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Aus dem Sattel. In Thüringen, hier die Wartburg, könnte die Landtagswahl eine noch nie dagewesene Situation bringen.

© Georg Ismar

Vor der Landtagswahl von der Linken bis zur AfD: Was 170 Kilometer Wanderweg über Thüringen verraten

Hier leben ratlose Fliesenleger, Marxismus-Freunde, hoffnungsvolle Wirte – und ein kämpferischer Bürgermeister. Eine Vor-Wahl-Radtour entlang des Rennsteigs.

Letztens ist in Ruhla auch Björn Höcke aufgetreten, Spitzenkandidat der AfD. Brachte seine spalterischen Botschaften unters Volk und war wieder weg. Aufmerksam wird registriert, dass ihn die Kommunalpolitik wenig interessiert, da, wo Politik konkret werden muss.

Im Gasthof zum Landgrafen wird die Erbsensuppe kalt, Gerald Slotosch, Jahrgang 1968, erzählt und erzählt. Seit Juli 2018 ist Slotosch Bürgermeister der Kleinstadt im Thüringer Wald. Parteilos – und als solcher ein Seismograf für die Stimmung im Bundesland, kurz vor der Wahl. Höcke nennt er nur „unseren hessischen Gymnasiallehrer“. Ihm geht es darum, der AfD etwas entgegenzusetzen, wenngleich es auch hier die „große graue Masse“ der Unzufriedenen gebe.

Die heute 30-Jährigen seien nach der Wende in ihren Familien mit einer Abstiegsangst groß geworden, genau die gebe es heute wieder: Reicht das Geld? Muss man gehen? „Da stoßen Themen wie Arbeit, Familie, Heimat auf Gehör“, sagt er. „Die Großeltern und die Enkel, die wählen überproportional die AfD.“

Er sitzt er vor einem großen Wandgemälde des Thüringer Waldes, auf einem Berg thront die Wartburg. Es läuft Johnny Cash, „Ring of fire“. „It burns, burns, burns“. Slotosch sagt: „Diese Stadt hat der zunehmenden Globalisierung, die in alle Lebensbereiche hineinreicht, eine Lokalisierung entgegengesetzt.“ Will heißen: eine Besinnung auf Heimat und die Pflege von Tradition; so gibt es etwa Mundart-Festivals, mehr als die Hälfte der 5600 Einwohner ist in den insgesamt 33 Vereinen organisiert – viel Begegnung statt Rückzug in die Resignation.

Der Betrieb beschäftigte 5000 Leute. Zuletzt noch 50

Keine Region steht so für Thüringen wie der Rennsteig, der bekannteste Wanderweg der früheren DDR, ungefähr 170 Kilometer lang. Mit einigen Abweichungen ist er auch mit dem Rennrad befahrbar. Das war die Ausgangsidee.

Die Frage dabei ist stets: Wie ist die Stimmung vor der Wahl, die eine noch nie da gewesene Situation in Deutschland bringen könnte? Gut möglich, dass am 27. Oktober die AfD oder die Linke vorn liegt, die mit Bodo Ramelow hier ihren einzigen Ministerpräsidenten stellt. Da die CDU, in Umfragen abgeschlagen auf Platz 3, eine Koalition mit der Linken ausschließt, könnte es sein, dass keine Regierungsmehrheit möglich ist.

Der Stein ist immer dabei. Kiesel aus der Werra, er könnte einiges erzählen.
Der Stein ist immer dabei. Kiesel aus der Werra, er könnte einiges erzählen.

© Georg Ismar

Am Rennsteig-Start in Hörschel an der Werra, an der Landesgrenze zu Hessen, steht: „Wanderer, halt ein. Trag, nach alter Sitte, einen Stein zur Selbitz bitte.“ Bis zur Selbitz in Blankenstein, an der Grenze zu Bayern. Das mag auch für Radfahrer gelten. Der Stein ist immer dabei, könnte einiges erzählen über Abstiegsängste, Brüche, die wegziehende Jugend, eine Wiederentdeckung der Heimat, über eine Partei, die vergessen schien – und über das Feindbild Borkenkäfer.

Nach 35 Kilometern landet man am Marktplatz in Ruhla. Das Städtchen hatte seit 1862 eine Uhrenindustrie. Von Spiel- über Armband- bis zu Schachuhren. Zu DDR-Zeiten war das Uhren-Maschinen-Kombinat Ruhla der mit Abstand wichtigste Arbeitgeber, der Volkseigene Betrieb beschäftigte rund 5000 Leute. Dann fiel die Mauer, die Treuhand-Gesellschaft löste die Uhrenwerke auf, zuletzt waren noch rund 50 Leute in einem Nachfolgeunternehmen vor Ort beschäftigt, das im August Insolvenz anmelden musste. Viele müssen weit pendeln.

Die Touristen kommen langsam wieder

Bürgermeister Slotosch, kleine Brillengläser, das braune Haar verwuschelt, sagt: „Der Zusammenhalt der Gesellschaft hier braucht einen parteilosen Bürgermeister.“ Die Skepsis gegenüber Parteien sei groß. Im Stadtrat hat das Bürgerbündnis, zu dem Gerald Slotosch gehört, sechs Sitze, die CDU auch, SPD und Linke als gemeinsame Fraktion vier, die AfD drei und die Freien Wähler einen.

