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Hypochondrie ist eine psychische Störung, die sehr quälend sein kann. Behandelt wird er mit einer Verhaltenstherapie.

© Illustration: Birgit Lang für den TSP

Angststörung: Aus dem Leben eines Hypochonders

Er glaubt, er wird jede Sekunde sterben. Deshalb verzichtet er auf warmes Essen, wummernde Musik und Sex. René ist gesund – körperlich.

Nach zwei Bahnen, 50 Meter hin, 50 zurück, legt er seine Arme auf den nassen Beckenrand und stützt sein Kinn auf zwei Fäuste. Für die anderen Menschen, die mühelos durchs Wasser gleiten, sieht es aus, als verschnaufe René kurz. In Wahrheit hat er Angst, dass sein Herz versagt.

Vor wie vielen Ärzten er schon saß, weiß René nicht. 100, vielleicht sogar 200. Es waren in den vergangenen drei Jahren zu viele, um sich an alle zu erinnern. EKG. CT. MRT. Sie haben ihm einen Katheter bis zum Herzen geschoben. Aber nichts. Nichts fehlt ihm. Sein Herz schlägt kräftig. Angeblich.

Wenn die Ärzte das schwören, sieht sich René als der gesunde 40-Jährige, der er ist. Doch dann sitzt er abends in seiner Friedrichshainer Wohnung auf dem grauen Sofa, sieht in einer Arztserie, wie einem Patienten noch drei Monate bleiben, und hält sich wieder für einen Todgeweihten. „Ist mir klar, dass ich verrückt klinge“, sagt René. Deswegen nennt er nur seinen Vornamen.

Angst ist ein Urgefühl, das dem Menschen seit Jahrtausenden das Überleben sichert. Sie mahnt: Sei vorsichtig! Pass auf! Sieben bis zehn Prozent der Deutschen sorgen sich übermäßig um ihre Gesundheit. René gehört zu dem einen extremen Prozent. Er hat eine krankhafte Angst davor, krank zu sein.

Ach, Sie schon wieder!

Drei Jahre war René nicht mehr im Hallenbad an der Landsberger Allee, in das er früher gern gegangen ist. Nun wollte er es wieder wagen. Seine Muskeln spannen sich an. René befiehlt sich, ruhig zu atmen. Es könnte passieren, dass er in der Umkleidekabine verschwindet und die 112 wählt. Gab Zeiten, da kam der Rettungswagen drei Mal in der Woche zu ihm nach Hause. „Den hab’ ich öfter angerufen als meine Freundin“, sagt René. Ein Notarzt rollte irgendwann mit den Augen: Ach, Sie schon wieder!

Hypochonder wie René sind teuer für das deutsche Gesundheitssystem, anstrengend, sie sitzen in überfüllten Arztpraxen und warten in Rettungsstellen neben Schwerverletzten. Gleichzeitig sind es tragische Patienten, die belächelt werden, obwohl sie krank sind. Nur eben nicht primär körperlich.

In den letzten drei Jahren pendelte René zwischen seiner Wohnung und verschiedenen Kliniken. Zuletzt war er im Sommer in der Charité, Station 152b, Psychiatrie. René weiß ja inzwischen, dass er nichts am Herzen hat. Er glaubt es nur nicht immer.

Ein Morgen im Juli, zehn Uhr. René sitzt im Schneidersitz auf seinem Krankenbett. Kahler Kopf, kleine Augen, breites Grinsen. Sein kugeliger Bauch wölbt sich über die helle, wadenlange Hose. „Ich will hier jetzt mal alles abklären lassen“, sagt er, verlangt ein Blutbild, einen Ultraschall seiner Leber, eine Magenspiegelung. Und sein Bein sollen sich die Ärzte ansehen. Das zuckt komisch.

Hypochondrie ist eine psychische Störung

Hypochondrie stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Gegend unter den Rippen“. In der Antike vermuteten Mediziner dort die Gemütskrankheit, nannten sie eine in der Milz sitzende Melancholie. Im 18. Jahrhundert galt die Hypochondrie als schick. Es war die Krankheit der Gelehrten, der Feinsinnigen. Heute ist es eine psychische Störung nach dem internationalen Klassifikationssystem ICD 10.

