zum Hauptinhalt

Panorama: Die zweifachen Opfer des SED-Staats

Erste Studie über Missbrauch in der DDR zeigt, wie sehr betroffene Kinder mit ihrem Leid allein gelassen wurden.

René Münch war noch zu klein, um den sexuellen Missbrauch zu erkennen. Er war sogar froh um die Zuwendung, er hatte ja sonst niemanden. Seine Mutter lebte in einer Gefängniszelle, eingesperrt wegen versuchter Republikflucht. Ihr Sohn, im Haft-Krankenhaus Klein-Meusdorf bei Leipzig geboren, durchlitt seinen Alltag in einem Heim. Er erlebte Schläge, Gefühlskälte, eine frostige Atmosphäre. Da fühlte sich dieser eine Erzieher an wie Sonnenstrahlen, die dichten Nebel durchdringen. Er hatte René und die anderen Jungs auf seinen Schoß genommen, er hat sie „gestreichelt“. Ein widerliches Streicheln, eigentlich. Aber der kleine René dachte: „Okay, mich streichelt mal einer.“

Der erwachsene René Münch sagt viele Jahre später: „Der hat das natürlich ausgenützt. Ein anderer Erzieher war brutaler, der hat sich regelmäßig auf mich raufgeschmissen.“ Sexueller Missbrauch in zwei Variationen.

Münch ist eines des vielen Opfer sexuellen Missbrauchs in der DDR. Nur hat über dieses Thema in den vergangenen Jahren kaum jemand gesprochen. Der Missbrauch im Westen ist seit 2010 großes mediales Thema. Der Missbrauch jenseits der Mauer, der blieb fast unbeachtet. Das ist jetzt vorbei. Christian Sachse, Historiker, Benjamin Baumgart, Jurist, und Stefanie Knorr, Psychologin, haben die erste wissenschaftliche Studie zum Missbrauch in der DDR vorgelegt. „Ein erster Schritt, die große Forschungslücke zu schließen“, sagte Sachse.

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat die Studie in Auftrag gegeben. Die Zahlen, vorgelegt von den Forschern, sind erschreckend. Zwischen 1960 und 1980 gab es rund 68 000 Anzeigen wegen Kindesmissbrauchs. Doch die Dunkelziffer lag erheblich höher. 500 000 Kinder, schätzen die Experten, wurden Opfer. Nur jede zweite Anzeige mündete in ein Verfahren, und nur in der Hälfte dieser Fälle wurde der Täter verurteilt.

In der DDR hatte Missbrauch noch eine besonders perfide Note. Denn das politische System setzte Opfer häufig zusätzlichem Leid aus. Im sozialistischen Staat durfte er so etwas wie Missbrauch offiziell gar nicht geben. Die DDR erhob ja den Anspruch, der menschlichere, moralisch hochwertigere Teil Deutschlands zu sein. „Zur Disposition stand die Profilierung des sozialistischen Staates selbst, der sich stets als der bessere gegenüber der Bundesrepublik beweisen wollte“, urteilen die Autoren der Studie.

Schon bei einem öffentlichen Hearing in der Villa Ida in Leipzig sprachen 2017 Betroffene, Experten und Mitglieder der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs über die bitteren Vorfälle in der DDR. So wurden Kinder, die aufgrund des Missbrauchs verhaltensauffällig wurden, in Jugendheime gesteckt. Dort sollten sie „erzogen werden“. Eines dieser Opfer war Renate Viehrig-Seger, die als Elfjährige zum ersten Mal von ihrem Vater missbraucht wurde. Beim Jugendamt glaubte ihr niemand. Sie lief mehrfach von zu Hause weg, wurde aufgegriffen und kam in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, eine besonders brutale Einrichtung.

Dort wurde sie wieder missbraucht, diesmal vom Direktor des Spezialheimes. Das Mädchen vertraute sich einem Erzieher an – und kam zur Strafe in Arrest. In Leipzig erzählte sie ihre Geschichte. Dort erklärte sie, dass sie nach dem Arrest nur noch funktioniert habe. Sie war gebrochen. „Du willst raus aus dem Elternhaus wegen des sexuellen Missbrauchs, gehst in die Obhut des Jugendamts, und dir passiert genau das Gleiche.“ Auch René Münch erzählte hier seine Erlebnisse.

Doch für viele Betroffenen gehen die Probleme bis heute weiter. Jetzt verzweifeln sie an der Frage der angemessenen Entschädigung. Das Problem: Es gibt für die DDR-Heime keinen Rechtsnachfolger.

Die DDR-Opfer können theoretisch Geld aufgrund des Opferentschädigungs-Gesetzes erhalten. Aber das ist in der Praxis fast nicht möglich. Denn für Taten auf dem Gebiet der verblichenen DDR gilt das Opferentschädigungs-Gesetz – außer in besonderen Härtefällen – erst ab 1990. Zudem müsste man nachweisen, dass es eine direkte Kausalität zwischen dem Missbrauch und den heutigen Problemen gibt. Und das ist meist sehr schwierig.

Quasi als Zwischenlösung bis zur Reform des Opferentschädigungs-Gesetzes richtete das Familienministerium einen Fonds ein. Über den können Betroffene Leistungen bis jeweils maximal 10 000 Euro beantragen. Das Ganze hat nur einen Makel: Gedacht ist dieser Fonds lediglich für Opfer familiären Missbrauchs. Heimkinder erhalten aus dieser Quelle kein Geld. Für sie gibt es auch keinen anderen Geldtopf mehr, da die so genannten Heimkinder-Fonds bereits geschlossen sind. Johannes-Wilhelm Rörig, der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, fordert seit Jahren eine Reform des Opferentschädigungsgesetzes.

Das Missbrauchsopfer René Münch hat inzwischen seinen eigenen Weg gefunden, die fürchterlichen Erlebnisse aufzuarbeiten. Er malt. Frank Bachner

Zur Startseite