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© dpa

Männer und Frauen: Alles halb so wild

Bei Sadomasochismus denkt man an Fesseln, Peitschen, Schmerzen. Unsere Autorin, Bachmann-Preisträgerin, gründete einen SM-Verein – und widerspricht hier den zehn größten Vorurteilen.

Wenn mein Handy klingelt und eine unbekannte Rufnummer anzeigt, ist meist jemand dran, der „Ja, äh, ich ruf wegen der Anzeige an“ sagt. Die betreffende Anzeige erscheint in Berliner Stadtmagazinen (zum Beispiel in „Zitty“) und stammt vom Verein „BDSM Berlin“, den ich vor gut zehn Jahren mitgegründet habe. Wenn ich damals geahnt hätte, wie oft ich den Begriff „BDSM“ am Telefon würde erklären müssen, hätte ich allerdings auf einem anderen Namen bestanden. „BDSM“ ist eine im Internet und im englischsprachigen Raum gebräuchliche Abkürzung für „Bondage, Discipline, Domination, Submission, Sadomasochism“ – in anderen Worten also alles, was irgendwie mit Fesseln, Schmerzen, Unterwerfung zu tun hat.

Den Anrufern sage ich immer, dass alles, was sie wissen wollen, auf der Webseite von BDSM Berlin ausführlich erklärt ist. „Die Adresse steht gleich neben meiner Telefonnummer, Sie bräuchten nur einen Internetzugang, haben Sie den?“ – „Ja, klar, dann seh ich da mal nach, danke.“ Danach lege ich auf und schlafe wieder ein (aus irgendeinem noch zu erforschenden Grund interessieren sich die Menschen vor allem morgens für BDSM).

Vor zehn Jahren lautete die Standardantwort noch: „Internet, nee, so was hab ich nicht“, und ich musste am Telefon erklären, welche BDSM-Angebote, -Läden und -Clubs es in Berlin gibt (viele), ob man da einfach so hingehen kann (ja, kann man) und ob es dort sehr viele Singlefrauen gibt (nein, eher nicht). „Legen Sie sich doch einen Internetzugang zu“, pflegte ich flehentlich zu sagen, „damit wird wirklich alles viel einfacher!“

Heute stimmt dieser Ratschlag mehr als jemals zuvor.

„Alberne Idee, für so was einen Verein zu gründen“, denken Sie sich vermutlich schon seit dem ersten Absatz. Aber damals, im späten 20. Jahrhundert, war es wirklich noch schwer, brauchbare Informationen über BDSM zu finden, wenn man nicht genau wusste, wo man zu suchen hat. Diesem Missstand wollten wir abhelfen.

Heute ist das alles ein bisschen leichter, zum Beispiel dank Wikipedia. Und auch Zeitungen und Zeitschriften, die sich noch vor wenigen Jahren weigerten, Anzeigen mit BDSM-Inhalt abzudrucken, haben eingelenkt. Wenn die Kleinanzeigenredaktionen auf ihrem Standpunkt beharrt hätten, wäre das aber auch egal, schließlich hat sich die gesamte Partnersuche weitgehend ins Internet verlagert. Das ist im Rest der Welt nicht anders, im BDSM-Bereich ist die Verschiebung aber besonders ausgeprägt. Die größte auf BDSM spezialisierte Webseite im deutschsprachigen Raum ist derzeit im Heterobereich die Sklavenzentrale (sklavenzentrale.com) mit knapp 130 000 Nutzern.

Seit einigen Jahren kann man dabei beobachten, wie BDSM-Interessen nicht mehr nur in spezialisierten Foren geäußert werden, sondern auch bei regulären Kontaktbörsen und in sozialen Netzwerken als Standardoptionen auftauchen. Diverse BDSM-Ideen scheinen allmählich in den Mainstream einzufließen, so wie, sagen wir, Oral- und Analverkehr im Laufe des 20. Jahrhunderts von unaussprechlichen Randgruppenschweinereien zu normalen Bestandteilen des sexuellen Repertoires wurden.

Die AOK behauptete zwar noch im Juni 2009 auf ihrer Website: „Der Masochismus gehört nicht zum normalen Sexualtrieb, er ist krankhaft. Meist sind die Ursachen der Störungen in der Familiengeschichte der Betroffenen oder generell in psychisch traumatisierenden Erlebnissen zu suchen. (...) Prophylaxe: Eine Vorbeugung gegen Masochismus gibt es nicht.“ Darauf aufmerksam gemacht, versprach man aber „Prüfung und Überarbeitung in Kürze“.