„Viele Jahre gehen diese Patienten von Arzt zu Arzt, weil sie glauben, ihnen fehlt körperlich etwas, und sie endlich eine Erklärung wollen“, sagt Psychiater Rainer Hellweg, der die Stationen 152b und 153 leitet. Kommen sie am Ende ihrer Suche bei ihm an, bringt so mancher Aktenordner mit, gefüllt mit Kopien diverser Vorbefunde. Ab wann sich jemand nicht nur zu viele Gedanken macht, sondern eine Weile auf der 152b bleiben sollte? „Wenn er nicht mehr das tun kann, was er will und früher problemlos konnte – wie aus dem Haus gehen, arbeiten, seinen Alltag regeln“, sagt der Fachmann. René lebt seit drei Jahren von Hartz IV.

Behandelt wird er mit einer Verhaltenstherapie. Ein paar Treppenstufen sollte er heute langsam hochstapfen und spüren, dass sein Herz schneller schlagen kann, ohne dass er daran stirbt. Konfrontationsmethode nennt das seine Therapeutin. Er soll sich seiner Panik stellen. Aber bei 34 Grad? Mit mehr als 100 Kilo Gewicht bei unter 1,80 Meter? René sagt ab. „Hätte ja einen am Laufen, wenn ich da Sport mache.“

Der alte René war ein Flohmarktbetreiber, der nach Erfolg und Geld strebte. „Ich war ein Ego-Mensch mit ’ner großen Klappe“, sagt er. Mehrmals in der Woche schwamm er für ein, zwei Stunden. Sein Aussehen war ihm wichtig. Treue nicht. Heute mag René keine Spiegel. „Und ich sehe die schönste Frau im Bikini nicht mal, wenn sie direkt an mir vorbeigeht.“

Ich glaube, ich sterbe

Zwanghafte Selbstbeobachtung. Viele Hypochonder lassen ihren Gesundheitszustand ständig kontrollieren.
Zwanghafte Selbstbeobachtung. Viele Hypochonder lassen ihren Gesundheitszustand ständig kontrollieren.

© imago/Westend61

Das letzte Mal verließ er die Psychiatrie nach vier Wochen. Er dachte, das reiche. Dieses Mal will er so lange hierbleiben, bis er wieder der Alte ist, nur netter. Egal, wie lang das dauert.

Angefangen hat es mit einem Zahnarztbesuch, 2015 war das. René erzählt, er konnte danach plötzlich nicht mehr geradeaus laufen, sah verschwommen. Vermutlich vertrug er das Antibiotikum nicht. „Meine Kopfhaut fühlte sich an, als hätte ich eine brennende Badekappe auf.“ Dann polterte sein Herz los. Es war, als würde eine große Kralle danach greifen und es fest zusammenquetschen. René bekam kaum Luft und dachte: Da stimmt was nicht! Ich glaub’, ich sterbe.

Von da an mied René alles, was sein Herz freudig schlagen lässt: wummernde Musik, mit Freunden ausgehen und lachen, Sport. Warmes Essen, warmes Duschen, Sex. Was er einmal liebte, wurde zur Qual.

„Da war ein toller Moment, in ’nem Film oder mit der Freundin, und dann kommt so’n Rumms, und du denkst, du hast einen Infarkt, das war’s.“

Seine Blutwerte sind an diesem Julitag gut. Die Leber erholt sich langsam. Von den Benzodiazepinen, die er geschluckt hatte, um ruhiger zu werden, hatte sich das Organ entzündet. Weil er nur noch lag, nahm René 20 Kilo zu. Kaputte Leber. Übergewicht. Diabetes. Während René alles tat, um gesund zu bleiben, hat er sich selbst krank gemacht.

Winston Churchill und Charlie Chaplin sollen Hypochonder gewesen sein. Thomas Mann, Immanuel Kant und Andy Warhol. Molière schrieb im 17. Jahrhundert über den „eingebildeten Kranken“ eine Komödie in drei Akten. Auch heute noch machen Komiker Hypochonder-Witze. René findet sein Leben nicht lustig.

