zum Hauptinhalt
In meine Arme. Nach der Wahl gehörte der noch amtierende Bundespräsident Joachim Gauck zu den ersten Gratulanten.

© REUTERS, Fabrizio Bensch

Wahl des Bundespräsidenten: Eine Übung in Demut für die Union

Es ist bunt und lebendig und ein bisschen wie Klassentreffen. Da fällt es kaum auf, dass sich bei der Wahl des Bundespräsidenten die AfD der demonstrativen Gemeinsamkeit verweigert.

Von
  • Hans Monath
  • Robert Birnbaum

Der Mann in der ersten Reihe rührt keinen Finger zum Applaus. Rund um ihn herum klatschen fast alle. Aber Horst Seehofers Hände bleiben fest ineinander verkrampft auf dem Pult. Die Wahl des Bundespräsidenten ist ja eigentlich mehr ein feierliches Ereignis. Doch der Präsident des Bundestages hat das Recht auf eine Einführungsrede, und Norbert Lammert nutzt es nach Kräften. Über die Gefahren für die Demokratie spricht er, über eine Welt in Unordnung und sehr deutlich über den neuen Mann im Weißen Haus. „Wer Abschottung anstelle von Weltoffenheit fordert und sich sprichwörtlich einmauert“, sagt Lammert, wer „Wir zuerst“ zum Programm erkläre, dürfe sich nicht wundern, wenn es ihm andere gleichtäten. Ein tosender Applaus brandet auf, dann erheben sich sogar die meisten der mehr als 1200 Männer und Frauen im Plenarsaal unter der Reichstagskuppel. Die Bundesversammlung wird zur Kundgebung der versammelten deutschen Parlamente gegen Donald Trump. Nur die AfD klatscht wieder nicht. Und Horst Seehofer nicht. Als Lammert „Abschottung“ sagte, ist dem CSU-Chef das Blut förmlich ins Gesicht geschossen. Als ob er gemeint gewesen wäre.

Seehofers Gesicht erzählt viel über diesen Tag

Das dunkelrote Gesicht erzählt viel über diesen Tag, der, wie gesagt, ja eigentlich ein feierlicher ist. Im Reichstag dominiert der dunkle Anzug, hier und da auch die festliche Tracht. Eine Frau trägt ihr niedersorbisches Festgewand mit weißer Spitzenhaube. Dagmar Wöhrl von der CSU kommt im Dirndl, was der Kollege Hans-Peter Friedrich gleich im Selfie festhalten muss. Der schrillorangefarbene Haarputz der Dragqueen Olivia Jones harmoniert komischerweise ziemlich gut mit Angela Merkels senfhellgrünem Kostüm. Jogi Löw verursacht Kameratrauben. Kurz, es ist bunt und lebendig und ein bisschen wie Klassentreffen: Ach Mensch, der Friedrich Merz, lange nicht gesehen!

Alle Mitglieder des deutschen Bundestages und eine gleiche Zahl von Delegierten aus den Bundesländern kommen zusammen, um das Staatsoberhaupt zu wählen – mehr Demokratie, rein zahlenmäßig betrachtet, geht nicht. Man findet zwar immer wieder Leute, die fordern, dass das Amt im Schloss Bellevue vom Volk direkt besetzt werden sollte; der Kandidat der Freien Wähler, der „Fernsehrichter“ Alexander Hold, hat sich damit noch schnell ins Gespräch gebracht. Aber in einer repräsentativen Demokratie stünde das nach ausnahmsweise einmal praktisch einhelliger Auffassung der Staatsrechtler allzu schräg zum sonstigen System.

Und die Wahlmänner und Wahlfrauen haben sich ihrer Aufgabe ja bisher immer gewachsen gezeigt. Oben auf der Ehrentribüne verfolgt Joachim Gauck die Wahl seines Nachfolgers. Der scheidende Präsident bekommt den ersten großen, starken, stehenden Applaus des Tages, als Lammert ihm dankt für die fünf Jahre. Gauck erhebt sich, neigt kurz dankend den Kopf, setzt sich wieder – aber so schnell wollen die da unten ihn nicht abhaken. Sie applaudieren einfach weiter. Außer der AfD. Das Trüppchen auf seinen Stühlen ganz rechts außen im Plenarsaal will demonstrativ nicht teilhaben an der Gemeinsamkeit. Aber das Trüppchen ist hier und heute eine Randerscheinung, trotz eigenem Präsidenten-Kandidaten. Deren gibt es insgesamt fünf, eingeschlossen den Vater des Berufsspaßvogels Martin Sonneborn. Der hat, der Papa Engelbert, allerdings schon eine Australienreise für den Tag der Amtseinführung des neuen Staatsoberhaupts gebucht, was von realistischer Einschätzung der eigenen Chancen zeugt.

