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Liebe in Zeiten der .... ach was, Liebe ist und war schon immer etwas Kompliziertes.

© dpa

Hat die Liebe noch eine Chance? - Pro: Die Zweifel lassen sich ausräumen

Liebe kann furchtbar anstrengend sein. Sie lässt sich nicht definieren und normieren. Viele scheitern an ihr. Aber: Sie ist es wert. Und ihre Chancen sind größer denn je.

Hat die Liebe noch eine Chance? Zwei Tagesspiegel-Autoren kommen zu verschiedenen Schlüssen. Den Anfang macht Claudia Keller. Die Antwort von "Liebespessimist" Werner van Bebber finden Sie hier.

Kaum eine Liebesgeschichte der Weltliteratur ist so ergreifend wie die von Philemon und Baucis. Der römische Dichter Ovid erzählt sie in den „Metamorphosen“. Philemon und Baucis sind in einer ärmlichen Hütte zusammen alt geworden, als sie auf einmal Besuch von zwei fremden Männern bekommen. Anders als ihre Nachbarn bitten Philemon und Baucis die Männer herein und bewirten sie mit dem wenigen, das sie haben. Da stellt sich heraus, dass die Gäste Götter sind. Sie wollen sich für die Gastfreundschaft bedanken und fragen, was sich das alte Paar wünscht. Niemals getrennt werden, sagen sie, auch nicht durch den Tod. Die Götter erfüllen ihnen den Wunsch und verwandeln die beiden gleichzeitig in zwei Bäume.

Mythen, Sagen und Romane erzählen seit Jahrtausenden von Männern und Frauen, deren Liebe zueinander so stark ist, dass sie Armut, Kriege, Pest und Cholera übersteht. Auch in der Wirklichkeit hat es solche Paare immer wieder gegeben, zu allen Zeiten, in allen Gesellschaften. Ihre Liebe ließ sich durch keine Macht brechen, nicht durch soziale Schranken, nicht durch Folterknechte, auch nicht durch KZ-Wächter. Keine Frage: Es gibt die große Liebe.

Im Dreißigjährigen Krieg oder in Auschwitz, das waren außergewöhnliche Zeiten mit extremen Gefühlen, wenden die Liebespessimisten ein. Oder sie sagen, die Liebe hatte früher Bestand, weil es klare Rollenmuster gab und den festen Glauben an den Familienpatriarchen. Heute aber sei das alles nicht mehr möglich, weil sich die Welt verändert hat. Weil es die große Freiheit gibt, weil keiner mehr vorschreibt, wie man zu lieben hat, weil Verbindlichkeit nichts mehr zählt, weil es den Kapitalismus gibt und die Leistungsgesellschaft. Die Einwände sind nicht verkehrt. Und doch sind sie zu klein, um die Liebe oder ihr Scheitern zu erklären.

Beziehungen sind heute nicht glücklicher oder unglücklicher als vor 80 Jahren. Ob sie scheitern oder Bestand haben, ob die Liebe geht oder bleibt, ist keine Frage von Demokratie oder Monarchie, hängt nicht von Individualisierung oder Clan-Denken ab, von Emanzipation oder wer die Windeln wechselt. Unser Leben ist auch nicht anstrengender als das der Großeltern oder der Vorfahren, die gegen Napoleon gekämpft haben. Die Bedürfnisse sind gleich geblieben, auch wenn wir sie vielleicht heute anders nennen. Menschen sehnen sich nach Wertschätzung, nach Geborgenheit und Zärtlichkeit. Sie suchen Leidenschaft und Sex und finden sich schwer ab mit der tristen Wirklichkeit. Die Sehnsucht ist groß, Erfahrungen zu machen, die den grauen Alltag übersteigen. Diese Sehnsucht ist urmenschlich. Sie ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Nur der Mensch kann hinter der Wirklichkeit die Möglichkeit erkennen. Das, was nicht ist, aber werden könnte. Diese Sehnsucht ist der Antrieb, die Welt zu verändern und sich nicht entmutigen zu lassen. Sich auf die Suche nach der Liebe zu machen – auch wenn man riskiert, dabei zu scheitern.

Tausend Bestseller - und immer die gleichen Fragen.

Die Umstände, unter denen wir leben, sind anders, klar. Geändert hat sich vor allem, wie wir mit Gefühlen und Erfahrungen umgehen, die die Vernunft übersteigen. Wir definieren und normieren sie, wir vermessen sie soziologisch, psychologisch, neurobiologisch. Es gibt tausende Studien und Untersuchungen und jedes Jahr einen Bestseller zum Thema Liebe. Wir wissen genau, wie sich Liebe anfühlen muss, wenn sie „echt“ ist. Wir fragen uns ständig: Bin ich noch verliebt? Fühlt es sich noch so an wie gestern? Wenn nicht, zu welchem Therapeuten gehe ich? Die Idee der romantischen Liebe ist längst zur Ideologie geworden. Sie verspricht tolle Gefühle und Glück bis ans Ende der Tage, lässt sich aber schwer vereinbaren mit realen Menschen, die auch mal schlechte Laune haben.

Wir haben die Liebe in die Enge getrieben. Wir haben sie kleingehäckselt mit technokratisch-rationalistischem Denken und vergraben unter Ideologie und emsiger Geschäftigkeit. Jetzt wundern wir uns, dass wir sie nicht mehr finden.

