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Das Hühnchen mit Sojasoße von Chan Hong Meng wurde mit einem Michelin-Stern prämiert.

© Edgar Su/ REUTERS

Straßenküche: Hier gibt es das günstigste Michelin-Stern-Essen weltweit

Zum ersten Mal hat der elitäre Michelin-Führer Straßenküchen ausgezeichnet – in Singapur. Das günstigste Sterneessen der Welt hat nur einen Nachteil.

Glück gehabt. In der Schlange vor dem Imbiss Hill Street Tai Hwa Pork Noodles stehen an diesem Vormittag nur 15 Menschen an. Höchstens 60 Minuten Wartezeit. Läppisch angesichts der eingeplanten drei Stunden. Draußen schiebt sich schwüle Luft durch Singapur, im offenen Erdgeschossmarkt hantieren drei Köche mit Töpfen, Sieben und Pfannen. Ein Ventilator verteilt großzügig den Geruch von Schweinefett.

Eine Stunde Zeit, um auf die Plastiktische zu starren, gesponsert von den Gaswerken der Stadt. Oder die eimergroßen PVC-Hocker, die Neonröhren an der Decke, die Pappkartons an der Wand. Das ist, man mag es kaum glauben, der Gastraum eines Michelin-Stern-Restaurants.

Zum ersten Mal seit seinem Bestehen hat der renommierte französische Restaurantführer 2016 zwei Streetfood-Imbisse ausgezeichnet. „Die Fähigkeit, aus einfachen Dingen außergewöhnliche Produkte zu kreieren, ist eine Kunst“, begründete Michael Ellis, der internationale Direktor des Michelin, die Entscheidung.

Auf einer Gala in der Resorts World der künstlichen Insel Sentosa, wo sonst Unterhaltungssüchtige im Filmpark Ablenkung suchen, wurden die Stände mit jeweils einem Stern bedacht. Beide Imbisse befinden sich in Singapur, beide kochen chinesisch, kosten ein Zehntel der sonst üblichen Sterneküche und legen keinen Wert auf aparte Einrichtung: Weder Zedernholz noch Kunstdrucke lenken vom Essen ab. Der Umgang der beiden mit der Auszeichnung könnte jedoch nicht unterschiedlicher sein.

Herr Tang hat keine Zeit für neugierige Reporter

Tang Chay Seng kocht seit mehr als drei Jahrzehnten seine Bandnudeln mit Schweinefleisch. Früher an der namensgebenden Hill Street, seit Ende der 80er Jahre im Lavender Court, einem weißgestrichenen Wohnkomplex aus den 70er Jahren. Den alten Namen hat er behalten, damit die Kunden ihn finden. In einer Schüssel serviert Mister Tang zart geklopfte Leber, gefüllte Teigtaschen und Hackfleischbällchen – alles vom Schwein – mit den Nudeln. Dazu gibt es eine Chilisauce nach eigenem Rezept, leichte und sämigschwere Sojasaucen, Frühlingszwiebeln, Reisessig, etwas braunen Zucker, und fertig ist die Schale für zehn Singapur-Dollar (etwa 6,50 Euro).

Angeblich hat der Meister sein Geschäft vom Vater übernommen, der es in den 1940er Jahren nahe der Polizeistation an der Hill Street gründete. Fragen würde man Tang Chay Seng gern, doch er redet nicht mit Journalisten. Es heißt, er habe in den Tagen nach der Preisverleihung Reporter lautstark verjagt. Michelin-Stern schön und gut, aber die Pork Noodles machen sich nicht von allein.

Da, Herr Tang kommt gerade aus der Küche heraus. Mit seinem dünnen weißen Bart, der Halbglatze und dem gütigen Gesicht erinnert der Mann an den Kampfsportlehrer aus „Karate Kid“. In der Hand trägt er eine Plastiktüte mit Getränkedosen. Er winkt ab. „No time, no time“, sagt er. Als müsse er ganz dringend zur Leergutannahmestelle – und weg ist er.

