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Aufarbeitung der Vergangenheit: Verbrechen der Roten Khmer nicht vergessen

Chum Manh hat die mörderischen Roten Khmer in Kambodscha überlebt. Er sagt: Die Wahrheit darf nicht im Körper bleiben. Sie zu finden, versucht seit Jahren auch ein UN-Tribunal. Aber die Angeklagten sind alt und krank. Und dem Gericht geht langsam das Geld aus.

Der Ort, an dem er hätte ermordet werden sollen, ist Chum Manhs Arbeitsplatz. Chum, ein kleiner Mann mit schütterem weißen Haar, steht im ehemaligen Foltergefängnis S-21 in Phnom Penh. Eine Gruppe koreanischer Touristen drängt sich um ihn, Chum Manh geht in die Zelle, in der er 1978 eingesperrt war. Nummer 022, ein enger Raum mit Steinboden und einem vergitterten Fenster. Chum deutet auf die eiserne Pritsche, an die er gekettet war. Seine Hände sind verkrüppelt, man hat ihm die Nägel ausgerissen und die Fingerkuppen abgehackt.

Chum Manh ist einer von sieben Menschen, die S-21 lebend verließen. Die 13 000 anderen, Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge, wurden gequält mit allem, was zur Hand war, Eisenstangen, Äxten, Schaufeln, verseuchtem Wasser. Man nahm medizinische Experimente an ihnen vor, ließ sie verbluten. Die meisten wurden auf die sogenannten Killing Fields getrieben und erschlagen.

Mindestens 1,7 Millionen Menschen starben zwischen 1975 und 1979, in den Jahren, in denen Pol Pot und die Roten Khmer in Kambodscha an der Macht waren. Chum Manh kam davon, weil er Mechaniker war und die Schreibmaschinen reparieren konnte, auf denen die abgepressten Geständnisse der Gefolterten getippt wurden.

Seit 2006 gibt es ein UN-Tribunal in Phnom Penh, das den Völkermord aufarbeitet. 158 Verhandlungstage gab es in der Zeit bis Anfang Februar 2013. Nur ein einziger Mann sitzt bisher verurteilt im Gefängnis, Kaing Guev Eav, genannt „Duch“. Er war der Leiter von S-21, 2012 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Hauptverantwortliche, „Bruder Nr. 1“ Pol Pot, starb im Jahr 1998. Drei Verfahren stehen noch aus, mit sieben Angeklagten. Doch selbst die sind gefährdet. Die Beschuldigten sind alt, manche krank. Einer von ihnen, Ieng Sary, Pol Pots Außenminister, genannt „Bruder Nr. 3“, starb vor zwei Wochen im Alter von 87 Jahren. Außerdem wird das Geld knapp: dem Tribunal droht der Bankrott.

Phnom Penh, im vergangenen Oktober. Busse halten vor dem ehemaliges Gefängnis, S-21 ist heute das Genozid-Museum Tuol Sleng. Ein grauer Block mit einem großen Innenhof. Jeden Tag steht Chum Manh in dunkler Hose und gebügeltem Hemd hier und redet mit allen, die ihm zuhören, Touristen, Studenten, Schulklassen. Zwei Drittel der Bevölkerung Kambodschas sind unter 30, die Vergangenheit ist weit weg für sie.

Die Wahrheit dürfe nicht „im Körper bedeckt bleiben“, sagt Chum. Er hat eine angenehme, kräftige Stimme. Immer wieder kommen Leute zu ihm, die in Tuol Sleng nach einem Hinweis auf verschwundene Verwandte suchen. Die koreanischen Besucher machen Fotos, es ist heiß und stickig in der winzigen Zelle. Chum ist 80 Jahre alt, er muss sich ausruhen. Er setzt sich an den wackeligen Tisch. Es ist der Platz, auf dem einst sein Folterer saß.

Sein Leben am Ort derer zu verbringen, die ihn töten wollten – für Chum Manh wird dies womöglich die einzige Genugtuung bleiben. Fast 40 Jahre nachdem Pol Pot in Phnom Penh einmarschiert war, ist der Genozid in Kambodscha noch immer nicht aufgearbeitet.

Strafverfolgung ja, aber dem UN-Tribunal geht langsam das Geld aus

Anfang März 2013, Phnom Penh. Im cremefarbenen Gerichtsgebäude mit der hellblauen UN-Fahne ruht die Arbeit. 30 Dolmetscher sind im Streik, sie haben seit Dezember keine Gehälter bekommen. Andere Mitarbeiter wurden ebenfalls nicht bezahlt. Nicht nur, dass sich das Tribunal darauf beschränken muss, einige wenige Funktionäre anzuklagen – nun könnte die Sühne auch noch am Geld scheitern.

