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Den Krebszellen konnten die gestreckten Medikamente des Apothekers nichts anhaben.

© FOTOLIA

Krebsmittel-Skandal: Gepanschte Medikamente aus der Apotheke

Ein Apotheker aus Bottrop streckt Krebsmedikamente und verdient damit Millionen. Jetzt wird einer der größten Arzneimittelskandale der Bundesrepublik vor Gericht verhandelt.

Bettina Neitzel* kennt sich aus mit Krebs. Sie ist Ärztin. Und sie hatte die Krankheit vor neun Jahren im eigenen Körper besiegt. Doch im Juli 2016 kehrte ihr Krebs zurück. Zuversichtlich unterzog sie sich erneut der Chemo. Aber die Tumormarker fielen diesmal nicht. Sie stiegen. Die üblichen belastenden Nebenwirkungen? Auch Fehlanzeige. Sie verstand das nicht. Zu einer Freundin sagte sie: „Ich glaube, ich kriege nur Wasser.“

Die Vermutungen von Bettina Neitzel waren wohl richtig. Vielleicht war es nicht Wasser, aber eine ähnlich wirkungslose Kochsalzlösung, die man ihr verabreicht hat. Die Medizinerin ist eines der mutmaßlichen Opfer von Peter S.. Der Apotheker aus Bottrop hat in ihrem wie in vielen tausend anderen Fällen gepanschte Infusionslösungen geliefert. Ab dem 13. November muss er sich vor der Wirtschaftsstrafkammer des Essener Landgerichts verantworten. Die Richter werden einen der größten deutschen Arzneimittel-Skandale der vergangenen Jahrzehnte verhandeln.

56 Millionen Euro ergaunert

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Pharmazeut seit 2012 rund 60.000 weitgehend wirkungslose, weil unterdosierte Chemotherapien für insgesamt 4661 Patienten in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Sachsen, Rheinland-Pfalz und im Saarland zubereitet und über die behandelnden Ärzte ausgeliefert hat.

Sein kriminelles Rezept war laut Anklage sehr einfach. S., der wie über 200 andere der insgesamt 30.000 Apotheker in Deutschland die spezielle Zulassung zur Herstellung von Zytostatika hatte, kaufte im pharmazeutischen Großhandel nur einen Bruchteil der eigentlich erforderlichen, teuren Grundsubstanzen ein und streckte den Rest. Gegenüber den Krankenkassen rechnete er aber den um ein Mehrfaches höheren, vollen Betrag ab. Die Anklage geht von 56 Millionen Euro aus, die er auf diese Weise aufs eigene Konto schaffte.

Doch der wirtschaftliche Schaden ist nur ein Teil des Skandals. Die menschliche Tragödie ist viel größer. Dass die Kammer beweisen kann, welche Patienten ohne die erhoffte Heilung blieben oder sogar gestorben sind, ist schon medizinisch unwahrscheinlich. Von einer Verurteilung wegen eines Tötungsdelikts ist kaum auszugehen. Selbst eine Körperverletzung ist schwer zu belegen. „Mörder“ haben aber die Opfer und die Angehörigen Verstorbener gerufen, die sich in letzter Zeit mehrfach zur Demonstration vor seiner „Alten Apotheke“ in der in der Bottroper Innenstadt versammelten.

Angesehener Bürger

Wer ist dieser Peter S.? Der 43-Jährige, der am Bottroper Stadtrand allein in einer Villa wohnte, war nicht nur ein populärer Mitbürger und ein gern gesehener Gast im Rathaus. Er war gut vernetzt in der der 100000-Einwohner-Stadt. Man spielte gemeinsam Golf. Er schenkte nicht nur dem Oberbürgermeister ein Kunstwerk für das Amtszimmer. Er war auch Wohltäter, der für ein Hospiz für Krebspatienten sammelte und selbst spendete. Vor allem: Er war Investor. Dank seines Engagements erhielt die Kommune, die unter dem nahen Ende des Kohlebergbaus leidet, ein preisgünstiges öffentliches WlanNetz und eine „Medi-City“ in der Fußgängerzone, ein Ärztezentrum verschiedener Fachärzte.

So haben über die Jahre nur wenige seiner 90 Mitarbeiter Verdacht geschöpft, wenn er früh morgens oder spät abends ins Zytolabor ging, gelegentlich ohne Schutzkleidung oder auch mit seinem Hund, einem Golden Retriever. Und die wenigen, denen das auffiel, hielten den Mund. „Der Chef geht spielen“, hieß es. Gerüchte gab es. Zwei der Beschäftigten, der kaufmännische Leiter Martin Porwoll und die Mitarbeiterin Marie Klein, nahmen die Spuren in eigener Regie – und auf eigene Gefahr – aus.

Ohne Wirksubstanzen

Porwoll fand in der betriebseigenen Datei die auffallenden Differenzen zwischen der Menge der eingekauften Wirkstoffe und der Höhe der Abrechnung mit den Krankenkassen. Klein fielen nicht nur die „krassen Hygiene-Mängel“ auf, sondern sie prüfte auch zur Auslieferung vorgesehene Therapie-Beutel. Ergebnis: Manche gingen gänzlich ohne Wirksubstanzen an Krebskranke. Das Whistleblower-Duo erstattete Anzeige. Am frühen Morgen des 29. November 2016 durchsuchten die Ermittler die Villa, die Apotheke und das Zytolabor von S.. Den Apotheker nahmen sie fest. Er sitzt seither in Untersuchungshaft und schweigt.

Bei welchen der 4661 Krebspatienten Peter S. zu wenig heilende Substanz beigemischt hat und wo die Mengen ausreichend waren, ist völlig offen. Zu seinem Motiv ist nichts bekannt. War es nur Raffgier oder verfolgte er einen Plan?

Den noch lebenden Opfern oder den trauernden Angehörigen Verstorbener bleiben bis heute viele Zweifel und Rätsel. Auch bei Annelie Scholz ist das so. „Mama, ich krieg doch auch meine Medikamente von dem“, hatte Nicole Abresche-Drenski ihrer Mutter gesagt, als sie im Radio von der Festnahme hörte. Sie litt an Brustkrebs. Metastasen griffen ihr Knochengerüst an. Sie weinte. Drei Wochen später war sie tot. Ihre acht Jahre alte Tochter wird als Halbwaise bei ihrer Großmutter aufwachsen.

*Name von der Redaktion geändert

Der Autor ist Journalist des Recherchezentrums Correctiv. Die Redaktion, mit der unsere Zeitung kooperiert, finanziert sich über Spenden und Mitgliedsbeiträge.

Von Dietmar Seher

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