Blitzschnell agieren auch seine Köche. Einer kippt aus einem Zwei-Liter-Kanister Sojasauce in kleine Schüsseln. Ein anderer jongliert in atemberaubender Geschwindigkeit mit Nudeln, Fleischbällchen und Wantans. Ab ins siedende Wasser, dort eine Portion rausgefischt, in ein Sieb zum Abtrocknen gehängt, die nächste rein, ein Chaos auf drei Quadratmetern, aus dem am Ende Ordnung entsteht: die gefüllte Schüssel. Warum es trotzdem so lange dauert, erklärt die Anzahl der Portionen, die manche Hausfrau bestellt. Zehn Plastikschüsseln Take-Away, das reicht hoffentlich länger als nur für ein Mittagessen.

2,50 Dollar der Teller, das günstigste Michelin-Stern-Essen weltweit

Noch günstiger kann man Michelin-Gerichte auf der anderen Seite des Zentrums essen. Eine knappe halbe Stunde mit dem Taxi entfernt, vorbei an der Arab Street und Little India, wo Kümmel und Kardamom die Nase reizen, einmal quer durch das Zentrum mit den stolzen Glastürmen der Banken, bis man in Chinatown landet. Menschen schieben sich lustvoll durch enge Straßen, reden laut, auf dem Hauptplatz spielen alte Männer Majong, und Rucksacktouristen aus Europa schauen zu.

Wie im Lavender Court gibt es auch hier ein Hawker Center, einen überdachten Streetfood-Markt. Diese Stände wurden in den 50er und 60er Jahren eingerichtet, um das Essen von der Straße weg zu holen, an einem hygienischeren Ort zuzubereiten – und um deren Qualität stärker kontrollieren zu können. Zunächst trafen sich in den Centern die ärmeren Menschen des Landes, heute ist Singapur reich, und es ist für Einheimische wie Touristen schick geworden, eines der Hawker Center zu besuchen. An den Ständen bewahren oftmals alte Frauen und Männer das kulinarische Erbe des Vielvölkerstaates. Deshalb wollte der Michelin-Guide diese einzigartigen Einrichtungen mit den malaiischen, indischen und chinesischen Gerichten würdigen.

So wie das Center im Chinatown Complex. In der zweiten Etage reihen sich dutzende Streetfood-Verkäufer dicht an dicht, einer von ihnen ist Chan Hong Meng, der Chicken Rice mit Sojasauce kocht. 2,50 Dollar der Teller, das günstigste Michelin-Stern-Essen weltweit, das ist Schnäppchenjagd mit dem Gourmetsiegel. High Class für Low Cost.

Die Schlange für Hong Kong Soya Chicken Rice and Noodles ist lang

Sternenfänger. Die Pork Noodles von Tang Chay Seng.
Sternenfänger. Die Pork Noodles von Tang Chay Seng.

© Ulf Lippitz

Bei Hawker Chan, wie ihn alle nennen, wird aus Fast ebenfalls Slow Food. Seine Miniküche trägt die Ordnungsnummer 02-132, vier Quadratmeter Spezialistentum, denn wie jeder hier oben kocht Chan Hong Meng nur ein Gericht. Die Schlange für Hong Kong Soya Chicken Rice and Noodles ist länger als bei den Bandnudeln von Tang, es gibt eine Kordel, die Touristen und Einheimische lotst, entlang der frisch gepressten Säfte und Hainan-Hühnchen nebenan. 60 Menschen hoffen auf ihr Glück, in zwei oder drei Stunden an der Reihe zu sein.

Doch an diesem Vormittag ist etwas anders. Hawker Chan kocht nicht in der zweiten Etage. Er sitzt in seinem neu eröffneten Restaurant neben dem Complex, wo Klimaanlage und Angestellte in frisch gewaschenen Uniformen die Gäste besänftigen und das Essen einen Dollar teurer ist. Der Meister reibt sich mit den Handflächen über das Gesicht, um wach zu werden.

