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Auftritt als Büßerin. Bundeskanzlerin Angela Merkel in Hessen mit Volker Bouffier.

© Boris Roessler/dpa

Vor der Wahl in Hessen: Angela Merkels Wahlkampf in eigener Sache

Die Wut auf Berlin? Die solle man bloß nicht an Volker Bouffier auslassen. So wirbt Angela Merkel im hessischen Wahlkampf. Und will damit sich selbst schützen.

Von Robert Birnbaum

Die Kanzlerin bittet um Gerechtigkeit. Der Saal vor ihr im Hotel „La Strada“ in Kassel ist komplett gefüllt; gut 500 CDU-Anhänger wollen Angela Merkel in der letzten Woche vor der Landtagswahl sehen. Volker Bouffier gerät da quasi zum Vorprogramm. Wenn man es etwas bösartig oder vielleicht auch bloß realistisch sieht, entspricht das generell der Rolle, die der Ministerpräsident in seinem eigenen Wahlkampf spielt. Fünf Jahre lang hat Bouffier seine schwarz-grüne Regierung ohne Streitereien erfolgreich geführt. Dafür, dass ihm am kommenden Sonntag eine böse Niederlage droht, kann er selber am allerwenigsten. Und deshalb findet seine Chefin, dass die Klatsche nicht in Ordnung wäre. „Wenn Sie Wut haben, was in Berlin passiert, schreibense mir ’nen Brief“, schlägt Merkel vor. „Es kommt auch wieder ’ne Bundestagswahl.“ Aber bitte nicht den Unmut an Bouffier auslassen!

Ob der Appell beim Publikum fruchtet, ist schwer auszumachen; der Zeitplan für den Termin war ein wenig ins Durcheinander geraten, jetzt streben die meisten eilig in den Feierabend. Andererseits muss man in Rechnung stellen, dass Kassel als alte Industriestadt mit VW als großem Arbeitgeber traditionell eine rote Hochburg ist. 500 Zuhörer an einem Montagnachmittag sind für CDU-Verhältnisse gar nicht mal schlecht.

Es kommt im Wortsinn auf jede Stimme an

Außerdem pflegen im Swing-Land Hessen Wahlen knapp auszugehen. Bouffier hat vorhin daran erinnert, dass bei den letzten sechs Wahlen stets ein einziger Sitz im Landtag darüber entschieden hat, ob die CDU die Regierung anführt oder die SPD. Vor fünf Jahren fühlte sich sein Gegenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel am Wahlabend für ein paar Stunden als Ministerpräsident in spe. Es kommt da im Wortsinn auf jede Stimme an, von 500 Wählern ganz zu schweigen.

Nur dass diesmal die hessischen Verhältnisse noch komplizierter sind als gewöhnlich. Das liegt weniger an der AfD, die in den Umfragen mit etwa zwölf Prozent eher am unteren Rand ihrer Möglichkeiten rangiert. Es liegt schon stärker an den Grünen. Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir hat es zum beliebtesten hessischen Politiker gebracht, und das als Minister für Wirtschaft, Energie und Verkehr! Dazu kommt der Aufwind, der die Ökos in der ganzen Republik nach oben trägt – in Hessen machen sie der SPD im 20-Prozent-Bereich den zweiten Platz streitig. Und schließlich die parallele Schwäche der zweiten Volkspartei. Zuletzt 26 Umfrage-Prozente empfinden sie im kampferprobten CDU-Verband als eine glatte Beleidigung.

Auch Volker Bouffier mag das nicht so richtig verstehen. Er muss sein Land nicht schönreden; die Wirtschaftsdaten sind bestens. Man nehme nur Kassel: einst Zonenrandgebiet mit Arbeitslosenquoten um die 20 Prozent, heute bei vier Prozent. Aber nun ja, brummelt der 66-Jährige, wenn man ihn darauf anspricht: Wenn es den Leuten lange gut geht, dann erscheint ihnen plötzlich anderes wichtiger, kleine Unterschiede, Stilfragen.

Wieso soll er die Zeche zahlen?

Nur – was hat er damit zu schaffen? Dass die CSU in Bayern vor einer Woche die Quittung für ihren Beitrag zu dem Chaos bekam, das das Bild der großen Koalition in Berlin beherrscht, fand Bouffier ganz richtig und sagte es auch. Aber er, der in all den Berliner Querelen als stiller Vermittler agiert hat, der dem Burgfrieden zwischen Merkel und Horst Seehofer im letzten Flüchtlingskrawall den Weg ebnen half – wieso soll er die Zeche zahlen?

