zum Hauptinhalt
Rast auf Ast. Gravierung von 1880, die vermutlich jene Weißtanne von Ardkinglas zeigt, die seit mehr als 100 Jahren als „mächtigster Nadelbaum Europas“ gilt.

© privat

Ardkinglas Woodland Garden: Kronen der Schöpfung

Patagonische Eibe und eine riesige Küstentanne: Der Schotte David Sumsion sammelt Bäume – und bewahrt damit das Erbe des ganzen Planeten.

Einmal im Monat fühlt sich David Sumsion auf seinem eigenen Grund und Boden wie ein Gast. Er setzt dann einen Fuß vor den anderen, auf Pfade, die ihm gehören, vorbei an Bäumen und Büschen und Gräsern in seinem Besitz, er weiß: Für dieses Gefühl muss er dauernd Geld nachschießen, es kostet ihn 11000 bis 12000 Pfund jedes Jahr.

Sumsion läuft, er hört dem Flüsschen Kinglas beim Rauschen zu und dem Wind in den Wipfeln. Findet immer wieder aufs Neue bemerkenswert, dort oben nach wie vor keines der vor 129 Jahren in Großbritannien ausgesetzten, nordamerikanischen grauen Eichhörnchen rumwetzen zu sehen. Sie sind aufgeführt in der „Liste invasiver gebietsfremder Arten von unionsweiter Bedeutung“ der EU. Sieht ausschließlich die von ihnen bedrängten roten, einheimischen. Bleibt stehen und schaut hinauf, den Kopf so weit in den Nacken gelegt wie nur wenige andere Leute in Europa, die raufschauen in Wipfel ihrer eigenen Bäume. Denn seine sind groß.

Was ist das hier, Mister Sumsion?

Das hier ist ewig. Zumindest wirkt es so. Und ich bin 60.

Er bewahrt sie davor, dass sie verschwinden

Sumsion wurde geboren, und er wird sterben, und die meisten der laut seiner Datenbank 1024, über die Jahrhunderte von Menschen gepflanzten Bäume ringsum waren lange vor ihm schon da. Er setzt einiges daran, dass sie ihn auch lange überleben werden.

Der Sterbliche David Sumsion besitzt Bäume, die zum Nationalerbe des Vereinigten Königreichs zählen, das hat er schriftlich. Gerade ist er dabei, es um Exemplare zu ergänzen, die zu den kostbarsten Arten der ganzen Welt gehören. Er bewahrt sie davor, dass sie verschwinden. Bäume? David Sumsion, Gast auf Erden und zwischen seinen Pflanzen, besitzt eingefangene Zeit. Käme er öfter her als dieses eine Mal im Monat, könnte er das Geld nicht verdienen, mit dem er sie unermüdlich festzuhalten versucht.

Sumsion läuft durch seinen „Ardkinglas Woodland Garden“, gelegen am Ufer des Loch Fyne, einer dieser schmalen, tief ins Landesinnere stechenden Meeresbuchten an der schottischen Westküste. Gut 80 Kilometer Richtung Südosten bis Glasgow.

Der erste Baum im Vereinigten Königreich

Der „Garden“ ist kein Garten, dafür ist er zu groß. Er wirkt wie ein Park, der sich an den Rändern zu Wald verdichtet. Vor allem aber gehört er zu den 15 „National Tree Collections of Scotland“. David Sumsion ist Besitzer einer Baumsammlung.

Eine Art Album oder Setzkasten, Museum oder Vitrine. Zehn Hektar sanft ansteigendes Land am Rand des Dorfs Cairndow im County Argyll, zwischen dem Loch-Ufer und drei 700, 800 und 900 Meter hohen Bergen gelegen. Teil der riesigen, 4800 Hektar zählenden Ländereien von Sumsions Ardkinglas Estate. Vollgestellt mit dem, was Zeit und Pflege, oder einfach nur die Zurückhaltung des Menschen, aus Pflanzensamen machen können. Ein Schild am Eingang bittet Besucher darum, fünf Pfund in eine Blechkiste zu werfen.