Der moderne Hypochonder geht nicht nur zum Arzt

Die Wochen in der Charité vergehen. Zu Renés Bedauern bleibt es den Sommer über heiß. Statt Sport zu machen, sitzt er weiter auf dem Bett, hört Musik, schaut Serien. Es dürfen nur keine Kranken und Toten darin vorkommen. Oder René schreibt mit anderen Hypochondern in einer WhatsApp-Gruppe, die er gegründet hat. „Für Depressive gibt es inzwischen Verständnis“, sagt er. „Für Menschen mit einer Angststörung nicht.“

Im Internet existieren etliche Foren, in denen sich Hypochonder austauschen. Ein Mann berichtet: Er hat seit der Entfernung eines Melanoms Angst vor Hautkrebs und beobachtet seither jedes Muttermal mit einer Lupe. Er sucht alte Fotos raus, vergleicht den Fleck. Aktuell lässt ihm ein zwei Millimeter großes Bläschen auf der Schulter keine Ruhe. Eine Frau berichtet, sie rufe bei Kartenlegern an, um zu hören, dass sie gesund sei. Ein anderer fragte Gott um Rat.

Der moderne Hypochonder geht nicht nur zum Arzt. Er gibt seine Symptome bei Google ein, liest die schauderhaftesten Diagnosen. Die Fachwelt nennt das „Cyberchonder“. Was René nach dem Lesen nicht schon alles hatte. Seine Hand ist taub: Könnte ein Tumor sein. Das Gesicht ist röter als sonst: Bluthochdruck. Angeschwollene Lymphknoten: Leukämie. „Google ist ein scheiß Arzt“, sagt er. „Am Ende kommt immer raus, dass man todkrank ist.“ René saß so oft vor dem Computer, dass seine Freundin vermutete, er betrüge sie.

Die Angst geht nicht weg

In der Klinik legt sich René mindestens einmal am Tag ausgestreckt auf das Laken, schließt die Augen und spürt vom Scheitel bis zu den Zehen nach, ob sich etwas seltsam anfühlt. Manchmal tut sein Kopf weh, manchmal schmerzen Nacken und Rücken. Er lässt seine Wirbelsäule untersuchen. Und die Venen, weil sein Bein wieder zuckt. Dann zählt er, wie oft sein Herz in der Minute schlägt.

Nach zehn Wochen auf der Station 152b merkt René, dass er sich geirrt hat. Er wird in dem Klinikkokon nicht normal. In sich zusammengesackt sitzt er auf dem Balkon, starrer Blick, redet kaum. „Körperlich fühle ich mich besser, aber meine Angst geht nicht weg.“ Er erträgt die Kranken nicht. Sein Zimmernachbar trägt nachts eine Sauerstoffmaske und pfeift durch den Rachen. Weder eine Trennwand noch Ohrenstöpsel oder Musik helfen. Erst hat sich René in den Gemeinschaftsraum gelegt. Die vergangenen Nächte saß er hier auf dem Balkon. Tagsüber ist es nicht besser. „Eine Frau im Rollstuhl wird oft neben mein Zimmer geschoben. Die atmet, als würde sie ersticken.“

Überall Patienten, Geräte, Schläuche, die ihm sagen: Nichts währt ewig. Ständig träumt er davon, wie er auf dem Flur der Station liegt, auf Hilfe wartet, stirbt.

Eine von Natur aus ängstliche Persönlichkeit kann der Grund sein, warum jemand zum Hypochonder wird, eine selbst erlebte Krankheit oder der Tod eines geliebten Menschen. Bei René waren es drei Todesfälle in einem Jahr. 2013 nahm sich der beste Freund das Leben. Sein Opa starb. Dann die Mutter. Dabei hatten die Ärzte zuvor beteuert, ihr fehle nichts. Der Krebs hatte schon zu weit gestreut. Sechs Wochen quälte sie sich, René blieb bei ihr. Ihre Konflikte konnten sie nicht mehr lösen.

Er spricht danach über seine Trauer, aber weil das so wehtut, arbeitet er bald 16 Stunden am Tag, repariert sieben Tage die Woche Computer, trinkt sich heiter. Zwei Jahre geht das gut.

„Jetzt geht der Scheiß von vorne los“

Herzklopfen. Die Krankheitsangst beeinträchtigt das Privatleben und ist auch für Angehörige belastend.
Herzklopfen. Die Krankheitsangst beeinträchtigt das Privatleben und ist auch für Angehörige belastend.

© imago/science Photo Library

Nach dem Zahnarztbesuch hat er 2015 die erste Panikattacke. Etliche folgen. Erst fürchtet er einen Herzschaden. Dann denkt er, er könnte wie seine Mutter, sein Vater und sein Onkel Krebs bekommen. Alles, wirklich alles will er tun, um eine Krankheit früh genug zu erkennen. Irgendwann misst er 20-mal am Tag seinen Blutdruck.

