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Maximilian Pollux, 37, zu Besuch in Berlin.

© Doris Spiekermann-Klaas

Was Verbrechen mit Verbrechern macht: „Ich wollte ein Mann sein, vor dem jeder Angst hat“

Er war Drogen- und Waffenhändler, raubte andere Dealer aus. Jetzt erzählt Maximilian Pollux, warum Kriminalität unglücklich macht.

Mit Gefängnisausbrüchen, sagt Maximilian Pollux am Telefon, sei das so eine Sache. Grundsätzlich sind sie in Deutschland nicht strafbar. Wer es versucht, muss mit keiner zusätzlichen Haftzeit rechnen. In der Realität läuft es anders, sagt Pollux, denn es lasse sich kaum verhindern, sich während des Ausbruchs sogenannter Begleittaten schuldig zu machen: Sachbeschädigung, Bedrohung, Bestechung – und die würden dann umso konsequenter geahndet: „Einen straffreien Ausbruch zu begehen, ist so gut wie unmöglich.“ Von den mehr als 50 000 Gefangenen in Deutschland versucht es jedes Jahr eine Handvoll.

Er selbst hat im Laufe der Jahre zahlreiche Pläne geschmiedet. Und es einmal auch tatsächlich probiert. Er stahl sechs Garnituren Bettwäsche aus der Kleiderkammer, verknotete sie zu einem Seil. Aus zwei verbogenen Metallstangen und einer Hantelscheibe baute er sich einen Enterhaken, den er über die sieben Meter hohe Außenmauer werfen würde. Er wollte etliche Lagen T-Shirts und Pullover übereinanderziehen, wegen des Natodrahts, den er überwinden müsste.

Er hatte sich einen Fluchthelfer organisiert, der draußen auf ihn wartete und ihn beim Untertauchen unterstützen würde. 20 000 Euro hatte Pollux dem Mann versprochen, „aber ich hätte die natürlich nie gezahlt, stattdessen hätte ich den Typen ausgeraubt. So war ich damals“.

Es sollte beim morgendlichen Hofgang passieren. Am Abend vorher lag Maximilian Pollux in seinem Hochbett und schaute sich im Fernsehen „Der Pate“ an, zur Beruhigung, den Film kannte er praktisch auswendig.

Der Enterhaken zerbrach, Pollux stürzte ab

Am nächsten Morgen schaffte es Pollux über zwei Zäune und zwei Grünstreifen, dann die Hälfte der Mauer hoch, bis der Enterhaken zerbrach. Pollux stürzte, Beamte sprühten ihm Pfefferspray ins Gesicht. Anschließend kam er in Isolationshaft.

Dass Maximilian Pollux, 37, lange im Gefängnis saß, insgesamt neun Jahre und acht Monate, wissen inzwischen Hunderttausende. Seit Mai betreibt er einen Kanal auf Youtube, der seinen Namen trägt und in dem er so detailliert wie nüchtern über seinen Haftalltag berichtet. Über Sorgen und Tiefpunkte, Sehnsüchte und Enttäuschungen. Seiner wachsenden Zuschauerschaft gewährt er Eindrücke in einen Kosmos, der den allermeisten ein Leben lang erspart bleiben wird.

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Pollux’ Erzählungen handeln von Gewalt und Machtspielen unter Gefangenen, von der Wichtigkeit von Badelatschen und der Allgegenwart von Schnarchgeräuschen. Am Telefon sagt er, er wolle das Gangsterleben weder romantisieren noch auf erhobene Zeigefinger setzen, sondern so wahrheitsgetreu wie möglich schildern, wie sich das Leben in Haft anfühlt – um andere davor zu bewahren.

Die meisten Videos nimmt er in einer Ecke seines Mainzer Wohnzimmers auf, hinter ihm ein Bücherregal und Landschaftsbilder an der Wand. Er verrät etwa, dass man in der Justizvollzugsanstalt Nürnberg stets den Klodeckel herunterklappen muss, weil sonst die Ratten aus der Schüssel klettern und Brotreste klauen. Pollux erzählt, dass die Insassen den angebotenen roten und grünen Tee verschmähen, weil das hartnäckige Gerücht kursiert, die Anstaltsleitung mische eine Substanz in das Getränk, um die Libido der Gefangenen zu senken.