Solche spätestens seit den 80er Jahren überholten Aussagen findet man auch in der Fachliteratur noch häufig, und ihre Verfasser können vermutlich gar nicht so viel dafür. Neuere Forschungsergebnisse sind rar, werden nur auf Englisch veröffentlicht und man stolpert auch als Mediziner oder Psychologe nicht unbedingt versehentlich über sie.

In einer der größten Studien der letzten Jahre wurden 20 000 Australier zu ihrem Sexualverhalten befragt, wobei sich herausstellte, dass sich etwa zwei Prozent aller Erwachsenen regelmäßig mit BDSM befassen. Bei den homo- und bisexuellen Teilnehmern der Umfrage lag die Rate etwas höher. Unterschiede zu den übrigen 98 Prozent ließen sich nicht feststellen; Männer, die BDSM praktizierten, erwiesen sich sogar als überdurchschnittlich glücklich.

Rechnet man die in dieser und anderen größeren Studien gefundenen Prozentsätze auf den deutschsprachigen Raum um, muss es hier mindestens zwei Millionen BDSM-Interessierte geben. Daraus lässt sich schließen, dass nicht nur Ärzte und Psychologen einen sehr kleinen und wenig repräsentativen Teil aller Sadomasochisten zu sehen bekommen und in der Folge Texte wie den auf der AOK-Webseite verfassen. Auch die öffentlich sichtbare Subkultur mit ihren Clubs, Online- Communitys und Vereinen vertritt nur einen winzigen Teil der eigentlich an BDSM Interessierten. Die überwiegende Mehrheit aller Sadomasochisten scheint ganz gut ohne uns zurechtzukommen, und wir können nur darüber spekulieren, wie diese unsichtbare Mehrheit tickt. (Ich bin allerdings ganz froh, dass die vermissten Millionen nicht alle bei mir anrufen und BDSM erklärt haben wollen.)

Ignorieren Sie also bitte nicht nur das, was Mediziner auf Basis von Einzelfällen aus ihrer Praxis über BDSM behaupten. Sie dürfen ruhig auch weghören, wenn Leute wie ich Ihnen predigen, öffentliches Bekennen zu seinen sexuellen Interessen und Beteiligung an der BDSM-Subkultur sei eine gute und wichtige Sache, irgendwer müsse schließlich für Aufklärung sorgen und protestieren, wenn die Politik sexuelle Freiheiten von Sadomasochisten mit der Begründung einschränken will, die seien schließlich alle Gewaltverbrecher oder würden früher oder später zu welchen.

Interessante Gefühle beim Betrachten von Bondagefotos verpflichten zu gar nichts – nicht zum Kauf teurer Fetischkleidung, nicht zum Besuch von Clubs, nicht zum Einhalten der „1000 Verhaltensmaßregeln für Sklaven“, und auch nicht zu einem Coming-out. Vorausgesetzt, Ihr Sexualleben macht Sie glücklich und Sie hegen keine heimlichen Sorgen, ein schmutziger Perversling zu sein, dürfen Sie meinetwegen genau so weitermachen wie bisher. Und alle anderen sollten sich klarmachen, dass die folgenden Punkte nur Vorurteile sind:

1. Sadomasochisten sind krank.

Nur wenn sie sich eine Grippe einfangen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich Sadomasochisten, außer in ihren sexuellen Vorlieben, von anderen Menschen unterscheiden.

2. Sadomasochisten genießen Schmerzen.

Viele Sadomasochisten können Schmerzen nichts abgewinnen. Ihre Spiele drehen sich um Macht, Unterwerfung und Demütigung. Und die, die Schmerzen tatsächlich schätzen, gehen deshalb noch lange nicht gern zum Zahnarzt.

3. Sadomasochismus ist Gewalt.

Der Unterschied zwischen Gewalt und Gewaltdarstellung ist Sadomasochisten klarer als vielen Filmkritikern. SM hat mit Gewalt ungefähr so viel zu tun wie „World of Warcraft“ mit dem Irakkrieg.