Einer Patientin in der Charité ging er lange aus dem Weg, weil sie Martina heißt, wie seine Mutter. „Ich konnte ihren Namen nicht ins Handy tippen.“ Auch die Lieder von der Beerdigung kann er nicht hören, sein Kopfkissen nicht locker klopfen. So wie er es einst bei seiner Mutter tat.

Gelbe Blätter fallen von den Bäumen. Seit einer Woche ist René wieder zu Hause. Er sitzt am Esstisch in seinem Wohnzimmer, seine Freundin auf dem Ecksofa. Heute Morgen war René beim Blutabnehmen. Aus der Charité hieß es: Seine Leberwerte seien auffällig. Herzklopfen bei ihm, Herzklopfen bei der Freundin: Oh Gott, bitte nicht schon wieder! Sie weiß, dass so ein Satz ausreicht, damit er sich erneut selbst einliefert. Psychiater Rainer Hellweg sagt: „Nicht alle sind draußen allein lebensfähig.“

Wie es Renés Freundin die letzten Jahre ging? Sie streicht den schwarzen Pony zur Seite und erzählt. Als hätte sie lange darauf gewartet. „Einmal saßen wir auf dem Sofa, es war 23 Uhr. Da begann er zu zittern, meinte, sein Herz schlägt nicht mehr. Ich so: Schatz, wenn das so wäre, würdest du nicht mit mir reden.“

Was bin ich nur für ein Mann geworden?

Das erste Jahr begleitet sie René noch zur Rettungsstelle. Inzwischen bleibt sie nachts liegen: „Ist gut, Schatz, dann geh!“ In ihrem gemeinsamen Schlafzimmer steht stets ein Rucksack, gepackt mit T-Shirt, Shorts, iPad und Kopfhörern. Weil er in einer fremden Stadt nicht sofort einen Arzt finden würde, wollte René bald nicht mehr wegfliegen. Die Dusche blieb manchmal zwei Wochen unbenutzt, der Staubsauger ganz aus. Seine Freundin putzte, wenn er mit dem Hund draußen war. „Nichts durfte laut sein, aber ich bin manchmal eine laute und hektische Person“, sagt sie. – „Ja, biste!“ – „Du bist auch nicht immer einfach.“

René schweigt. Ab und an, erzählt er, hat er schon überlegt, seine Freundin zu verlassen – um sie nicht so sehr zu belasten. „Was bin ich nur für ein Mann geworden?“ Es gab auch Momente, in denen er daran dachte, vor ein Auto zu springen.

Einmal in der Woche geht er in eine Selbsthilfegruppe. Er will eine Internetseite für Hypochonder aufbauen, sucht nach einer Psychotherapeutin außerhalb der Klinik, macht jeden Tag Sport. „Ich bin wieder ein lebensbejahender Mensch“, sagt René. „Ich sag’ jetzt nicht glücklich.“ Dass sein Herz aufhört zu schlagen, denkt er derzeit nicht oft. Er hat sich sein Leben wieder so verplant, dass kaum Zeit dafür bleibt.

Schöne Momente sind selten geworden

Manches wird besser. René repariert jetzt gelegentlich Computer, isst Pizza wieder warm, trifft mal einen Freund. Davor nimmt er eine halbe Tavor, ein verschreibungspflichtiges Beruhigungsmittel. „Ist doof, aber nur so geht’s.“ Nach seinem ersten Schwimmversuch blickte er die halbe Nacht an die Decke. Er liegt oft wach. Dann nahm er eine Pille, döste weg.

Was noch nicht geht: „Mit meiner Freundin kuscheln und so.“ René kneift die Lippen zusammen. Die Krankheit hat sich zwischen die beiden gedrängelt. Neulich wollten sie ins Kino. Es war der fünfte Versuch, aber René sagte: „Ich fühl mich heute nicht so.“ – „War klar“, murrte sie, „jetzt geht der Scheiß von vorne los.“

Schöne Momente sind selten geworden, aber neulich hatten sie einen. Sie gingen spazieren, am Wasser entlang. Als wären sie sich immer so nah. Als wäre es immer so leicht.

Wer auch unter einer solchen Angststörung leidet, kann sich bei René per E-Mail melden, um darüber zu sprechen: angst-netzwerk@web.de

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