Sumsion besitzt eine Küstentanne, die als der erste Baum im Vereinigten Königreich gilt, der höher als 60 Meter wuchs. Das ist das Dreifache der Traufhöhe Berliner Gründerzeithäuser. Der Baum, da hatte er mehr als 63 Meter erreicht, war dann laut „Tree Register of the British Isles“ zehn Jahre lang der höchste des Landes. Wurde von einem Konkurrenten überholt, wuchs weiter, 2010 war er 64,30 Meter hoch und wieder Spitzenreiter. Eine Douglasie an Schottlands Ostküste entwickelte sich seitdem schneller.

Bäume sammeln ist ein Sport

Überlebenskünstlerin. Diese Küstentanne gilt als der erste Baum im Vereinigten Königreich, der höher als 60 Meter wuchs.
Überlebenskünstlerin. Diese Küstentanne gilt als der erste Baum im Vereinigten Königreich, der höher als 60 Meter wuchs.

© Torsten Hampel

Stolz, Mister Sumsion? „Nein.“ Worauf denn auch? Der pure Zufall – er ist der älteste von sechs Nichten und Neffen des Vorbesitzers – hat ihn zum Herren der Bäume gemacht. Ardkinglas ist Sumsions Erbe. Seine Ururgroßeltern erwarben es Anfang des 20. Jahrhunderts, von Abkömmlingen des urschottischen Campbell-Clans, dem Ardkinglas seit 1396 gehörte.

So wurde David Sumsion vor 16 Jahren Angehöriger einer niemals weitverbreiteten, in Großbritannien aber wahrnehmbaren Form menschlicher Existenz, die wenig von dem hat, was sie tut. Frühestens die Enkel, wenn es welche gibt, könnten Sumsion posthum danken. Falls die seine Arbeit und die des von ihm angestellten Gärtners sowie das, was sie davon vorfinden, zu schätzen wissen. Große, kostbare Bäume.

Schon interessant, sagt Sumsion. Er ist geübt darin, kurze Sätze zu sagen. Je mehr sie ihn selbst betreffen, umso kürzer. Er steht da in seinen groben Schuhen, einen weinroten Pullover über dem Hemd, zwischen diesen merkwürdigen Riesenbäumen, von denen viele von außerhalb und manche – wie die Küstentanne – aus Nordamerika stammen und wo Nordamerikas Eichhörnchen dennoch kein Füßchen auf den Boden bekommen.

Er weiß, dass Baumranglisten von Baumliebhabern mit heiligem Ernst erstellt werden. Er weiß aber auch, dass man sie nicht zu ernst nehmen sollte. Niemand hat jemals alle Bäume Großbritanniens vermessen und verglichen. Schon gar nicht zum gleichen Zeitpunkt – was aber nötig wäre, um seriöse Vergleiche anstellen zu können. Die Wahrscheinlichkeit legt nahe: Wird irgendwo ein Baum zum Rekordhalter erklärt, sind irgendwo anders längst welche unerkannt weiter gewachsen.

Wer besitzt die meisten Arten?

Das hinderte Sumsion aber nicht daran, für Ardkinglas-Besucher ein Faltblatt drucken zu lassen, einen „Champion Tree Guide“ mit Beschreibungen von Bäumen in seinem Garten, die ausweislich des „Tree Register“ als „die höchsten oder breitesten“ Exemplare ihrer Art in Großbritannien „erachtet werden“. Die Küstentanne ist dabei, eine 22 Meter hohe Patagonische Zypresse, ein Riesen-Lebensbaum von 47 Metern Höhe und fünfeinhalb Metern Stammumfang.

Bäume sammeln ist trotz aller Unwägbarkeiten auch ein Sport. Wer besitzt die meisten Arten, wer die prächtigsten? Wo ergänzen sie einander zu den schönsten Landschaften aus Grün, wo stehen sie bloß rum? In Ardkinglas fallen sagenhafte 2500 Liter Regen im Durchschnittsjahr auf jeden Quadratmeter. Die Pflanzen wurzeln in fruchtbarem Löß und nur wenige Meter über Meeresspiegelhöhe. Deshalb sind die Winter nicht allzu rau, und weil die Bäume sich gegenseitig vor Stürmen schützen, fallen nur wenige vor der Zeit um oder brechen ab.