Nachdem er davon auf seinem Youtube-Kanal berichtete, erhielt er eine Menge Mails von Zuschauern: Genau dasselbe Märchen erzählten sich Insassen auch in anderen Ländern, sogar in den USA und Australien.

Vor Gericht musste Pollux wegen Drogen- und Waffenhandel, wegen Raub und räuberischer Erpressung, gefährlicher Körperverletzung, Diebstahl, Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz, Anstiftung zum Erwerb von Schusswaffen. Den Punkt mit der Anstiftung zum Schusswaffenerwerb finde er übertrieben, sagt Pollux, aber der Rest komme hin: „Ja, das habe ich leider alles getan.“

Pollux zeigt Häftlingsunterwäsche.
Pollux zeigt Häftlingsunterwäsche.

© Youtube

Er sagt, er habe sich bereits als Jugendlicher bewusst für das Leben als Krimineller entschieden. Er wollte frei und gefährlich sein, sich an keine Regeln halten müssen. Und fand sich am Ende an einem Ort wieder, an dem er sich durchgehend an Regeln halten musste, an dem er auf acht Quadratmetern lebte und vorgeschrieben bekam, welche Unterhosen er zu tragen hatte: ausgeleierten Feinripp, den vor ihm zig andere getragen hatten und nach ihm wieder andere tragen würden. Fünf Stück pro Woche bekam er ausgehändigt.

Es ist genau diese Kluft zwischen Wunsch und Realität des Gangsterlebens, die Pollux in seinen Videos immer wieder thematisiert. Dazu die Frage, an welchem Punkt sich einer endlich eingesteht, dass er irgendwo falsch abgebogen ist.

Ein Drogenlabor für Crystal Meth

Draußen gehörte Pollux einer Gang an, die Crystal Meth herstellte. Sie hatte sich in einem Dachgeschoss für 15 000 Euro ein eigenes Labor eingerichtet. Waffen schmuggelten sie aus dem ehemaligen Jugoslawien. Außerdem begingen sie Raubüberfälle, vor allem in Bayern. Ihre Opfer waren andere Dealer, die hatten Geld und Drogen und gingen selten zur Polizei.

Zu dieser Zeit, sagt Pollux, gab es für ihn nur drei Sorten Mensch: Gangster, Cops und Zivilisten. Jeder, der keine Waffe trug, war für ihn ein Zivilist, „feige, schwach und dumm“. Jeder, der sich ans Gesetz hielt, sei für ihn ein Schaf gewesen.

„Ich wollte ein Mann sein, vor dem jeder Angst hat“, sagt Pollux heute. Stattdessen wurde er einer, der sich ständig sorgte und fürchtete. Der Angst vor dem Zugriff der Polizei hatte. Oder dass Komplizen ihn verraten. Vor Passanten auf der Straße, die vielleicht Zivilpolizisten sein könnten. Vor Autos mit ungewöhnlichen Nummernschildern oder der Wohnung gegenüber, wenn dort die Jalousie unten war.

Das Leben eines Kriminellen bestehe zu 95 Prozent aus Stress. Es sei ein permanenter Alarmzustand. Noch heute kann Pollux in einem Raum nicht mit dem Rücken zur Tür sitzen, nicht mal beim Abendbrot mit den Schwiegereltern.

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51 Videos hat Pollux inzwischen online gestellt. Vergangenen Monat kam ihm der Gedanke, ob er das Projekt abbrechen sollte. Er ärgerte sich über Nachrichten von Zuschauern, die ihm vorwarfen, sich in der Rolle des Gangsters zu gefallen. „Es ist exakt das Gegenteil von dem, was mich tatsächlich antreibt“, sagt Pollux am Telefon.

Die Idee kam im Lockdown

Seit fast fünf Jahren betreibt er Präventionsarbeit, gibt Workshops an Schulen, in Jugendhäusern und Gefängnissen. Er hat dafür einen Verein namens Sichtwaisen gegründet. Als die Workshops im ersten Lockdown wegfielen, kam ihm die Idee, seine Botschaft digital zu verbreiten. Eine Bekannte, die auf Youtube einen Fitnesskanal hat, sagte ihm: „Wenn ich Leute zu mehr Sit-ups und gesünderem Essen überreden kann, kannst du auch Menschen von Straftaten abhalten.“

Die allermeisten Rückmeldungen, die er erhalte, seien positiv. Er verbringe jeden Tag allein vier Stunden damit, die Zuschauerpost auf Instagram abzuarbeiten.