Andrew Cayley ist der internationale Chefankläger des Strafgerichtshofs. Er würde gerne „Fall 002“ zu Ende bringen. Es geht um die Verbrechen, die geschahen, als die Bewohner aus den Städten aufs Land getrieben wurden, zur Feldarbeit gezwungen, in Lagern „umerzogen“, zwangsverheiratet wurden. Angeklagt sind die ranghöchsten Roten Khmer, Pol Pots Stellvertreter etwa, genannt „Bruder Nr. 2“, mit richtigem Namen Nuon Chea, 86 Jahre alt. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, lautet die Anklage, Kriegsverbrechen, Völkermord. Erst an diesem Montag hieß es, er sei fit genug, um dem Prozess zu folgen. Nuon Chea ist herzkrank. Es kann sein, dass er nicht mehr lange lebt.

Deswegen ist Cayley ist kreuz und quer in der Welt unterwegs, im November war er in Berlin. Er will über die Arbeit des Tribunals sprechen, Spender finden. Fragen beantwortet er per Mail. Cayley schreibt, das Rote-Khmer-Tribunal verhandle den bedeutsamsten Fall seit 1945. Das Problem: Das Gericht ist angewiesen auf freiwillige Spenden von UN-Mitgliedern. Die kommen etwa aus Japan, Australien, den Vereinigten Staaten, Deutschland, Frankreich, Kambodscha, Großbritannien, Schweden, Norwegen und Neuseeland. 34 Millionen Dollar braucht das Tribunal 2013. Zum Vergleich: Das Budget des Jugoslawien-Tribunals beträgt 150 Millionen Dollar im Jahr. Doch während der Finanzkrise strichen die Staaten ihre Ausgaben zusammen. Die Weltwirtschaft wirkt sich auf die Weltgerechtigkeit aus.

Das Paul-Löbe-Haus in Berlin. Tom Koenigs, Abgeordneter der Grünen im Bundestag, sitzt in seinem lichtdurchfluteten Büro, vor sich einen Stapel Akten. Koenigs steht dem Menschenrechtsausschuss vor, er beschäftigt sich mit Völkerrechtsverbrechen auf der ganzen Welt. Kambodscha habe keine Tradition, Opfergeschichten zu erzählen, sagt Koenigs. Die einzige „Institution der historischen Wahrheit“ sei das Tribunal. Ob Deutschland dem Gerichtshof allerdings finanziell helfen wird, ist fraglich. Deutschland sei schon jetzt einer der wichtigsten Geldgeber.

Phnom Penh, im Oktober 2012. Chum Manh schlurft über den Hof von Tuol Sleng; bevor das Gebäude Gefängnis wurde, war es eine Schule. Die Turngeräte der Kinder stehen noch da, Errungenschaften und Horror menschlicher Zivilisation liegen nah beisammen. In den früheren Klassenräumen hängen Schwarz-Weiß-Fotos, die damals von den Gefangenen gemacht wurden, Galerien mit angsterstarrten Gesichtern. Chum Manh erzählt, wie er 1979, als vietnamesische Truppen schließlich in Phnom Penh einmarschierten, um Pol Pots Herrschaft zu beenden, aus dem Gefängnis floh und durch Zufall im allgemeinen Chaos seine Frau und sein jüngstes Kind wiederfand. Sie flüchteten Richtung Westen, seine Frau und das Kind wurden vor seinen Augen erschossen. Er hat dann wieder als Mechaniker gearbeitet, heute bekommt er ein bisschen Geld von Spendern.

Der alte Mann spricht ruhig, man merkt ihm an, dass er seine Geschichte oft erzählt hat. Neben ihm sitzt eine Dolmetscherin, eine dunkelhaarige Frau mit offenem Lachen. Sie spricht mit Berliner Akzent, sie durfte in den 80er Jahren in der DDR studieren, lebte in Pankow. Heute zeigt sie deutschen Touristen Phnom Penh. Den alten Königspalast und die neue Skyline, den Fluss Tonle Sap, an dessen Ufer nachts das Leben pulsiert.

Sie gehört zur Generation der Kriegskinder, sie war neun, als sie von ihrer Familie getrennt wurde, in ein Umerziehungslager kam. Zwei Geschwister starben, ihre Eltern fand sie wieder. Sie haben nie darüber gesprochen, was passiert ist. Ihr Vater ist irgendwann Mönch geworden, „um den inneren Frieden zu finden“. Die Einzigen, mit denen sie über die Schrecken der Vergangenheit reden kann, sind deutsche Touristen.