Es ist ein Uhr mittags, draußen ist der Himmel bleigrau, und Herr Chan weiß nicht, ob er schlafen soll oder nicht. Gerade ist er aus New York zurückgekommen, das erste Mal so eine weite Reise, in Manhattan hat er mit einem amerikanischen Sternekoch für ein zahlendes Publikum gekocht, gestern ist er in ein Flugzeug gestiegen, zwölfeinhalb Stunden bis Dubai, dann noch einmal sieben bis Singapur. 13 Stunden Zeitunterschied, während in Chinatown ununterbrochen Hühnchen kleingehackt werden.

Hawker Chan will aus seinem Namen eine Marke machen

Chan trägt ein burgunderfarbenes Shirt, schwarze Hosen und einen militärischen Bürstenhaarschnitt. Seine Ohren stehen etwas ab, Venen zeichnen sich auf den Unterarmen ab, er hat Schwielen an den Händen. Er sagt, dass er nach wie vor jeden Morgen um fünf Uhr aufsteht, nach 20 Minuten Fußweg von seiner Wohnung das frische Fleisch am Stand in Empfang nimmt, die Hühnchen aus Malaysia oder Indonesien säubert, zerlegt, die Sauce mit dem Geheimrezept anrührt und um zehn Uhr den Rollladen krachend öffnet.

Im Gegensatz zu seinem Konkurrenten redet er mit der Presse. Respektive lässt dolmetschen. Hawker Chan spricht nur Chinesisch, in einer Stadt mit mehr als zwei Dritteln Chinesischstämmigen keine Seltenheit. Eine junge Frau übersetzt. Sie arbeitet für eine Firma, die Brand Management anbietet, also die Wissenschaft, aus seinem Namen eine Marke zu machen. Interviews, Kochreisen, Fastfood-Restaurants, Hawker Chan nutzt die Gunst des Sterns.

Warum auch nicht? Der 52-Jährige hat sein gesamtes Leben hinter dem Herd gestanden, hat sich hochgearbeitet vom Hilfs- zum Restaurantkoch und schließlich 2009 den eigenen Stand eröffnet. Während um ihn herum aus einer von den Briten aufgegebenen Hafenstadt eine moderne Finanzmetropole wurde, hat sich für Chan der Traum vom selbstbestimmten Leben auf bescheidene Weise erfüllt.

Das Rezept für die Sojasauce bleibt sein Geheimnis

Und plötzlich in neue Höhen geschraubt. Vielleicht, erzählt er, gibt es bald mehr Restaurants, mehr Kooperationen. Der Markenspezialist Hersing, mit dem er zusammenarbeitet, hat angeblich eine Million Dollar investiert, um aus Hawker Chan ein franchisefähiges „Produkt“ mit kleinen Lokalen in Singapur zu machen. Die besondere Rezeptierung der Sojasauce behält Chan wie sein Konkurrent mit den Pork Noodles für sich.

Jetzt kommt das Essen auf den Resopaltisch. Das Hühnchenfleisch ist zart, es fällt beinahe von der Gabel, wenn man es durchtrennt, die dunkle Sauce färbt die Haut schokoladenbraun. Koriander, Ingwer, Angelikakräuter sind in der Sojamischung verrührt, sie schmeckt leicht süßlich und zergeht auf der Zunge.

Der Gastronomiestern hat nicht nur das Zeitverständnis von Hawker Chan durcheinander gebracht. Auch wenn er kein Auto fährt und noch in derselben Wohnung lebt, sind es nun mehr Augen, die ihn beobachten. Nicht nur von draußen durch die Glasscheibe, sondern aus der ganzen kulinarischen Welt. Sie schauen zu, wie er weiter an seinem Glück arbeitet – oder ob er es verspielt.

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