Und dann steht man da. Hergelockt von der Touristeninformation im nahen Städtchen Inveraray oder Zufallsbekanntschaften an Kneipentresen, von dieser ausufernden britischen Mitteilungsbereitschaft, sobald die Rede auf Bäume kommt. Ausgerechnet hier, in Schottland, dieser riesigen Kahlschlagslandschaft voller nackter Berge. Die Leute kommen und stellen sich unter Sumsions Riesen, sie packen ihre Kameras weg, fassen Rinde an. Sie halten Andacht. Es ist ausgeschlossen, eine dieser Pflanzen vollständig auf ein Bild zu bekommen.

Seine Vorfahren spezialisierten sich auf Rhododendren

Begonnen hat in Ardkinglas alles im Jahr 1750 mit zwei Weißtannen, fünf Buchen, einer Zypresse und einer Zeder. Überall auf der britischen Insel entdeckten Adlige und die ersten Kapitalisten den Baum, um mit ihm die Leere ihrer riesigen Ländereien zu füllen. Sie ließen Alleen zu ihren Herrenhäusern und Schlössern anlegen, schufen Parks. Sie bestimmten darüber, wie Britanniens Landschaft auszusehen hatte. Es war eine Herrschaftsgeste. Es ging darum, sich abzugrenzen vom einfachen Volk – und bald auch vom reichen Nachbarn. Die Besitzer des Crarae Garden, ebenfalls eine der schottischen „National Tree Collections“ und 30 Kilometer südwestlich von Ardkinglas, am gegenüberliegenden Loch-Ufer gelegen, pflanzten vor allem Bäume aus dem Himalaja.

Sumsions Vorfahren spezialisierten sich auf Rhododendren. Jene Sträucher, die in Deutschland gelegentlich in Vorgärten stehen. In Ardkinglas sind sie so groß wie alte Apfelbäume.

Das Empire wuchs und machte sich Kolonien untertan, im 19. Jahrhundert wurden Pflanzenexpeditionen ausgesandt, bestehend aus Männern, die man „tree hunters“ nannte, Baumjäger. Sie sollten neues Material für die Parks und Gärten ausfindig machen. Herangeschafft wurde es auf Schiffen, für deren Planken zuvor Schottlands Wälder gerodet wurden.

Menschen am Loch Fyne haben es schwer

Das Ardkinglas-Herrenhaus (in der Mitte) thront malerisch am Ufer des Loch Fyne, umgeben vom prächtigen Woodland Garden.
Das Ardkinglas-Herrenhaus (in der Mitte) thront malerisch am Ufer des Loch Fyne, umgeben vom prächtigen Woodland Garden.

© imago/imagebroker/Handl

Sumsion verwahrt einen Brief zu Hause, geschrieben an die älteste Tochter seiner Ururgroßeltern im Jahr 1908. Ein Freund der Familie berichtete, dass er den Direktor des Botanischen Gartens der Harvard-Universität durch den Woodland Garden führte. Der habe befunden, eine große Weißtanne, die er hier erblickte, sei zweifellos der „mächtigste Nadelbaum Europas“, wenn nicht sogar der Baum mit dem dicksten Stamm auf europäischem Boden.

Es gibt ihn immer noch. 1750 wurde er gepflanzt, 48,50 Meter ist er hoch, 1051 Zentimeter Umfang hat der Stamm. Ein merkwürdig gewachsener Baum, der sich kurz über dem Boden in vier – ja, was? – Äste? – teilt. Vier Äste, von denen zwei im rechten Winkel zur Seite streben, um dann ebenso lotrecht wie die anderen beiden in die Höhe zu wachsen. Vier Äste, jeder so dick wie die mächtigsten Baumstämme ringsum. Möglicherweise ist die Weißtanne in ihrer Jugend von Hirschen angefressen worden.