Ihren Namen will die Dolmetscherin nicht veröffentlichen, aus Angst. „Die Wände haben hier so viele Ohren wie die Ananas Augen“, sagt sie. Wenn sie alte Männer sehe, rechne sie zurück, frage sich, wo sie wohl in den 70ern waren. Viele Täter von damals gehören zur Elite von heute. Keine gute Voraussetzung für die Aufarbeitung. Für „Fall 003“ und „Fall 004“ etwa, die hochrangige Militärs der Roten Khmer betreffen. Unter Staatschef Hun Sen gab es Druck auf das Tribunal, die Verfahren einzustellen. Auch von Drohungen gegen Prozessbeteiligte ist immer wieder die Rede.

Chum Manh: Der Cheffolterer des S-21 führe ein besseres Leben als er

Chum Manh konnte seine Geschichte erzählen. 2009 war er Zeuge im Prozess gegen Duch, den Leiter des Foltergefängnisses S-21. Chum weiß noch genau, wie er im Gerichtssaal Duch zum ersten Mal sah, in S-21 hatten sie ihm immer die Augen verbunden. Duch habe die Richter begrüßt, aber nicht die Leute im Saal. Eine Beleidigung, sagt Chum. Er blickt über den ehemaligen Gefängnishof, auf den Stacheldraht, der überall gespannt ist. An den Mauern des Museums sind Schilder angebracht, darauf ein durchgestrichenes Lachen und das Wort „Respekt“.

Einmal kam das Tribunal für eine Tatortbesichtigung nach Tuol Sleng, sagt Chum. Duch sei an ihm vorbeigegangen, habe geweint, erzählt Chum. „Wie ein Krokodil. Wenn man es festhält, weint es, und sobald es ins Wasser kommt, schnappt es dich.“ Empfindet er keine Genugtuung, dass Duch für seine Verbrechen büßen muss? Chum schüttelt den Kopf. Es ärgere ihn, dass Duch jetzt „in einem schönen, modernen Gefängnis mit Fernseher und guten Ärzten“ sei. Zum ersten Mal wird seine Stimme laut. Der Mörder führe ein besseres Leben als er.

Hamburg, im März. Der kambodschanische Filmemacher Rithy Panh ist nach Deutschland gekommen, um aus seinem Buch zu lesen. „Auslöschung“ heißt es. Rithy Panh erzählt darin von seiner Jugend unter den Roten Khmer, von der Zwangsarbeit, vom Hunger, von den Leichen. Rithy Panh, Jahrgang 1964, trägt einen bunt karierten Khmer-Schal, auf dem Tisch liegt seine Brille. Unter den Roten Khmer, die das Bürgertum und die Intellektuellen im Visier hatten, konnte eine Brille den Tod bedeuten. Rithy Panh kann sich noch gut erinnern, wie sein Vater, ein Lehrer, nach dem Einmarsch Pol Pots seine Krawatten im Wald vergrub.

Rithy Panhs Eltern starben, er schaffte die Flucht nach Thailand und später nach Paris. Er erzählt von Panikattacken, die ihn bis heute begleiten. Lange Zeit vertrieb er die Gedanken, indem er nachts durch die Straßen von Paris streifte, sein Geld im Casino verspielte. Irgendwann kehrte er zurück nach Phnom Penh und begann, Dokumentarfilme über die Roten Khmer zu drehen. Um die Geschichten der Opfer und der Täter zu erzählen.

Für einen Film besuchte er Duch im Gefängnis, interviewte ihn. Duch habe ihn an Eichmann erinnert, sagt Rithy Panh, an dessen Versuche, sich mit Befehlen von oben zu rechtfertigen, obwohl er der „eigentliche Architekt des Massenmords“ gewesen sei. Duch führte in S-21 penible Listen der Gefangenen. Neben die Namen schrieb er mit Rotstift Bemerkungen wie „Fotografie erforderlich“, „in Verwahrung behalten“, „vernichten“. Auf einer Liste mit Namen kleiner Kinder notierte er neben jedem: „Merz sie aus.“

Rithy Panh war mehrmals im Rote-Khmer-Tribunal. Er erzählt, wie die Leute zu den Verhandlungen in den Gerichtssaal strömen. Um einen der 500 Plätze zu bekommen, die es für Zuschauer gibt. Um die Erzählungen der Opfer zu hören, die Wahrheit zu erfahren. 60 000 Besucher waren es bislang, sie kommen aus allen Teilen Kambodschas, viele nehmen dafür mehrere Tage Urlaub. Jede Verzögerung treffe sie hart, sagt Rity Panh. Und es bleibt nicht mehr viel Zeit.

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