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International sind Speisen und Belegschaft im Agora Collective.

© Mike Wolff

Neuköllner Projekt: Das Apple-Kompott

Essen aus Resten, auch mal ohne Besteck? Das „Agora Collective“ in Neukölln ist ein Co-Working-Space – das Besondere daran: Hier wird zusammen gekocht und gespeist.

Der Vorgang des Essens ist ja von allen Offline-Erlebnissen ganz besonders offline, da man ihn auch mithilfe eines Computers nicht verbessern kann.

Und doch: Wenn im Erdgeschoss des frei stehenden, backsteinernen Hauses am Mittelweg in Neukölln so gegen zwölf Uhr das erste Tagesgericht aus der offenen Küche kommt, postet die Managerin des Cafés zuerst ein Foto davon auf Facebook.

Das poppt dann in den Etagen darüber bei den Co-Workern auf: Kommt runter zum Essen! Und das tun sie dann, die, die sich im „Agora Collective“ einen Schreibtisch gemietet haben.

Sie stapfen die ein, zwei oder drei Stockwerke herunter, zapfen sich gefiltertes Wasser und treffen ihresgleichen: Einzelkämpfer, Freelancer, Entwickler einer Fitness-App sowie der Berliner Jedermann, für den das Café ebenfalls geöffnet hat.

Einheitssprache Englisch

Sie bezahlen immer fünf Euro für eines der fantasievollen Gerichte, das bislang an jedem Tag der Woche von einem anderen Koch gekocht wurde und häufig so international fusioniert war, wie es auch die Esser sind. Der Einfachheit halber verständigen sich alle auf Englisch.

An warmen Tagen weisen die offenen Fenster in den Garten vor dem Haus. Schwer hängen dort die Äpfel an den Bäumen und wachsen den Computern entgegen, auf denen ihrerseits angebissene Äpfel prangen. Zeigt sich schon hier die Annäherung von geistiger und weltlicher Nahrung?

Was so zufällig und spontan aussieht, wird in Wahrheit natürlich vorangetrieben und zusammengehalten von einer Idee.

Raus aus den Facebook-Reservaten

Pedro Jardim ist Philosoph und Ökonom und einer der beiden Mitbegründer des Co-Working-Space „Agora Collective“. Es klingt wie die zeitgenössische Variante des zentralen Marktplatzes aus dem antiken Griechenland.

Und obwohl dieses Haus nur über eine rumpelige Kopfsteinpflasterstraße zu erreichen ist, soll dies zugleich der direkte Weg in die Zukunft sein:  Pedro will die Leute aus ihren Facebook-Reservaten locken, er will Online und Offline verbinden. Und er will einen Ort gegen die übermäßige Spezialisierung schaffen, die direkt in die Einsamkeit des „Experten“ führt.

Ein Konzept aus Frankreich

Der Brasilianer Pedro Jardim hat das Agora Collective vor vier Jahren mit einem Kompagnon gegründet.
Der Brasilianer Pedro Jardim hat das Agora Collective vor vier Jahren mit einem Kompagnon gegründet.

© Mike Wolff

Wie eine WG um ihre Küche ist das ganze Haus um das Essen herum organisiert. Pedro ahnt, dass vielleicht alle etwas davon haben könnten, wenn mal einer kocht, der zugleich Anthropologe und Tänzer ist. Eine Mischung aus Arbeit und Essen, aus Englisch und Deutsch ergibt hier das reinste Apple-Kompott.

Kaum sind an den Wochenenden die Laptops zugeklappt, finden Workshops zu Permakultur, Einmachen und Fermentieren statt. Kunstaktionen binden das Essen mit ein und jeden Mittwoch breitet sich ein regionaler Bauernmarkt namens „Food Assembly“ im Garten aus. Nur dass alle Kunden ihre Waren vorher online bestellt haben.

Aus Brasilien nach Berlin

Analog kommen sie mit den regionalen Bauern in Kontakt, die ihrerseits dann keine überzählige Ware mehr mit nach Hause nehmen müssen. Das Konzept kommt aus Frankreich und hat sich in Berlin an verschiedenen Orten etabliert.

Pedro Jardim ist in São Paulo groß geworden, als Sohn einer Homöopathie-Ärztin mit Sinn für Gastfreundschaft. Weniger als zwölf Personen um den Esstisch habe er in seiner Kindheit eigentlich nie erlebt.

„Ich habe kein Bedürfnis nach Privatsphäre“, sagt er, ganz Repräsentant einer neuen Zeit. Für ihn ist das Haus nicht weniger als ein Gesellschaftsexperiment.