Ein paar Meter von ihr entfernt steckt eine Plakette im Boden, das „Tree Council“ des Vereinigten Königreichs befand anlässlich des 50. Thronjubiläums der Königin, die „Weißtanne von Ardkinglas“ sei einer der 50 „Great British Trees“, in „Anerkennung ihres Rangs im Erbe der Nation“.

Man hofft auf mehr zahlende Besucher

In Sumsions Faltblatt ist zu lesen, „die Pflegestrategie für diesen Baum besteht darin, seinen schroffen Charakter und seine knorrige Erscheinung“ so lange wie möglich zu erhalten. Das Geld, das er dafür ausgibt, verdient Sumsion mit den zu Ardkinglas gehörenden Ländereien. Mit Schafweiden und mit der Pacht, den die Lachsfarm nebenan an ihn bezahlt. Der Gemeinde hat er Land vermacht, damit die darauf einen Kindergarten und Wohnhäuser baut. Einen Kindergarten und Häuser in einer Gegend, in der die „Secondary School“ 50 Kilometer entfernt ist. Sie hatte vor acht Jahren 1200 Schüler. Heute sind es 700. „Ein Unglück“, sagt Sumsion.

Bäume gedeihen am Loch Fyne, Menschen haben es schwerer. Auch eine der beiden Töchter Sumsions ist weggezogen, nach Glasgow. Aber die Bäume, das hofft er, könnten dabei helfen, Menschen anzulocken oder die Alteingesessenen hier zu halten. Seinen Gärtner zum Beispiel, wenn mehr zahlende Besucher kämen. 5000 sind es ungefähr übers Jahr. Oder die Bauarbeiter, die gerade den Heuboden über der einstigen Melkerei von Ardkinglas ausbauen. Touristen sollen dort bald übernachten. Sumsion veranstaltet Klassikkonzerte in seinem Herrenhaus, Yogagruppen mieten den großen Saal dort oft tagelang. In der riesigen Küche neben der Eingangshalle gibt es Kochkurse. Das Haus ist Mietkulisse für Spielfilme und Hochzeiten, an diesem Vormittag war ein künftiges Brautpaar zu Besuch, um es sich anzuschauen. Die beiden leben in Australien.

Vieles hat sich umgekehrt in Ardkinglas

Sumsion verwaltet etwas, das wirkt wie ein Imperium, in Wirklichkeit ist es ein Sammelsurium aus wackeligen Kleinstunternehmen. Die Baumschule hat er aufgeben müssen. Nach dem Brexit wird er keine EU-Subventionen mehr für seine Schafe bekommen. Das Gartencenter hat er noch.

Vieles hat sich umgekehrt in Ardkinglas. Früher lebte die ganze Gegend von den Herrenhausbewohnern und ihren Ländereien. Sie brachten Arbeit und Lohn. Heute ist Sumsion darauf angewiesen, dass sich überhaupt noch Leute in der Gegend blicken lassen. Früher war sein Woodland Garden ein Ort zur Freude einiger Reicher. Heute wandelt er sich zum Nutzen des ganzen Planeten. Er bewahrt dessen Gedächtnis, sein Erbgut.

15, 20 Bäume lässt Sumsion jedes Jahr in die Erde bringen. Acht Pflanzen spendete neulich der Royal Botanic Garden Edinburgh, eine Weißtanne war wieder dabei, dazu kamen Zedern, eine Faden-Scheinzypresse, eine Patagonische Eibe. Die Pflanzungen gehören zum internationalen Nadelbaum-Erhaltungsprogramm der Edinburgher. Von der gerade anwachsenden Koyama-Fichte, heimisch auf Japans Hauptinsel Honshu, gibt es dort nur noch weniger als 1000 Exemplare.

Sumsion, der Mann, der anderswo verschwindende Pflanzen in eine Landschaft setzen lässt, um deren Bewohner vom Weggehen abzuhalten, hat vor sechs Jahren einen Managementplan für den Woodland Garden machen lassen. Zu reparierende Holzbrücken sind darin aufgeführt. Ein neu anzulegender Pfad, ein Versteck zum Vogelbeobachten.

Die Pläne reichen bis ins Jahr 2038.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false