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Panorama: Deutscher geht’s nicht

Wie leben Deutsche in der Fremde? Parallelwelten Teil eins: bei den Enkeln der Kolonialisten in Namibia

Die reetgedeckte Bar am Strand funkelt grün, schon von weitem, weil sie mit hundert oder mehr leeren Jägermeisterflaschen geschmückt ist. Jägermeister sieht man in Namibia unheimlich oft, immer dort, wo Deutsche sind. Ein paar Meter von der Bar entfernt, im Fluss, steht ein Schwarm rosafarbener Flamingos. Der Fluss ist dunkelbraun. Er heißt wegen seiner Farbe Swakop, dieses Wort bedeutet in der Sprache der Eingeborenen, der Nama, „Scheiße“. Das wussten die weißen Siedler bestimmt nicht, als sie ihre Stadt Swakopmund tauften.

Im deutschen Radiosender bringen sie eine Suchmeldung über den entlaufenen Kater eines gewissen Dr. Konrad. Der Tierschutzverein hat im deutschen Radio eine regelmäßige Sendung. Danach singt Tony Marshall. Dann „Rosamunde“, irgendein Chor. Dann Heino. Zur Frühstückszeit bringen sie Freddy, immer, jeden verdammten Morgen.

Eins steht fest: Eine Deutschquote im Radio brauchen sie hier nicht.

Swakopmund, 25000 Einwohner, ist die weißeste Stadt in Afrika und die deutscheste Stadt außerhalb von Europa. 30 Prozent Deutsche, schätzungsweise. Mit ihren Geschäften, Kirchen und Fachwerkhäusern dominieren sie das Straßenbild. Der Villenvorort am Meer, wo die Wohlhabenden wohnen, heißt Vineta.

Nur in Namibia haben die Deutschen es geschafft, als Kolonialmacht bleibende Spuren zu hinterlassen, immer noch präsent zu sein. Nur hier können Deutsche erleben, was Briten und Franzosen normal finden, diese Mischung aus Heimat und Exotik. Die Namibiadeutschen, vielleicht 30000 in einem Land von 1,8 Millionen Einwohnern, besitzen mit ihren großen Farmen etwa 15 Prozent des Staatsgebietes. Sie haben wenig Kontakt zu Nichtdeutschen. Mischehen sind selten. Die Deutschen, könnte man sagen, bilden eine klassische Parallelgesellschaft. Historiker behaupten sogar: Im Laufe von 100 Jahren sind sie hier in Afrika zu einem eigenen Volk geworden, ein Volk ohne Staat, wie die Quebecfranzosen.

In der Bar Tiffany läuft im Fernsehen die „Sportschau“. In der Bar sind nur deutsche Männer. Der Wirt stammt aus Hamburg. Bis zur Unabhängigkeit, bis 1990, gab es eine deutsche Einwanderung nach Namibia, keine riesigen Zahlen, aber stetig. In Namibia konnte man bis 1990 für den Preis eines deutschen Einfamilienhauses locker eine Farm mit ein paar tausend Hektar Land kaufen. Ein Gast sagt: „Wisst ihr, warum in Namibia kein Viagra verkauft werden darf? Weil alles, was länger als zehn Minuten rumsteht, von den Negern geklaut wird.“ Witze dieser Art werden etwa eine halbe Stunde lang erzählt.

Draußen am Eck liegt „Peter’s Antiques“, dessen Besitzer Peter Haller eine gewisse Berühmtheit erlangt hat, weil er Hitlers „Mein Kampf“ neu auflegen wollte, was aber an juristischen Schwierigkeiten scheiterte. Haller stammt aus Bayern. Er sagt, er sei nach Südwestafrika gegangen, weil Deutschland „zu eng“ sei, in welcher Hinsicht auch immer. Er verkauft Schallplatten mit Hitlerreden, aber auch afrikanische Masken. Wieder ein paar Meter weiter liegt der Laden „Muscheln und Geschenke“. Die schwarze Verkäuferin ist dabei, eilig zu schließen. Sie sagt, mit den Ladenschlusszeiten sei es in Swakopmund furchtbar streng. Das liege an den Deutschen.