Dass er womöglich nicht der Einzige bleiben wird, ist kein wirklicher Trost. Angela Merkel kommt in dieser letzten Wahlkampfwoche vier Mal nach Hessen. Sie tritt als optimistische Büßerin auf: Ich habe verstanden. „Ich weiß, dass wir Ihnen im letzten Jahr eine Menge zugemutet haben“, sagt sie in Kassel genauso wie zwei Stunden später in Ortenberg in der Wetterau. Wobei die Bundesregierung viel geschafft habe, allein Jens Spahn in der Pflege – „aber wenn der Stil nicht stimmt, wenn man immer nur den Streit hört …“ Aber sie habe jetzt den Schuss gehört; und umso wichtiger, dass Hessen in ruhigem Fahrwasser bleibt.

Das darf man durchaus hinterlistig nennen. Der Appell, die Wut nicht an Bouffier auszulassen, ist nämlich einer in eigener Sache. Den Absturz der CSU in Bayern konnte die CDU-Chefin still für sich als Bestätigung verbuchen, dass sich Seehofer mit seinem Dauerkonflikt verzockt hat. Wer sie dieser Tage darüber reden hört, dass jetzt langsam mal Schluss sein müsse mit der rückwärtsgewandten Debatte über den Herbst 2015, kann sogar eine gewisse Vorfreude auf letzte Amtsjahre ohne den Quälgeist heraushören.

Dass Seehofer davon kommt, glaubt niemand mehr

Seehofer wechselt ja inzwischen alle drei Tage zwischen Drohungen und Selbstmitleid, ohne dass ihm irgendjemand aus der CSU zur Seite springt. Dass ihn ein Sonderparteitag noch mal davonkommen lässt, glaubt niemand mehr außer vielleicht manchmal er selbst.

Aber wenn die stille, freundliche Hessen-CDU mit dem gefurchten Schildkröterich Bouffier an der Spitze genauso einbricht wie die bayerische Schwester, dann landet das auf Merkels Schuldenkonto. Da müsste sich dann nicht mal Seehofer hinstellen und maliziös lächelnd anmerken, dass er ja bekanntlich an allem schuld sei, daran aber doch nun wirklich nicht. Es reichte völlig die Erinnerung, dass die Kanzlerin am Berliner Erscheinungsbild kräftigen Anteil hat.

Alleine der Umgang mit der Diesel-Krise! Diesel-Gipfel, Diesel-Koalitionsrunde, Sonntags hastige Diesel-Sondersitzung der CDU-Spitze mit der Ankündigung, Vorschriften so zu ändern, dass es nun aber wirklich keine Fahrverbote geben solle. Am Dienstag versichert Merkel noch einmal, Frankfurt bekomme notfalls das „volle Programm“ inklusive Hardware-Nachrüstung. Selten hat Politik ihre Hilflosigkeit derart offengelegt.

Das ist zwar auch kein ganz gerechtes Urteil, weil das Problem wirklich verzwickt ist und jede Lösung irgendwen zu Unrecht belastet. Aber eben in Frankfurt – Pendlerhauptstadt Deutschlands, fast zwei Drittel der Beschäftigten wohnen nicht in der Stadt – droht nächstes Jahr ein Fahrverbot. Von den rund 4,4 Millionen hessischen Wählern lebt allein eine halbe Million in der Bankenstadt selbst. Und im übrigen Land schlägt der Preisverfall für ältere Diesel zu. Kurz: Bouffier verhagelt das Thema die Stimmung.

Die Moderatorin bittet um Musik

Das ist übrigens auch wieder ein paradoxer Nebeneffekt seiner erfolgreichen Regierungsarbeit. In Kassel veranstalten sie als Vorprogramm eine Mini-Talkshow mit der Platzhindin, der Justizministerin Eva Kühne-Hörmann, und anderen örtlichen CDU-Kandidaten. Einer der Kandidaten beklagt den Arbeitskräftemangel im Handwerk. Ein anderer, hauptberuflich Wasserschutzpolizist, geißelt Attacken auf Feuerwehrleute und Sanitäter, und alle sind sich einig, dass man es als Christdemokraten im roten Nordhessen besonders schwer hat. Nach einer halben Stunde weiß niemand mehr, worüber er nun noch reden soll. Die Moderatorin bittet um Musik.

Der Wahlkampf, mit anderen Worten, hat kein Thema. In dem Faltblatt, das auf jedem Stuhl und noch mal extra vorne im Foyer ausliegt, sichert der Landesvater den Vertriebenen und Aussiedlern weitere Unterstützung zu. Von denen leben viele in der Region, das Grenzdurchgangslager Friedland ist sozusagen um die Ecke. Diese einstmals treue CDU- Klientel schielt neuerdings stark in Richtung AfD. Da muss man was tun.

