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Tugce Albayrak starb am frühen Morgen des 15. November 2014 auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants in Offenbach.

© dpa

Ein Jahr nach dem Tod: Tugce Albayrak bleibt unvergessen

Vor einem Jahr starb Tugce Albayrak gewaltsam. Sie wurde das Gesicht für Zivilcourage. Eine Stiftung will nun in ihrem Sinne Projekte fördern.

Diese Nacht veränderte alles: Ein Streit, ein Schlag, ein Todesfall und unzählige Medienberichte. Bundespräsident Joachim Gauck bekundete sein Beileid, auch der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan meldete sich bei der Familie des Opfers. In den sozialen Netzwerken wurden das Bild der jungen Frau – braune Wollmütze, große Augen – tausende Male geteilt. Mit 22 Jahren wurde Tugce Albayrak zu einer Märtyrerin, zu dem Gesicht für Zivilcourage.

Vor genau einem Jahr schlug ihr Sanel M. ins Gesicht, sie ging bewusstlos zu Boden und starb kurze Zeit später an den Folgen des Sturzes. Im Juni fällte das Landgericht Darmstadt sein Urteil. Drei Jahre Jugendstrafe für Sanel M., seine Verteidiger haben Revision eingelegt, die der Bundesgerichtshof aktuell noch prüft. Die Entscheidung des Gerichts war eine Erleichterung für Tugces Familie, aber die Geschichte hört für sie hier nicht auf.

Heute soll es in Offenbach eine Mahnwache geben

Dafür steht vor allem der Verein, nach Tugce Albayrak benannt, von sieben Angehörigen im Januar gegründet. „Den Wunsch dazu gab es schon kurz nach ihrem Tod“, sagt Murat Capri, Vereinssprecher und Schwager. Der Verein betreut die offizielle Facebook-Seite zum Gedenken an Tugce und kündigte dort eine Mahnwache in Offenbach für den heutigen Sonntag an. Außerdem will der Verein eine Stiftung gründen, um Projekte für Zivilcourage, Gewaltprävention und für die Aufklärung über Organspende zu unterstützen. Tugce hatte einen Spenderausweis, mehreren Menschen konnte sie somit noch nach ihrem Tod helfen.

Damit in ihrem Namen weiterhin Gutes geschieht, veranstaltet der Verein am 27. November eine Gala, um 50.000 Euro für das Startkapital der Stiftung zu sammeln. CDU-Generalsekretär Peter Tauber, der türkische Generalkonsul M. Mustafa Celik und der türkische Popstar Rafet el Roman werden als Gäste erwartet. Nach der Veranstaltung soll die Arbeit richtig losgehen. „Die Projekte sind in Planung, etwa eine Förderung von Gewaltpräventionskursen an Schulen“, erzählt Capri. Dabei sollen die Schüler lernen, in Konfliktsituationen richtig zu reagieren.

Hätte Tugce besser reagieren können?

Die Frage schwingt mit: Hätte Tugce besser reagieren können? Am frühen Morgen des 15. November 2014 geht sie dazwischen, als Sanel M. und seine Freunde zwei Teenagermädchen in einem Offenbacher McDonald’s bedrängen. Später treffen die Cliquen von Sanel und Tugce auf dem Parkplatz wieder aufeinander, die beiden beleidigen sich gegenseitig, Tugce bezeichnet Sanel als „Hurensohn“. Dann kommt der Schlag.

Am 28.November ließen Tugces Eltern die lebenserhaltenden Maschinen abstellen. Dass Tugce in dieser Nacht wohl zur Eskalation beitrug, macht die Tat von Sanel M. nicht weniger schlimm – aber es wirft ein anderes Licht auf den Fall. Eine Onlinepetition für die posthume Verleihung des Bundesverdienstkreuzes lehnte das Bundespräsidialamt Mitte Juni trotz mehr als 300.000 Unterschriften ab. Die Voraussetzungen seien „nicht im erforderlichen Maße erfüllt“, hieß es zur Begründung.

Im Prozess hatten widersprüchliche Zeugenaussagen für Verwirrung gesorgt. Die Schwarz-Weiß-Bilder von Tugce, der Heldin, und Sanel M., dem Killer, gerieten ins Wanken. Für Capri ist vor allem eines wichtig: „Tugce soll in Erinnerung bleiben.“ Die Rückmeldungen auf die Vereinsgründung hätten gezeigt, dass viele Menschen stolz auf Tugces Einsatz für Schwächere seien: Eine junge Frau aus der hessischen Provinz, mit türkischen Familienwurzeln, lässt sich nicht einschüchtern. Im Mai verlieh Berlins Arbeitssenatorin Dilek Kolat (SPD) einen Ehrenpreis des türkisch-deutschen Frauenvereins Bertak stellvertretend an Tugces Bruder.

Die Universität stellte einen Gedenkstein auf

„Ob türkisch oder deutsch, muslimisch oder christlich, spielt in unseren Augen aber keine Rolle“, betont Tugces Schwager. An der Universität in Gießen, wo Tugce bis zu ihrem Tod auf Lehramt studierte, wurde im September ein Gedenkstein aufgestellt – auf Initiative von Studierenden. Im gleichen Monat wurde Tugce für ihre Zivilcourage bei der jährlichen Veranstaltung der Dominik-Brunner-Stiftung in der Münchener Allianz-Arena geehrt.

Das eigene Handeln mit dem Leben bezahlen – dafür ist auch Brunner ein deutschlandweit bekanntes Beispiel. Er war 2009 eingeschritten, als Jugendliche auf einem Münchener S-Bahnhof Kindern Geld abnehmen wollten. Die Angreifer schlugen ihn später zusammen, er starb an Herzversagen. Heute hat die Stiftung prominente Unterstützer und finanziert Zivilcourage-Projekte. Plätze und Straßen tragen den Namen des Managers, sogar eine Dominik-Brunner-Schule gibt es.

Anders als Tugce erhielt Brunner posthum das Bundesverdienstkreuz

Anders als Tugce erhielt Brunner posthum das Bundesverdienstkreuz. Doch ergab sich auch hier während des Prozesses eine neue Sachlage: Brunner soll die Schlägerei begonnen haben, indem er einen seiner späteren Peiniger schlug, als der den Bahnhof schon verlassen wollte. Die Jugendlichen versetzten Brunner 22 Hiebe und Tritte . „Für uns zählt, dass Tugce eingegriffen hat, die Mädchen waren ihr nicht egal“, erklärt Andreas Voelmle, Vorstandsmitglied der Brunner-Stiftung. Wie bei Brunner habe es sich um eine Extremsituation gehandelt, da gebe es immer ein „Eskalationsrisiko“. An dem Willen zum Andenken ändere das aber nichts. Tugce, genau wie Dominik Brunner, bleibt Vorbild und Mahnung zugleich – dafür, wie wichtig Zivilcourage ist. Und leider auch dafür, wie sie enden kann.

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