Wir müssen die Liebe wieder groß machen und befreien von zu vielen Zuschreibungen. Wir sollten ihr den Horizont öffnen und ihr zugestehen, dass es zwischen Himmel und Erde Dinge gibt, die wir nicht begreifen. Lassen wir der Liebe ihre Geheimnisse! Wir sollten wieder mehr unseren Gefühlen vertrauen als den Statistiken. Und auch das, was wir gemeinhin unter Rationalität verstehen, ist nur die halbe Wahrheit. Vernunft ist mehr als die Ergebnisse von Untersuchungsreihen, Wirklichkeit mehr als biologische und soziologische Erkenntnisse. Liebe ist nicht starr, sie lässt sich nicht definieren und normieren. Gerade deshalb sind ihre Chancen heute sogar größer als je zuvor.

Denn jeder hat andere Prägungen. Jeder liebt auch anders. Der eine braucht mehr Nähe, der andere mehr Distanz. Für die einen ist die Kommunikation über elektronische Medien erotischer Kick, andere verstehen sich nur, wenn sie sich im Arm halten. Die einen wollen Kinder, andere einen Hund. Das macht das Leben manchmal schwierig, ermöglicht aber auch eine unendliche Vielzahl von Wegen. Der Vorteil heute: Wir können sie ausprobieren. Keiner muss mehr seine Beziehung so führen wie die Eltern oder die Nachbarn. Rollenmuster sind nicht mehr ganz so festgezurrt. Allerdings braucht es Zeit, um herauszufinden, was man selbst gerne möchte und was der andere und wie das zusammengehen könnte. Viele geben auf, weil sich die Liebe nicht so anfühlt wie im Roman oder im Film und ahnen gar nicht, was sie verpassen. Das ist schade.

Was tun, wenn der erste Rausch der Verliebtheit abgeklungen ist?

Der Philosoph Wilhelm Schmid spricht von der „atmenden Liebe“: Sie würgt die Sehnsucht nach dem, was sein könnte, nicht ab, sondern lässt sich von ihr inspirieren, um die Wirklichkeit zu verändern. Er wirbt dafür, nicht im Entweder-Oder-Denken zu verharren, entweder Liebe oder Vernunft, Romantik oder Pragmatik, Verbindlichkeit oder Veränderung, Nähe oder Distanz, sondern zu verbinden, was sich scheinbar ausschließt. Das wäre ein dritter Weg in der Liebe: pragmatisch-romantisch. „Atmen kann die Liebe, die einerseits der nüchternen Pragmatik Raum gibt, andererseits aber die gefühlvolle Romantik nicht preisgibt, denn die bloße Nüchternheit wird niemanden wärmen. Die Liebe erstickt auch, wenn sie nie Liebe sein darf“, schreibt Schmid. Auflösen lässt sich die Kluft zwischen den romantischen Träumen und der ernüchternden Wirklichkeit sowieso nicht. Der Rausch des Verliebtseins hört irgendwann auf und lässt sich weder durch Distanz noch durch Rückzug in die Zweisamkeit konservieren.

Warum also nicht versuchen, die Romantik zu retten, nicht durch die Abwehr, sondern „durch die Aufnahme pragmatischer Elemente, um mit Ärger, Alltag, Verrat, Streit, Liebesentzug und anderen Herausforderungen besser zurechtzukommen“, wie Schmid vorschlägt? Warum nicht versuchen, Widersprüche einfach mal stehen zu lassen? Das befreit die Liebenden von dem Druck, sich ständig zwischen diesem oder jenem Beziehungsmodell zu entscheiden. Es muss auch nicht immer alles erklärt und gerechtfertigt werden. Man kann etwas lieben, auch wenn man es nicht versteht. Und umgekehrt, kann man in etwas vernarrt sein, auch wenn es leicht rational zu entzaubern ist.

Liebe ist nichts Statisches. Es ist nicht möglich, Gefühle, Haltungen, Sehnsüchte ein für alle Mal festzuzurren. Menschen entwickeln und verändern sich – durch den Beruf, durch Kinder, durch andere Freundschaften oder Schicksalsschläge. Das bringt Bewegung in die Beziehungen und schafft Möglichkeiten, sich und den anderen neu kennenzulernen – vorausgesetzt, beide sprechen ehrlich und offen miteinander und vertrauen darauf, dass es der andere gut mit einem meint. Wo Menschen aufeinanderprallen, gibt es auch Verletzungen, klar. Aber auch das muss nicht das Ende der Liebe sein. Im Gegenteil. Streit und Verletzungen sind wichtig, um neu zu fragen: Wo stehen wir? Was will ich? Was der andere? Es ist auch ein Weg, um immer wieder neu Nähe und Distanz auszubalancieren. Manchmal allerdings hilft nur Abstand und ein neuer Anfang.

Liebe kann furchtbar anstrengend sein und viele scheitern. Doch sie ist die schönste Erfahrung, die Menschen machen können. Sie ist es wert, dass wir ihr eine Chance geben und uns anstrengen, so sehr wir können. Und immer wieder den Mut aufbringen, Wunder zuzulassen, auch die kleinen.

Die Antwort von "Liebespessimist" Werner van Bebber finden Sie hier.

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