Eine seiner wichtigsten Entscheidungen im Gefängnis traf Pollux gleich am zweiten Abend in der Justizvollzugsanstalt Nürnberg. Da holte sein Zellengenosse Ulli das beige Pulver aus dem Brief, das er beim Hofgang am Morgen organisiert hatte. Ulli war Ende 50, ein stadtbekannter Schläger und Junkie, muskulös und gleichzeitig speckig. Sein Körper überzogen von halbverblassten Tattoos.

Ulli schlief unten im Stockbett, und er meinte es wohl nur gut, als er sagte: Wenn du möchtest, können wir uns das Heroin teilen. Er kochte es mit Zitronensäure und einem Esslöffel auf. Die Nadel, die sich Ulli besorgt hatte, sah aus, als sei sie schon oft benutzt worden.

Der Reiz war eindeutig da, sagt Pollux heute, und dass er im Rückblick nicht genau wisse, weshalb er das Angebot letztlich ablehnte. Vielleicht habe er einfach die dreckige Nadel zu eklig gefunden. Er verzog sich aufs obere Bett und las in dem Kitschroman, den er sich an diesem Tag ausgeliehen hatte: „Kreuz des Südens“, über eine junge Frau, die im frühen 19. Jahrhundert in Australien einen reichen Rinderfarmer heiratete, aber heimlich einen ganz anderen Mann liebte – während sich Ulli unten das Heroin in die Ader spritzte. Hätte ich in diesem Moment nachgegeben, sagt Pollux, wäre vermutlich alles anders gekommen.

Diese Waffen gehörten Maximilian Pollux zum Zeitpunkt seiner Festnahme.
Diese Waffen gehörten Maximilian Pollux zum Zeitpunkt seiner Festnahme.

© Youtube

Während der ersten Jahre im Gefängnis beging er weiter Straftaten, hauptsächlich räuberische Erpressung. Er schlug sich auch, etwa mit dem Mann, der im Gang dasselbe Telefon benutzen wollte.

Pollux berichtet auch von seinen Erfahrungen mit Justizvollzugsbeamten. Manche hatten Spaß daran, Insassen bloßzustellen. Einer las Pollux’ Post und sprach ihn dann laut beim Hofgang an: „Na, du vermisst deine Mutter schon ganz schrecklich, ne?“ Etliche andere Beamte, sagt Pollux, hätten ihn dagegen respektvoll behandelt. „Die versuchten einfach, einen guten Job zu machen.“ Und soweit er es mitbekommen habe, seien deutsche Vollzugsbeamte äußerst schwer zu bestechen.

Er komme aus einem guten Elternhaus, sagt Pollux, seine Familie habe nichts falsch gemacht. Außer dem Onkel, der ihn zu seiner ersten Straftat verleitete. Er fragte, ob Pollux, damals 13, nicht nach Holland reisen und dort einen Koffer mit Marihuana abholen wolle. Pollux fühlte sich geehrt, fand es aufregend, begann zu dealen. „Ich bin nicht abgerutscht“, sagt er, „ich wollte das.“ Kurz nach seinem 14. Geburtstag gab es die erste Hausdurchsuchung durch die Polizei. Morgens um halb sieben, seine Mutter stand geschockt im Nachthemd da, stammelte: „Heute passt es mir nicht, ich habe nicht gestaubsaugt.“

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Mit 15 saß er für vier Wochen im Jugendarrest, er hatte im Kaufhaus Sprühkappen für Graffitidosen geklaut und eine geladene Neun-Millimeter-Gaspistole dabei, das wurde ihm als bewaffneter Diebstahl ausgelegt. Der Jugendarrest dauerte vier Wochen, danach dachte sich Pollux: War eigentlich gar nicht schlimm, ich bin dort gut zurechtgekommen. Außerdem gefiel es ihm, dass er sich nach der Entlassung vor seiner Freundin als stiller, mysteriöser Kerl mit Knasterfahrung inszenieren konnte. Er sagt:„Es war der Beginn einer üblen, langen Karriere.“

In einem Gutachten über ihn steht, er habe jahrelang ein „vagabundierendes, parasitäres Verhalten“ gezeigt, und Pollux sagt, das sei eine treffende Beschreibung.