Die neue SPD-Strategie: gute Laune

Nein, realistische Chancen hat hier heute nur einer: Frank-Walter Steinmeier, bis vor Kurzem Bundesaußenminister, Sozialdemokrat. Womit wir wieder bei der schlechten Laune des Horst Seehofer wären. Die hat Lammert mit seiner Rede noch speziell angestachelt, aber als Grundstimmung teilt sie der CSU-Chef mit der gesamten Fraktion von CDU und CSU. Das Hochfest der Demokratie im Reichstag wird an diesem Sonntag für die Union zur Übung in Demut. Und die Übung wird doppelt schwer durch den aufreizenden Frohmut, der neuerdings bei den Sozialdemokraten herrscht. „Neue Strategie mal“, ulkt der frühere SPD-Generalsekretär Hubertus Heil, als er am Morgen über die Fraktionsebene huscht, wo alle Parteien den letzten Zählappell abhalten. „Neue Strategie mal – gute Laune!“

Am Samstagabend vor dem Wahltag lädt die SPD ihre Delegierten in die große Lagerhalle des „Westhafen Event & Convention Center“ in Wedding zum Empfang. Das hat Tradition, schon damit die von fern angereisten Landesdelegierten sich nicht im Berliner Großstadtdschungel verirren. Dass der Empfang zum Jubelfest gerät, hat bei der SPD seit Längerem keine Tradition mehr. Gerät er aber. „Unsere beste Party seit Langem“, freut sich ein Abgeordneter.

Auf der Bühne feiert Sigmar Gabriel

Auf der Bühne feiert Sigmar Gabriel den Kanzlerkandidaten, der „den neuen Aufbruch“ symbolisiere, und damit ein bisschen als Kandidatenmacher auch sich selbst. Martin Schulz feiert seine eigene Wirkung („Wir sind die Partei, die auf dem Weg zum Wahlsieg ist“). Die Schauspielerin Iris Berben lobt den künftigen Präsidenten und Steinmeiers Ehefrau Elke Büdenbender, die dessen neuer Aufgabe „keine familiäre Opposition“ entgegensetze. Und dann singt der sozialdemokratische Wahlmann und Schlagerstar Roland Kaiser, und die SPD tanzt.

Am Sonntag steht Torsten Albig im Foyer des Bundestages, während drinnen die Stimmen ausgezählt werden. Was ein Erfolg Steinmeiers im Jahr der Bundestagswahl für die SPD bedeute? „Schaden wird es uns jedenfalls nicht“, sagt der SPD-Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Das ist glatte Tiefstapelei. Sie haben ihren Kandidaten durchgesetzt gegen die widerstrebende Kanzlerin. Angela Merkel und Horst Seehofer nahmen die Niederlage in Kauf als missliche, aber letztlich unschädliche Schramme auf dem Weg zum damals noch sicher erscheinenden Wahlsieg.

103 Enthaltungen? Ein Raunen geht durch den Saal

Angela Merkel und SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz im Reichstag
In ihrer Mitte. Angela Merkel und SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz im Reichstag.

© dpa, Gregor Fischer

Doch auf dem Weg liegt neuerdings dieser Stolperstein. Schulz zieht inzwischen in allen Umfragen praktisch gleichauf mit Merkel. Und was noch wichtiger ist: Seine SPD ist plötzlich wieder auf Augenhöhe mit der Union. Keiner lacht mehr, wenn der Kandidat das Kanzleramt beansprucht. In diesem euphorischen Aufschwung erscheint die Bundespräsidentenwahl auf einmal doch als das, was ihr seit Langem nachgesagt wird: als eine Richtungsentscheidung. Für die SPD scheint es, als würden Weihnachten, Ostern und alle anderen Feiertage an diesem Sonntag in Berlin zusammenfallen.

Schulz selbst übt sich übrigens in staatsmännischer Bescheidenheit. Die Bundespräsidentenwahl werde „keinen Einfluss auf den Ausgang der Bundestagswahl“ haben, sagt er dem Team des ZDF. Der Kandidat weiß, dass der Bundespräsident überparteilich agieren muss. Lammert hat darin in seiner Rede erinnert. Aber der CDU-Mann hat auch aus dem einschlägigen Urteil des Verfassungsgerichts den Zusatz zitiert, dass das Staatsoberhaupt „nicht neutral oder meinungslos“ sein müsse.

Die Union sitzt am Vorabend gesellig beisammen

Die Union hat am Vorabend ebenfalls ein geselliges Beisammensein. Es geht da aber nicht ganz so fröhlich zu. CDU und CSU treffen sich abends im Maritim-Hotel und vorher am Samstagnachmittag zur Fraktionssitzung im Reichstag. Merkel und Seehofer appellieren an die Geschlossenheit. Merkel findet auf merkelsche Weise nette Worte für den Kandidaten Steinmeier: der sei „nicht irgendein Sozialdemokrat“, sondern schon sehr geeignet für das höchste Staatsamt.

