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Fritzl

© dpa

Amstetten: Die Verhandlung des Grauens

„Können Sie sich das vorstellen, wirklich vorstellen?“ fragt die Anklägerin die Geschworenen. „Sie müssen Emotionen weglassen“, sagt der Verteidiger. Über den Prozessauftakt gegen Josef F. wegen Inzest, Vergewaltigung, Freiheitsberaubung, Sklaverei und Mord durch unterlassene Hilfeleistung.

Er ist dann plötzlich da, im Gerichtssaal, trägt hellgraues Sakko, dunkelgraue Hose, seine Hände sind frei, keine Handschellen, und er verbirgt sein Gesicht, das doch längst um die Welt gegangen ist, hinter einem sehr blauen Aktenordner. Die österreichische Polizei hat vor fast einem Jahr sein Foto herausgegeben. Das zeigt einen alten Mann mit hochstehenden grauen Haaren, steilen Augenbrauen, hellen Augen, Tränensäcken und schmalem Schnauzer. Am Montagmorgen sieht die Öffentlichkeit nur den blauen Ordner. Sie nennt in ihren Berichten auch seinen Namen nicht mehr, kürzt ihn ab zum Schutze der Opfer.

Wie es ihm gehe?, fragen die Journalisten. „Bereuen Sie?“ „Werden Sie sich verantworten?“ Immer wieder. Aber der Mann hinter dem Ordner bleibt stumm. Dann betritt die Richterin den Saal, und es beginnt in St. Pölten, der Hauptstadt von Niederösterreich, ein ordnungsgemäßer Prozess um das vollkommen unvorstellbare Verbrechen des Josef F., 73.

Er wird beschuldigt, seine Tochter Elisabeth 24 Jahre lang im Keller seines Hauses in Amstetten gefangen gehalten zu haben, sie tausendfach vergewaltigt zu haben, sieben Kinder kamen in dem Verlies zur Welt, sechs überlebten. 27 Seiten hat die Anklageschrift. Die Punkte der Anklage: Vergewaltigung, Inzest, fortdauernde Freiheitsberaubung, Sklaverei, Mord durch unterlassene Hilfeleistung.

Fünf Tage will man verhandeln, am Freitag das Urteil verkünden. 200 Medienvertreter sind angereist, viele aus dem Ausland. Auf der Pressetribüne vor dem herrschaftlichen Gerichtsgebäude stehen die Kameras unter den Dächern von Partyzelten. ARD neben ZDF, getrennt durch n-tv. Die Krawatten gerichtet, das Haar noch schnell über dem Knopf im Ohr drapiert, warten Reporter auf ihren Einsatz. Der Prozess beginnt um 9 Uhr 30, die ersten Sender haben ab 5 Uhr live berichtet – über nichts. „Da drinnen wird einer zum Sündenbock gemacht, dabei macht er das, was alle machen“, ruft ein Demonstrant in die Kameras. An ein Grabkreuz hat er Baby-Puppen geknüpft. Seine Stimme überschlägt sich, die Knie zittern. Dann rücken andere Demonstranten vor, Künstler.

Da drinnen. Ein Geschworenengericht soll urteilen. Es hört die Mahnungen von der Richterbank und vom Verteidiger Rudolf Mayer. Man solle nicht vorverurteilen, nur das bestrafen, was beweisbar ist. „Sie müssen Emotionen weglassen“, sagt Mayer den Laienrichtern. Und auch für Josef F. gelte schließlich die Unschuldsvermutung. Als zweifelte irgendjemand daran, dass F. große Schuld auf sich geladen hat.

Zwei Stunden dauert der Teil der Verhandlung, der öffentlich ist. Dann werden die Besucher- und Medienbänke geräumt. Und dann erst werden die Videobänder abgespielt, auf denen Elisabeth F. von ihrem Leben in der Gefangenschaft berichtet. Elf Stunden Material sind zusammengekommen. Aufgezeichnet bei der Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft, durch Christiane Burkheiser, 33 Jahre alt, dunkle schulterlange Haare, Pony und eine schmale eckige Brille.