Spähposten. SPD-Kandidat Thorsten Schäfer-Gümbel sah sich am Wahlabend 2013 schon als Sieger.
Spähposten. SPD-Kandidat Thorsten Schäfer-Gümbel sah sich am Wahlabend 2013 schon als Sieger.

© Frank Rumpenhorst/dpa

Aber auch damit lässt sich kein Abend füllen. „Es kann ja nicht sein, wenn’s schiefläuft, ist die Landesregierung dafür zuständig, und wenn’s gut läuft, nimmt’s jeder hin“, beschwert sich Bouffier und beschwört seine Truppen: Wer in der Wahlkabine „fünf Minuten aus Frust oder was auch immer“ sein Kreuz anderswo mache, der dürfe sich dann nicht wundern, wenn die CDU die nächsten fünf Jahre nicht dabei sei.

Bouffier kämpft für sich selbst – als Motto-Song hat er sich „Burning Heart“ aus dem vierten „Rocky“-Film von 1985 ausgesucht, „der alte Boxer, der’s noch mal wissen will“, erzählt seine Frau Ursula in Kassel. Er kämpft aber wohl oder übel auch für seine Vorsitzende. Denn es gibt eine ganze Reihe von Leuten in der CDU, die glauben, dass die Hessen-Wahl für Merkel zum Schicksal wird.

Einige hoffen es regelrecht. Die konservativen Ultras von der selbst ernannten „Werte-Union“ kündigen für den CDU- Parteitag Anfang Dezember in Hamburg schon Anträge an, die man früher eher grünen Fundis zugetraut hätte: Amtszeitbegrenzung zum Beispiel oder die Trennung von CDU-Vorsitz und Kanzleramt. Das ist zwar wegen ausgeprägter realpolitischer Dämlichkeit vollkommen chancenlos. Auch die drei relativ namenlosen CDU-Mitglieder, die Merkel vom Parteivorsitz verdrängen wollen, dürften nur sehr kurz im Rampenlicht aufblitzen.

Der "Brinkhaus-Moment" hilft Merkel womöglich

Andererseits – wenn ein Parteitag über solche Fragen erst einmal debattiert, kann er leicht eigene Dynamik entfalten. Dass der stille Ralph Brinkhaus den alten Haudegen Volker Kauder vom Fraktionsvorsitz schubsen würde, hat vorher schließlich auch keiner geahnt.

Wobei der „Brinkhaus-Moment“ Merkel womöglich sogar hilft. Die Fraktion hat ihr einmal die Grenzen aufgezeigt; wenn sie Glück hat, verbucht das der Parteitag als den Denkzettel, der sonst in Hamburg fällig werden könnte. Und Brinkhaus selbst ist kein Putschist, sondern ausdrücklich ein Unterstützer der Kanzlerin. Gut möglich, dass sein Wort zu ihren Gunsten weit schwerer wiegt, als es der soundsovielte Ordnungsruf Kauders noch vermocht hätte.

Aber sicher ist das alles nicht. Fällt die CDU noch weiter, verliert Bouffier sein Amt, wird Hessen rot-rot-grün regiert oder von einem Ministerpräsidenten Al-Wazir … vieles erscheint denkbar. Das Land war immer schon Politiklabor. Hier hat der Turnschuhminister Joschka Fischer Rot-Grün ausprobiert, Andrea Ypsilanti offen, wenn auch vergeblich Rot- Rot-Grün. Bouffiers eigenes schwarz-grünes Bündnis war ein Experiment mit einer CDU, in der manch einer immer noch Roland Kochs Kampagne gegen den Doppelpass nachtrauert.

Er warnt vor den Grünen, der AfD. Und sicherheitshalber vor der FDP

Bouffier versucht die Abwehrreflexe zu wecken. Er warnt vor einer „linken Mehrheit“, die „Gift“ wäre fürs Land – den Grünen gönne er vieles, „aber nicht auf unsere Kosten“. Er warnt vor der AfD: „So wie die waren wir nie und so wie die werden wir nie, und die brauchen wir auch nicht.“ Er warnt sicherheitshalber sogar vor der FDP und der Versuchung, einer Zweitstimmenkampagne auf den Leim zu gehen: Diese Typen, die in Berlin vor Jamaika weggelaufen seien, könnten auch Hessen nicht stabil halten.

Und er trommelt, drängt, beschwört: „Es geht um Hessen!“ Wobei, ein wenig geht es Volker Bouffier schon auch um Angela Merkel. „Diese Welt ist ein gutes Stück durcheinander“, sagt er, als er die Kanzlerin auf die Bühne bittet, „und du bist immer mittendrin!“ Das ist aber, wohlgemerkt, als Kompliment gemeint.

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