Eröffnung vor vier Jahren

Ein Experiment, das danach fragt, wie und nach welchen Kriterien die postkapitalistische Gesellschaft sich zusammenfindet. Nach welchen Kriterien sich Menschen treffen. Was in einem Leben analog und was digital passieren muss und wie beides zusammenkommt.

Als Pedro mit einem brasilianischen Kompagnon das Haus vor vier Jahren eröffnete, wohnten sie anfangs noch selbst im vierten Stock und begannen, es Stück für Stück in Beschlag zu nehmen.

Heute wohnt niemand mehr dort, der Tagespass für einen Schreibtisch und W-Lan kostet 16 Euro, ein fester Schreibtisch im Monat 248. An guten Tagen gehen 60 Mittagessen über die Theke. Auch die Mitarbeiter wurden zahlreicher.

Eine Schwedin fürs Essen

Lunch im Agora Collective.
Lunch im Agora Collective.

© Mike Wolff

Die Schwedin Dani Berg betreut seit Januar das Essens-Konzept. Essen bewege die Leute nicht nur in einem kulinarischen Sinne, sagt sie. Sie wollten nicht nur das Leckere, sondern auch das Richtige.

Sie wollen vegan backen und nichts wegschmeißen. Warum zum Beispiel gehört das Essen, das ein Supermarkt zur Abholung in den Abfall wirft, rechtlich immer noch dem Supermarkt?

Sie wollen Fragen um das „Containern“ erörtern, wenn Aktivisten die Tonnen der Supermärkte nach Verwertbarem durchsuchen.

Kulinarische Kunstaktion

Anfangs fürchtete Dani Berg, es könne etwas seltsam werden, so ein Einmach-Workshop mit Gurken und Roter Bete und lauter Fremden. Wurde es aber nicht.

Ein Erfolg war auch die kulinarische Kunstaktion, die ohne Besteck auskam. Nur zum Workshop mit dem grandiosen Namen „City Chicken“, der vermitteln sollte, dass die Hühnerhaltung in der Stadt weniger Aufwand verlange als „der Familienhund“, hatten sich nicht genügend Leute angemeldet.

Ab 15. September bestreitet Pepe Dayow, Anthropologe und Tänzer, als Erster für drei Monate am Stück das Mittagessen mit dem Projekt „Resto“, französisch für Restaurant. Im Deutschen steckt der „Rest“ schon drin. Aber es klingt viel freundlicher, wenn man wie Pepe von „leftovers“ spricht.

Die Konnotationen, die einem beim Wort „Reste“ einfallen, hält er für eurozentriert, da hier Nahrungsmittel in die Nähe von Abfällen gerückt werden. Andere Kulturen würden Reste nicht als Müll betrachten.

Improvisation mit Gewürzpaket

Das spontane Kochen mit Vorhandenem entwickelte Pepe aus einer Performance-Serie, die er 2012 in Madrid als Teil eines Masterstudiengangs Darstellende Künste ins Leben rief: Ausgerüstet mit seinem eigenen Gewürzpaket ging er zu armen Leuten und improvisierte mit dem, was er in deren Kühlschränken fand.

Auf diese Weise verbrachte er Zeit mit ihnen. Lernte, wie sie mit ihrer ökonomischen Krise umgingen. Als das Projekt nach drei Monaten beendet war, wurde er weiter zu solchen „Live Performances“ eingeladen – „und bevor ich wusste, wie mir geschah, nannte man mich Koch“. 

Ein wilder Ritt

Was man schon sagen kann: Die Mittagessen in Neukölln werden ein wilder Ritt. Montags Fermentiertes, da diese Methode der Haltbarmachung einmal erfunden wurde, um Abfälle zu vermeiden, siehe Sauerkraut.

Der Dienstag widmet sich Gewürzen, der Mittwoch den säuerlichen Aromen aus Pepes philippinischer Heimat, der Donnerstag dem Saisonalen und der Freitag berühmten, internationalen Reisgerichten wie dem Bibimbap aus Korea, dem indonesischen Nasi Goreng oder der spanischen Paella.

Homogen unter Apfelbäumen

Sind das hier Leute aus Online-Gehegen, die Offline als Ereignis inszenieren? „Wir möchten nicht elitär wirken,“ sagt Dani Berg. „Aber hier sitzen wir ja alle mit unseren MacBooks.“

Sie zeigt auf die silberne Flunder vor sich und weiß, dass die Apple-Computer unter den Apfelbäumen auf die Nachbarschaft sehr homogen wirken müssen.

Sie würden sich wünschen, mehr Offenheit auszustrahlen, mit den Nachbarn verbunden zu sein. Bevor ihnen bei der Arbeit die Äpfel auf den Kopf fallen, veranstalten sie am 16. September ein Apfelfest: Da wird gemeinsam geerntet und verarbeitet. Eingeladen ist, wer kommen möchte.

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