4. Es gibt Sadisten und Masochisten, und eines ist häufiger als das andere.

Je nach untersuchter Subkultur wird mal die eine, mal die andere Rolle als die beliebtere beschrieben. Ein großer Teil der Sadomasochisten fühlt sich auf beiden Seiten wohl.

5. Die Ursache liegt in ...?

Über die Ursachen sadomasochistischer Interessen hat man bisher nicht sehr viel herausgefunden. Man kann aber wohl mit Sicherheit sagen, dass es die eine, alles erklärende Ursache nicht gibt. Zum einen fallen die individuellen Ausprägungen ganz unterschiedlich aus, zum anderen können auch äußerlich ähnliche Verhaltensweisen ganz verschiedene Hintergründe haben. Die Biografien und Erfahrungen von Sadomasochisten weisen jedenfalls keine Elemente auf, die allen gemeinsam wären.

6. Sadomasochisten finden nur sehr schwer einen Partner.

Sadomasochisten, die ihre Interessen geheim halten und mit niemandem darüber sprechen, haben es hier in der Tat ein wenig schwerer als andere. Aber hey, das ist nichts, was man nicht durch blendendes Aussehen und Reichtum ausgleichen könnte.

7. Es gibt wenige Sadomasochistinnen. Frauen spielen meist nur wegen des Geldes oder dem Freund zuliebe mit.

Der Frauenanteil bei heterosexuellen SM-Veranstaltungen liegt bei etwa einem Drittel. Wer sich im eigenen alltäglichen Umfeld umsieht, wird feststellen, dass das den Verhältnissen bei den meisten sozialen Anlässen entspricht.

8. Sadomasochismus wird von abgestumpften Leuten praktiziert, die alles andere schon ausprobiert haben.

Die meisten Sadomasochisten wissen sehr früh, oft schon vor der Pubertät, ziemlich genau, was sie wollen. Der übersättigte alte Lustmolch, der mit SM-Praktiken seine Impotenz zu beheben versucht, ist eine Legende.

9. Sadomasochismus ist ein Ausgleich zu den Anforderungen des Alltags: Erfolgreiche Manager lassen sich nach Feierabend von der Domina erniedrigen und frustrierte kleine Männer geben zu Hause vor der Ehefrau den großen Meister.

Sadomasochistische Praktiken können diese angenehme Funktion haben, müssen es aber keineswegs. Dominantes Auftreten im Alltag weist weder darauf hin, dass der oder die Betreffende auch im Bett dominant ist, noch kann man das Gegenteil daraus ablesen. Man sieht den meisten Leuten einfach nicht an, welche Seite sie bevorzugen.

10. Im Laufe der Zeit werden die Praktiken immer extremer.

SM-Fantasien neigen wie alle sexuell stimulierenden Vorstellungen zu Abnutzungserscheinungen und werden dann ausgebaut. Das heißt, dass man in der Praxis hin und wieder neue Spielweisen entdeckt, die Spaß machen. Es heißt nicht, dass man nach ein paar Jahren 20 Latexanzüge übereinander trägt.

Und zum Schluss: Falls Sie mal unverbindlich gucken wollen, was Minderheiten so treiben – vom 24. bis 26. Juli findet im Wedding zum sechsten Mal die „xplore“ statt, ein Festival mit über 40 Workshops zu „Kunst, BDSM und kreativer Sexualität“. Wer sich von der speziell für Masochisten gestalteten Webseite (www.xplore-berlin.de) nicht abschrecken lässt, kann sich dort über Fußfolter, Kampfbondage oder Polyamorie fortbilden. Lebenslanges Lernen bringt nämlich auch im Bett Vorteile mit sich. Und falls Sie zu den Themen dieses Artikels noch Fragen haben, rufen Sie mich ruhig vormittags unter 0179 591 29 95 an und reißen mich erbarmungslos aus dem Schlaf. Ich mag das.

Kathrin Passig, 39, lebt als Schriftstellerin in Berlin. 2006 gewann sie den renommierten Bachmannpreis, der am heutigen Sonntag wieder verliehen wird. Ihr Buch „Die Wahl der Qual. Handbuch für Sadomasochisten und solche, die es werden wollen“ wurde vor kurzem neu aufgelegt (Ko-Autorin: Ira Strübel, Rowohlt, 319 Seiten, 9,95 Euro).

Kathrin Passig

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