Sie hat „Duftproben“ aus dem Amstettener Keller mitgebracht. Eine Schachtel, in der Gegenstände aus dem fensterlosen Kellerverlies sind. Sie fordert die Geschworenen auf: „Riechen Sie an den Gegenständen!“ Einige verziehen angewidert ihr Gesicht.

Die Schachtel ist das Gegenteil von „Sie müssen Emotionen weglassen“. Sie soll gruseln. Von einem „unvorstellbaren Martyrium“ spricht die Staatsanwältin dann. „Können Sie sich das vorstellen?“, fragt sie die Geschworenen, „wirklich vorstellen? Ich kann das nicht.“ Von den elf Quadratmetern Verlies spricht sie, in denen Elisabeth die ersten neun Jahre leben musste. „Im ersten Jahr hat er mit diesem Opfer kein einziges Wort gesprochen. Er drehte das Licht auf, vergewaltigte sie, drehte das Licht ab und verschwand.“ Sagt die Staatsanwaltschaft. Kann man sich so etwas vorstellen können? Dass das kein Horrorfilm ist, sondern passiert?

„Es gab kein Warmwasser, keine Dusche, keine Heizung und vor allem kein Tageslicht und keine Frischluftzufuhr“, beschreibt Burkheiser die Lebensumstände der Gefangenen. Die hätten lediglich aufgrund der undichten Mauern Luft zum Atmen gehabt. In den ersten neun Jahren habe es nichts außer einem Waschbecken, einem Schlafplatz und einer Kochplatte gegeben. Dann baute der Vater das Verlies aus.

Die Tür zum Schwurgerichtssaal hatte Burkheiser in der Höhe von 1,74 Metern markieren lassen, um den Geschworenen die Höhe des Kellers mittels eines Laserpointers vor Augen führen zu können. Zweimal habe sie den Keller besichtigt, sagt sie. „Dort herrscht eine morbide Atmosphäre. Sie müssen auf den Knien kriechen, um in den Keller zu gelangen. Die Schleusentür ist nur 83 Zentimeter hoch. Es ist feucht, schimmelig, modrig. Die Feuchtigkeit kriecht Ihnen in den Rücken und in die Knochen.“

Bereits am zweiten Tag ihrer Gefangenschaft habe Josef F. die damals 18-jährige Tochter vergewaltigt und auch später immer wieder vor den Augen der Kinder. Dann beschreibt sie die Geburten, die die Tochter alleine durchstand, und das Sterben eines Säuglings nach der Geburt von Zwillingen 1996, weil der Angeklagte keine Hilfe geholt haben soll, weil er ja hätte auffliegen können. So wie es dann tatsächlich kam, als 2008 ein Kind aus dem Keller sehr krank wurde. F. brachte es ins Krankenhaus, nahm einmal auch die Mutter, seine Tochter, mit, die sich den Ärzten offenbarte.

Über den Angeklagten sagt die Anklägerin, er wirke wie ein netter alter Herr, sei gepflegt und höflich, er habe auch kooperiert, „Anzeichen von Reue und Unrechtsbewusstsein“ aber nicht gezeigt.

Josef F. ist ein schmächtiger Mann. Und er spricht mit zarter Stimme. Nicht laut, donnernd, sondern verhalten.

Wo er geboren sei, fragt Richterin Andrea Humer. „In Amstetten.“ Ob er Pensionist sei. „Ja, seit meinem 60. Geburtstag.“ F. antwortet im öffentlichen Teil des ersten Verhandlungstages auf alle Fragen der Richterin ruhig und unaufgeregt. Zwischendrin scheint er fast ins Plaudern zu geraten. „Und zwar war das gedacht als Büro“, sagt F., als ihn Humer zum Umbau seines Hauses im Jahr 1974 befragt. Zehn Jahre später kerkerte er in dem damals gebauten Keller seine 18-jährige Tochter Elisabeth ein.