Der Alltag eines Gangsters besteht zu 95 Prozent aus Stress, sagt Pollux.
Sein Verein Sichtwaisen betreibt Präventionsarbeit.

© Doris Spiekermann-Klaas

Mit 19 erging ein erster Haftbefehl gegen ihn, sodass er untertauchen musste. Mit 21 Jahren wurde er in Amsterdam festgenommen, frühmorgens auf der Straße. Die Beamten hatten sich als Müllmänner verkleidet, überwältigten ihn und legten Kabelbinder an. Er war so tief in seiner Gangsterwelt verhaftet, dass er dachte, das seien keine Polizisten, sondern andere Kriminelle, die ihn jetzt entführen und Lösegeld erpressen wollten. „Ich überlegte schon, ob sie mir als Druckmittel wohl einen Finger abschneiden würden.“ Am rasanten Fahrstil des Beamten am Steuer habe er dann realisiert, dass es doch die Polizei sein musste.

Einen Tag später verriet er die Adresse seiner geheimen Wohnung, wo er Waffen und Drogen gelagert hatte. Weil er nicht wollte, dass sein einzig verbliebener Freund, sein Hund, verhungerte.

„Ich glaub, Sie verkennen den Ernst der Lage“

Manche seiner Episoden klingen amüsant. Etwa die, als Pollux während seiner Zeit in U-Haft für ein Gutachten in die forensische Klinik in Erlangen musste. Er erschien im Unterhemd, stellte sich extra blöd und antwortete, als sei er kaum zurechnungsfähig.

Er dachte, es gehe hier um die Einschätzung, ob er nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht belangt werden solle. „Ich glaub, Sie verkennen den Ernst der Lage“, warnte ihn der Psychologe nach Stunden. Und erklärte Pollux, er sei hier wegen Paragraf 66 des Strafgesetzbuchs, also der Frage, ob der Angeklagte eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle und nach Ende der Haftstrafe Sicherungsverwahrung nötig sei. Da begannen sie das Gespräch noch mal von vorn, und Pollux riss sich zusammen.

Andere Episoden sind brutal. Er berichtet, dass ein Freund von ihm im Gefängnis wegen einer Nichtigkeit erstochen wurde, er verblutete in der Dusche. Pollux sagt, dass Rasierklingen im Knast keine gefürchteten Waffen seien, grobe Schlagwaffen hingegen schon.

Er sagt Sätze wie: „Rasierklingen werden im Knast nur für eine Art von Morden benutzt, nämlich Selbstmorde.“ In solchen Momenten ringt er vor der Kamera um Fassung. Manchmal bricht er die Aufnahme ab, setzt sie fort, wenn er sich wieder beruhigt hat.

In Filmen und Hip-Hop-Songs würden Gefängnisaufenthalte meist sehr viel kürzer dargestellt als die Phase der Straftaten, die zu ihnen führten. Da bleibe unsichtbar, dass einem, wie ihm geschehen, während einer zehnjährigen Haftstrafe sämtliche Großeltern wegsterben können, ohne dass er je zu einer Beerdigung durfte. Oder dass es Jahre dauerte, bis ihm das erste Mal erlaubt wurde, einen seiner Besuche zu umarmen.

Der Wandel im eigenen Kopf, die Änderung der Werte, habe gedauert. Er weiß noch, wie zufrieden er nach zwei Jahren Untersuchungshaft mit sich war, dass er nach seiner Verhaftung niemanden verriet und auf die in Aussicht gestellte Strafreduzierung verzichtete. Am Tag seiner Verurteilung sah er seine Mutter im Gerichtssaal und dachte: „Die mache ich jetzt sicher stolz, weil ich so ein verdammter Ehrenmann bin.“

Heute sagt er: Es war ein Irrglaube anzunehmen, dass ich niemanden verraten hätte. „Denn natürlich habe ich, als ich den Deal ausschlug, meine Liebsten verraten.“ Seine Mutter, seinen Stiefvater, seine beiden jüngeren Geschwister. Die kleine Schwester war 21, als er aus dem Gefängnis kam. „Sie will bis heute nichts mehr mit mir zu tun haben“, sagt Pollux. Und dass er dies sehr gut verstehe.

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