einigermaßen Bezahlbares zu kriegen, gleicht in London schon einem Lottogewinn.

Englund hat das Leben im vierten Stock des Isokon sehr genossen. Und die Baumängel am eigenen Leibe erlebt, die zum Teil auf die Unerfahrenheit des Architekten zurückgehen, zum Teil auf das zu knappe Budget der Bauherren, aufs Flachdach und die zehn Zentimeter dünnen Wände. Feuchtigkeit dringt in die Wohnungen ein, mit Schimmel haben viele zu kämpfen. Ihre Hausarbeit müssen die Bewohner selbst erledigen, was auch bedeutet, dass sie Staubsauger und Waschmaschine in die 25 Quadratmeter stopfen müssen, die jetzt noch kleiner wirken, da die ausgleichenden Gemeinschaftsräume fehlen. Trotz der prächtigen Erscheinung – heute hat das Leben im Isokon mehr was von Studentenwohnheim denn Hotel.

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