Die Einwanderer der Kolonialzeit waren meist Abenteurer oder Bauernsöhne, für die zu Hause das Erbe nicht ausreichte. Ihre Farmen nannten sie „Abendruhe“, „Geduld“ oder „Rostock“. Eine ländliche, sozial extrem immobile Minderheit in einer feindlichen Umgebung – so etwas wird konservativ, zieht sich in eine Wagenburg zurück, das kann man beinahe wissenschaftlich voraussagen. Die Deutschen von Namibia haben weder Hitler noch die DDR noch 1968 erlebt, in ihrer Erinnerung heißt Deutschland noch immer: der Kaiser. In der NS-Zeit traten zehn Prozent von ihnen der NSDAP bei, ist das nun viel oder wenig? Als der Krieg ausbrach, verhafteten die Südafrikaner jedenfalls im Auftrag Englands fast alle deutschen Männer, tausende, Nazi oder nicht, alt und jung, ganz egal, schafften sie nach Südafrika und sperrten sie sechs Jahre lang in Arbeitslager. Namibia wurde seit dem Ende der Kolonialzeit von Südafrika verwaltet.

In den Lagern entstand ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Wahrscheinlich war das eine Art babylonische Gefangenschaft, die Geburtsstunde ihrer Nation. Die Deutschen empfanden sich als Opfer einer großen Ungerechtigkeit.

Getötet wurden sie nicht. Ihre Frauen und die Kinder hielten die Farmen über Wasser. Nach dem Krieg durften die Männer heimkehren. Das, was sie über die Nazilager in Europa hörten, erklärten viele von ihnen zu Gräuelpropaganda. Sie selber wussten schließlich am besten, wie ein Konzentrationslager von innen aussieht! Nach 1945 zogen sich die Deutschen aus dem politischen Leben fast völlig zurück, Politik überließen sie den Engländern und Buren. Sie lebten in ihren Vereinen, in ihren Schulbüchern wurden deutsche Helden und Pioniere gefeiert. Karneval und Kaisers Geburtstag, das Oktoberfest und der Jahrestag der Schlacht am Waterberg waren Höhepunkte des Jahres. Waterberg – der Sieg über die Hereros, die anschließend zum Verdursten in die Wüste gejagt wurden.

Die Deutschen fuhren selten nach Deutschland, manche nie, denn Deutschland war teuer. Wenn sie über Deutschland redeten, nannten sie es ein oberflächliches Land, eine Massengesellschaft, ohne Tiefe, ohne echte Ideale. Ihr Lied, nach der Melodie des Panzerliedes der Wehrmacht, hat den Refrain: „Hart wie Kameldornholz ist unser Land“.

Die Kaiser-Wilhelm-Straße von Swakopmund wurde erst kürzlich umbenannt, sie heißt jetzt nach dem ersten schwarzen Präsidenten, der noch bis März 2005 im Amt ist: Sam-Nujoma-Street. Überall stehen Reisebusse mit gut situierten deutschen Rentnern darin. Das Wetter: neblig und kühl, als Folge des eisigen Benguelastroms, der hier vorbeifließt. Mit seinem Leuchtturm und den deutschen Häusern sieht Swakopmund aus wie ein Seebad an der Ostsee. Binz liegt viel näher, warum fahren die Rentner bloß hierher?

Im Hotel Prinzessin-Ruprecht-Residenz, dem ehemaligen deutschen Lazarett, riechen die Handtücher genau wie in Deutschland. Die Zimmer tragen Namen, in Fraktur geschrieben – Erlanger Zimmer, Tegernseer Zimmer, Neu-Ulmer Zimmer. Die Frühstücksbrötchen sind abgezählt. Auf den Tischen liegen Schondeckchen, die Blumen sind aus Plastik. Alles ist viel deutscher als in Deutschland.