Leider hat ein Delegierter aufgezeigt und gefragt, also, er wolle ja nichts falsch machen morgen – wo er denn auf dem Wahlzettel den Kandidaten der Union finde? „Das hat die Stimmung ein bisschen versaut“, sagt einer, der die Geschichte erzählt. Wo doch jeder weiß, dass es keinen Kandidaten der Union gibt. CDU und CSU stellen 539 Delegierte, mit Abstand die größte Gruppe. Aber die Größe nützt gar nichts. Sie sollen Steinmeier wählen. Den Sozialdemokraten.

Stehender Applaus. Vorm ersten Wahlgang hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert, CDU, eine über die Fraktionsgrenzen hinweg gelobte Rede gehalten.
Stehender Applaus. Vorm ersten Wahlgang hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert, CDU, eine über die Fraktionsgrenzen hinweg gelobte Rede gehalten.

© dpa/Bernd von Jutrczenka

Es gibt verschiedene Strategien, damit umzugehen. „Der ist doch gar kein Sozi“, tröstet sich Entwicklungsminister Gerd Müller von der CSU. „Das ist eingepreist“, sagt Julia Klöckner, die CDU-Chefin von Rheinland-Pfalz, über die Niederlage. Sie ärgert sich dann aber doch darüber, dass sie jetzt vor jeder Kamera Fragen zu diesem Martin Schulz beantworten muss, bei denen die Fragesteller davon auszugehen scheinen, dass der das Kanzleramt schon so gut wie sicher hat. „Man kann sich die Welt auch schlechtreden“, schimpft Klöckner.

Das stimmt schon, theoretisch. Nur gibt es schließlich auch in der Union Leute, die sich ernsthafte Sorgen machen, ob nicht der Schulz-Hype in der öffentlichen Wahrnehmung eine Sicht auf die Dinge festschreibt, die sich dann später nur noch sehr, sehr schwer wird ändern lassen: Hier der umjubelte Schulz mit steil nach oben geschossenen Umfragen, dort Merkel und Seehofer mit heruntergezogenen Mundwinkeln in Abneigung vereint. Wie man das ändern könnte? „Das ist die Aufgabe der Chefin“, sagt ein CSU-Mann. „Sie muss jetzt zwei, drei Bilder setzen!“ Aber solange sein eigener Chef solche Bilder setzt wie an diesem Sonntag, wird das nicht viel nutzen.

Durch den Reichstag schrillt am frühen Nachmittag die Glocke und ruft alle zurück in den Saal. Die lange Prozedur der Abstimmung ist vorbei, die Auszählung beendet. Lammert bekommt das Ergebnis von einem Schriftführer aufs Podium hochgereicht. 1253 Delegierte haben abgestimmt. „Enthaltungen – 103“, liest der Sitzungspräsident vor. Ein Raunen geht durch den Saal. Wenn man die Stimmen für die vier Kandidaten von Linken, Freien Wählern und AfD zusammennimmt und die immerhin zehn für Vater Sonneborn dazu, dann kann das nur heißen: Da müssen sich neben dem ein oder anderen Grünen oder FDP-Anhänger auch größere Mengen Unionsdelegierte der erbetenen Geschlossenheit verweigert haben. Noch so ein Bild, das eine Kanzlerin nicht stärkt.

Es langt natürlich trotzdem

Es langt für ihn natürlich trotzdem: „Frank-Walter Steinmeier – 931.“ Merkel ist vorneweg mit einem Blumenstrauß, Seehofer kommt direkt danach, dann folgt eine lange Schlange. Lammert kann sich kaum durchsetzen mit der letzten, aber notwendigen Formalie der Demokratie: Er müsse ja nun wenigstens fragen, ob der Kandidat das Amt annimmt. „Ich nehme die Wahl an“, ruft Steinmeier über die Gratulanten hinweg.

Einfach wird es nicht, das weiß er. „Wenn wir anderen Mut machen wollen, brauchen wir selber Mut“, sagt das künftige Staatsoberhaupt. Mut, Werte, das Fundament des alten Westens, das demokratische Ringen um Lösungen, der Widerstand gegen Fremdenfeindlichkeit und Ressentiments sind seine Stichworte. „Liebe Landsleute, lasst uns mutig sein, dann ist mir um die Zukunft nicht bange“, schließt Steinmeier die kurze Ansprache. Mut ist das staatsbürgerliche Mittelding zwischen Frohmut und Missmut. Passt also.

Der Tagesspiegel kooperiert mit dem Umfrageinstitut Civey. Wenn Sie sich registrieren, tragen Sie zu besseren Ergebnissen bei. Mehr Informationen hier.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false