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Zu wenig Schutz. In Deutschland sind Kinder vielfach Opfer von Gewalt in jeder Form.

© dpa

Kriminalstatistik: Kinder – getötet, missbraucht, geschlagen

Die Kriminalstatistik 2017 zu jungen Menschen als Gewaltopfer liegt vor. Es ist eine grauenvolle Bilanz. Ermittlern steht oft der Datenschutz im Weg.

Mai 2018. Die Polizei nimmt einen Mann fest, der zwei Kinder, sieben und zehn Jahre alt, missbraucht hat. In seiner Wohnung finden die Beamten 3800 kinderpornographische Dateien. Der Täter fühlte sich im Darknet sicher, die Polizei kam ihm trotzdem auf die Spur, sie fahndete öffentlich. Mit Erfolg.

August 2017. Die Polizei nimmt einen Mann fest, der an seinem PC live sexuellen Kindesmissbrauch verfolgte. Eine Webcam übertrug die Qualen des Kindes, der Täter war über Mikrofon mit dem Täter verbunden, er konnte regelrechte Regieanweisungen über die weitere Tortur des Opfers geben.

Riesiges Dunkelfeld

Zwei Erfolge der deutschen Polizei im Kampf gegen sexuellen Missbrauch. Zwei Tropfen auf den heißen Stein, mehr nicht. Kinder als Opfer, von Gewalt in jeder Form, ein schrecklich umfangreiches Thema. Viele Taten werden nie bekannt, das Dunkelfeld ist riesig.

Das Hellfeld, das Gebiet, für das es offizielle Zahlen gibt, ist schon schrecklich genug. Die grauenhafte Bilanz von 2017: 13.539 Mal sind Kinder unter 14 Jahren in Deutschland sexuell missbraucht worden. 143 Kinder wurden getötet, davon 64 vorsätzlich. 4247 Kinder unter 14 Jahren wurden schwer körperlich misshandelt. Im Klartext: ausgeschlagene Zähne, gebrochene Knochen, um solche Verletzungen geht es. 1830 dieser Opfer waren jünger als sechs Jahre alt. 55.000 Mal wurden Kinder mindestens einmal geschlagen.

Jugendämtern fehlt Personal

Das sind Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik 2017, es sind Zahlen, die vier Männer am Montag sichtlich betroffen vorstellten und analysierten. „Die Täter beim sexuellen Missbrauch sind meist Menschen aus dem sozialen Umfeld der Opfer, sie verstehen es, das Vertrauensverhältnis auszunützen“, sagte Holger Münch, der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA).

Kinderschutz, sagte Rainer Becker, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, „kann nicht funktionieren, wenn man spart“. Bei Jugendämtern beispielsweise fehle Personal. Und Johannes-Wilhelm Rörig, der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, verlangt „dass Datenschutz nicht über Kinderschutz stehen“ dürfe. Darüber fordert er dringend „ eine gesellschaftliche Debatte“. Jörg Fegert, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ulm, betrachtet „den täglichen Missbrauch als eigentlichen Skandal“. Das Dunkelfeld, in dem Missbrauch nicht bekannt werde, sei unendlich größer als das Hellfeld.

Eingeschränkte Möglichkeiten

Da vieles nicht bekannt wird, ist es letztlich auch nicht beruhigend, dass die Zahl der Fälle sexuellen Missbrauchs im Vergleich zu 2016 um 3,64 Prozent zurückgegangen ist. Außerdem ist, im Gegenzug, die Zahl der getöteten Kinder um 7,5 Prozent gegenüber 2016 gestiegen. Bei den Fällen von schwerer körperlicher Gewalt haben sich kaum Verschiebungen zum Vorjahr ergeben.

BKA-Chef Münch hat noch andere Zahlen, und ein Teil von ihnen sorgt dafür, „dass es für mich schwer erträglich ist, dass wir keine Vorratsdatenspeicherung haben“. Denn dadurch könne die Polizei vielen Spuren nach Tätern, die Kinder sexuell missbrauchen, nicht nachgehen.

An entsprechenden Hinweisen zu diesen Tätern fehlt es nicht. Die deutsche Polizei arbeitet eng mit Behörden in den USA zusammen, wo die Fahndung nach Tätern von sexuellem Missbrauch viel intensiver geführt werden kann als in Deutschland. 35.000 Hinweise aus den USA „mit Deutschlandbezug“ habe die deutsche Polizei 2017 erhalten, sagte Münch. Aber bei 8400 Hinweisen „musste die Arbeit eingestellt werden“. Die entsprechende IP-Adresse ließ sich aufgrund der Gesetzeslage nicht ermitteln. Genau deshalb fordert der Missbrauchs-Beauftragte Rörig eine Debatte über den Datenschutz. Zudem stößt die Polizei an ihre Grenzen, weil sie immer mehr Datenvolumen auswerten muss.

Gesellschaft in der Pflicht

Alles eine Frage des Personals also. Bei der Polizei fehlen Fachleute, bei der Justiz, bei den Jugendämtern, überall. Dabei hätten gerade die Jugendämter eine enorm große Bedeutung, sagt Kinderhilfe-Chef Becker. Denn gerade die müssten Gefahren frühzeitig erkennen. Denn in 35 Prozent der Fälle von getöteten Kinder spielte die Trennung von Vater und Mutter eine Rolle. Und in fast einem Drittel aller Fälle habe der Täter oder die Täterin psychische Probleme gehabt. Doch die Jugendämter seien systematisch „klein gespart worden“.

Auch Rörig fordert mehr Personal, aber er sieht genauso Schulen, Sportvereine und Kirchen in der Pflicht, sich gegen den Missbrauch von Kindern zu engagieren. Zudem will er die IT-Industrie in die Verantwortung nehmen. Die müsse mit ihrem technischen Wissen stärker als bisher gegen Missbrauch vorgehen. Das Internet, da sind sich alle Beteiligten einig, spiele beim Missbrauch inzwischen eine zentrale Rolle.

„Wir werden den Missbrauch niemals komplett verhindern können“, sagt Rörig, „aber wir können sein Ausmaß zumindest einschränken.“

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