Zu den Besonderheiten von Swakopmund gehört auch die Tatsache, dass ein deutsch-jüdisch-afrikanischer Kaufmann, Sam Cohen, eine deutsche Bibliothek gestiftet hat. In der Sam-Cohen-Bibliothek kann man die wichtigste Zeitung der Kolonialzeit nachlesen, den „Südwestboten“. 1914, kurz vor Kriegsbeginn, klingt ein Leitartikel so:

„Nehmen wir einmal unsere Küchenjungen, 14- bis 16-jährige Eingeborene. Die arbeiten von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends mit einer zweistündigen Mittagspause und sind so wenig angestrengt, dass sie immer noch Zeit für Allotria finden. Sonntags kommen sie nur auf einige Stunden, oft genug überhaupt nicht, nehmen aber an jedem Sonnabend einen Sack voll teuren Proviant mit nach Hause.“

Aus den Leitartikeln des „Südwestboten“ kann man lernen, wie Rassismus funktioniert. Der angeblich rassisch Unterlegene kann tun, was er will – alles ist immer nur ein neuer Beweis für seine Unterlegenheit. Wenn die schwarzen Arbeiter fürsorglich sind, ihren hungernden Freunden helfen, schreibt die deutsche Zeitung über „die törichte Einrichtung, dass der Arbeitgeber Kost geben muss. Der Arbeiter liefert sie entweder der Familie an oder er teilt sie mit notorischen Faulpelzen, nachher schiebt er Kohldampf.“ Ein anderes Mal wird ein Arbeiter ausgepeitscht. „Der Eingeborene trägt das Strafmaß mit Lächeln. Hier ist es für jeden klar ersichtlich, dass Schmerzen viel leichter von Eingeborenen ertragen werden als von Europäern.“ Dass ein Schwarzer tapfer sein könnte – undenkbar. Hassfigur Nummer eins aber ist im „Südwestboten“ von 1914 ein Weißer, der katholische Zentrums-Abgeordnete und spätere Finanzminister Matthias Erzberger, der über die Kolonie gesagt hat: „In den Plantagenbetrieben gingen mehr Eingeborene zugrunde als bei den früheren Sklavenjagden.“

Auf der Fahrt nach Windhoek überträgt das deutsche Radio das Hamburger Hafenkonzert. Alle paar Minuten ruft jemand „Hummel, Hummel!“ Als Deutscher bei den Namibiadeutschen fühlt man sich vielleicht so ähnlich wie ein moderner Türke aus Istanbul bei besonders traditionellen Deutschtürken. Mein Gott – was würden die Namibiadeutschen bloß anfangen, wenn plötzlich ein Autor wie Heinrich Böll bei ihnen auftaucht? Oder ein Künstler wie Joseph Beuys? Oder ein Regisseur wie Fassbinder? Da wären sie sicher fassungslos oder sehr wütend. Immerhin, ein Vertreter der neueren deutschen Kultur war kürzlich dort: Scooter. Eine Techno-Band.

In Windhoek erscheint die „Allgemeine Zeitung“, genannt „AZ“. Der zweite Mann in der Blatthierarchie, Eberhard Hoffmann, wurde in der DDR geboren, in Sachsen. Sein Vater war Großbauer und floh 1953 nach Afrika. Redakteur Hoffmann ist ein sehr netter Herr, Schnurrbart, Mitte 50. Die Tageszeitung, die praktisch alle Namibiadeutschen lesen, gehört Dirk Mudge, einem wiedergeborenen Christen und Führer der rechten Republikanischen Partei. Aber Mudge hält sich aus dem Redaktionsalltag raus, die „AZ“ steuert einen parteiunabhängigen, allerdings stark regierungskritischen Kurs. „Wir haben Narrenfreiheit“, sagt Hoffmann. Die meisten Regierungsmitglieder können sowieso kein Deutsch. Hoffmann warnt vor den Klischees, die über die Namibiadeutschen in Umlauf seien. Nicht alle seien rechts. Es gibt auch Deutsche in der Swapo, sogar in Regierungsämtern, nicht viele, aber immerhin. Berichtet die „AZ“ über die deutschen Reformdebatten? Eher wenig, sagt Hoffmann. Dazu hätten die Leser keinen Bezug. Nur eine deutsche Reform bringt hier unten in Afrika die Deutschen in Wallung. Das ist die Rechtschreibreform. Auch die „AZ“ hat jetzt ihre eigene, spezielle Rechtschreibung, sie übernimmt nur Teile der Reform. „Wir machen hier doch nicht jeden Blödsinn mit“, ruft Hoffmann. Er ist richtig wütend.