Josef F. gibt die angeklagten Taten in Teilen zu. Dass er seine Tochter und die mit ihr im Keller gezeugten und dort verbliebenen Kinder an möglichen Fluchtversuchen gehindert habe, indem er ihnen weismachte, das Verlies mit Strom- und Gasfallen „gesichert“ zu haben. Auch zur Freiheitsentziehung und zur Blutschande bekennt er sich. Aber zum Mord nicht. Und zur Sklaverei nicht. Beides sind die Taten, für die die höchste Strafe droht. Auch beim Vorwurf der Vergewaltigung sieht er sich nur „teilweise schuldig“.

Bevor dann also gegen frühen Mittag die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, skizziert der Angeklagte bereitwillig seine Lebensgeschichte. Er habe „eine sehr harte Kindheit“ verbracht, legte er den Geschworenen dar. „Meine Mutter wollte mich nicht. Sie war ja schon 42. Sie wollte einfach kein Kind, und sie hat mich entsprechend behandelt. Ich bin geschlagen worden“, erzählt er. Und dass er sich öfter unter einer Nähmaschine und hinter dem Brennholzstoß versteckt habe. Mit zwölf Jahren habe er seiner Mutter dann deutlich gemacht, dass er sich nicht mehr länger misshandeln lasse und zur Wehr setzen werde: „Von dem Moment an war ich der Satan für sie.“ Er habe „überhaupt keine innige Beziehung“ zur Mutter gehabt, die bis zu ihrem Tod im Jahr 1980 mit ihm unter einem Dach wohnte. Er spricht mit brüchiger Stimme von fehlender Zärtlichkeit und dem fehlenden Vater. Aber dann rechtfertigt er sie gleich wieder. Auch das Leben seiner Mutter sei nicht gerade das schönste gewesen. Sie sei auf einem Bauernhof aufgewachsen und habe schon mit acht Jahren arbeiten müssen.

Doch was erklärt das alles? Die Anklage will, dass Josef F., weil abnorm veranlagt, nach egal welcher Haftstrafe in Sicherungsverwahrung kommt.

24 Jahre lang hat er seine Tochter gefangen gehalten. Fast ein Vierteljahrhundert lang dreht sich die Welt draußen weiter, und im Keller in Amstetten ist die Hölle. Drei Kinder holte er ans Tageslicht, gab sie als Enkel aus, die die Tochter, ansonsten einer Sekte anheim gefallen, den Eltern zur Pflege vor die Haustür gelegt hätte.

In Amstetten selbst herrscht am Montag fast schon gespenstische Ruhe. Sogar rund um das Haus von Josef F. in der Dammstraße schleichen nur vereinzelt Journalisten, ein einsamer Übertragungswagen einer slowenischen TV-Station parkt an der Rückseite des Anwesens. Die Anrainer zeigen sich wortkarg und ungeduldig. Man wartet still und leise auf das Urteil. Will seine Ruhe.

Der Verteidiger von Josef F. im Gericht versucht, am Tun des Angeklagten Spuren von verantwortungsvollem Handeln aufzuzeigen. Er verwies darauf, dass sich sein Mandant eine Zweitfamilie aufgebaut und für die Kinder gesorgt, Schulbücher gekauft habe. „Versuchen Sie dem Angeklagten trotzdem noch als Mensch zu begegnen und für das zu verurteilen, was er zweifelsfrei gemacht hat.“ Die Geschworenen seien nicht die Rächer, ruft er ihnen zu. Josef F. hätten 24 Jahre lang Schuldgefühle geplagt.

„Das Monster, wissen Sie, was das macht? Das bringt alle um. Ende, aus ist“, sagt Mayer. Aber die Geschworenen wirken nicht so, als ob sie im Verzicht auf die Ermordung der Familie einen Grund für Milde sehen.

Der blaue Aktenordner, den sich Josef F. zu Prozessbeginn vor das Gesicht gehalten hat, liegt während der Verhandlung die ganze Zeit vor ihm. Während der ganzen Verhandlung schaut F. an den Geschworenen vorbei.

Doris Piringer, Alfred Lobnik[St. Pölten]

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