Hoch über Windhoek thronen drei deutsche Burgen, erbaut von Romantikern kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Eine vierte Burg entsteht gerade, der neue Präsidentenpalast, gegen den das Bundeskanzleramt wie ein Dorfgasthaus wirkt, und für dessen Errichtung zurzeit nicht unwesentliche Teile des Staatshaushaltes verbraucht werden. Der Palast ist gewissermaßen ein Geschenk des Expräsidenten Nujoma an seinen alten Genossen und bereits gewählten Nachfolger, Hifikepunye Pohamba.

Für sich selber hat Sam Nujoma am Stadtrand ein gigantisches Denkmal bauen lassen, von nordkoreanischen Heldendenkmalexperten. Es erinnert an das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park in Berlin, ist aber deutlich größer. Ein Aufmarschgelände für Zehntausende, ein Berg, Treppen, ganz oben dann Sam Nujoma in Stein, der in der einen Hand ein Gewehr hält, in der anderen eine Handgranate. Dahinter ein Obelisk. Alles gigantisch. Aber kein einziger Besucher, an diesem Nachmittag.

Die Swapo war eng mit der Sowjetunion verbündet, ihr Feind Südafrika wurde von den USA unterstützt. Als die Mauer fiel und der Kalte Krieg zu Ende war, hatte der Stellvertreterkrieg im Süden Afrikas seinen weltpolitischen Sinn verloren. Die Swapo durfte jetzt siegen. Verrückterweise profitierte sie vom Zusammenbruch der befreundeten kommunistischen Staaten. Sam Nujoma, der große Führer im Unabhängigkeitskrieg, war ursprünglich Ziegenhirte. 1973 bekam er den Leninpreis, 1988 den Ho-Chi-Minh-Preis. Er ist Ehrenbürger von New York, Chicago und San Francisco. Als alter Soldat hat er in den letzten Jahren nicht nur den Denkmalbau-, sondern auch den Militäretat kräftig erhöht und im Bürgerkrieg des Kongo mit seiner Armee auf der Seite von Laurent Desiré Kabila mitgemischt. Angeblich hat er zur Belohnung dafür eine Diamantenmine bekommen. In Namibia heißen jetzt viele Straßen nach Kabila oder nach Robert Mugabe, dem Diktator von Simbabwe, oder auch nach Fidel Castro, wenn sie nicht, der Einfachheit halber, gleich nach Sam Nujoma heißen.

Das oberste Gremium der Swapo trägt einen deutschen Namen, „Politbüro“. Namibia hat wirklich ein sehr eigenwilliges politisches System. Auf der einen Seite Denkmäler, Straßennamen und eine Staatspartei wie die DDR, auf der anderen Seite Kapitalismus, relativ viel Meinungsfreiheit und freie Wahlen wie die BRD. Letzteres hängt vielleicht damit zusammen, dass die Swapo Wahlen nach menschlichem Ermessen fast nicht verlieren kann. Sie ist die traditionelle Partei der Ovambos, und die Ovambos sind der größte Stamm in Namibia. Außerdem vergeben die Swapo und der Staat zwei Drittel aller Arbeitsplätze. Die meisten Leute haben ziemlich massive Gründe dafür, loyal zur Swapo zu sein.

Ein deutscher Farmer, Friedrich Nauhaus, sagt: „Nur wer nicht weiß ist, darf bei uns reich sein! Das ist doch Rassismus!“ Nauhaus fährt jede Woche 30 Kilometer in die Stadt, um den neuen „Spiegel“ zu kaufen. Auch im Nationalmuseum von Namibia finden sich Spuren deutscher Kultur. In einer Vitrine steht ein großes Foto von Karl-Heinz Rummenigge, der in Namibia einmal ein Spiel bestritten hat. Daneben stehen zwei Bierflaschen, die Rummenigge gleich nach dem Spiel persönlich austrank. Windhoek-Bier.

In den nächsten Tagen folgt eine Reportage über deutsche Auswanderer in Spanien.

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