In der Region seien nach der Wende mehr als 7000 Industriearbeitsplätze weggefallen, sagt er, innerhalb kurzer Zeit abgewickelt von der Treuhand. Der Frust von heute habe seine Wurzeln in der Zerschlagung von Lebensleistungen damals. Die AfD, aber auch die Linke verlangen nach einem weiteren Untersuchungsausschuss zur Abwicklungspolitik der Treuhand im Bundestag. „Ruhla war eine Arbeiterstadt, die innerhalb weniger Jahre auf den Nullpunkt ging.“ Heute könne man hier gut leben, preiswerter Wohnraum, inmitten grüner Hügel. Auch Touristen kommen langsam wieder.

Gerald Slotosch, Bürgermeister von Ruhla.
Gerald Slotosch, Bürgermeister von Ruhla.

© Georg Ismar

In Ruhla wird gerade der Herbstmarkt aufgebaut, bei dem viele Vereine mitmachen. Hier leben noch genug Ärzte und Handwerker, es gibt einen Metzger. Aber die Unsicherheit wächst. „Der Fliesenleger sagt mir, wenn ich in zehn Jahren in Rente gehe, gibt’s hier keinen Fliesenleger mehr“, sagt der Bürgermeister. „Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann dass die Bundes- und Landesregierung ganz massiv finanziell die Ausbildung von Handwerkern fördert und viel mehr für diese Berufe wirbt. Sonst haben wir hier bald niemanden mehr.“

Aber auf dieser Reise sind in einigen Orten auch Menschen anzutreffen, die zurückgekommen sind. Wegen des Waldes, ein Ort der Heimat in stürmischen Zeiten. Und doch klingt die Klage überall ähnlich: Arbeitskräftemangel und stattdessen Abwanderung der jungen Leute nach Hessen und Bayern, weil dort mehr gezahlt wird und mehr los ist.

Von Ruhla geht es weiter, hinauf auf 800 Meter. An einem Imbiss gibt es „Steinbacher Bratwurst – Spitzenqualität“. Hier verlief über den Höhenkamm des Thüringer Waldes früher eine wichtige Handelsroute für Kaufleute und Kuriere. Mitten im Wald stehen alte Wegsteine, die noch die Entfernungen zu den nächsten Poststätten anzeigen.

Zerstörte Fichten - „Käferbäume“ heißen sie hier

Was auffällt: viele freie Flächen im Wald, umgefegt vom Wind, der Trockenheit zum Opfer gefallen. Und viele braune, zerstörte Fichten, „Käferbäume“ heißen sie hier.

Die AfD macht Stimmung gegen das Klimathema, aber auch hier ändert sich, das zeigen Gespräche, etwas in den Einstellungen. Denn die Trockenheit hat zu einer massiven Ausbreitung des Borkenkäfers geführt, der Zigtausende Bäume angegriffen hat, ein Effekt des Klimawandels, denken viele. Der Landesbetrieb Thüringenforst rechnet laut MDR damit, dass bis zum Jahresende etwa 2,5 Millionen Festmeter Fichtenholz betroffen sein könnten – es werden Drohnen zur Käfererkennung eingesetzt, einige fordern Hilfe der Bundeswehr.

170 Kilometer lang - der Rennsteig, der bekannteste Wanderweg der DDR.
170 Kilometer lang - der Rennsteig, der bekannteste Wanderweg der DDR.

© Georg Ismar

Wieder Richtung Tal hängen entlang der Strecke immer wieder Plakate mit dem Gesicht des amtierenden linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Darauf der Slogan: „Was ein Mensch braucht“. Dem Plakat nach sind das: „Respekt, Wohnung, gute Arbeit, Rente, Sicherheit, Natur, Solidarität, Zeit“. Auf einem Plakat hat jemand seine Antwort von „was ein Mensch braucht“ über Ramelow drübergesprüht: „Drugs“.

Viele AfD-Plakate sind zu sehen („Freiheit statt Sozialismus, Die Revolution vollenden“), solche von der CDU („Windrad-Wahnsinn – Schluss damit“, „Angriffe auf Polizisten – Schluss damit“), dazu jene von FDP und Grünen. Gefühlt am häufigsten jedoch fallen Botschaften einer Partei ins Auge, die hier noch einmal richtig angreifen will. Sie wirbt mit dem „Recht auf Flucht“ und einer Alternative zum „Rechtsruck der Regierung“.

Begrüßungsgetränk: „Caipirinha im Doppeldecker“

Es sind Plakate der vom Verfassungsschutz beobachteten Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands, MLPD. Auf Nachfrage betont der Landeschef Tassilo Timm: „Thüringen ist derzeit das schwächste Kettenglied für die Herrschenden.“ Dort sei die Vertrauenskrise in die bürgerliche Politik besonders ausgeprägt. Die Kandidatur sei eine Kampfansage an die AfD. Immer wieder bekommt die MLPD hohe Einzelspenden, vor allem über Erbschaften, für Thüringen wurden schon 220000 Euro eingesammelt.

Redet man entlang des Rennsteigs mit Menschen über Bodo Ramelow, so bescheinigen ihm viele, einen guten Job zu machen. Es zeigt sich ein Phänomen, das schon bei Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) und bei Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer (CDU) bei den jüngsten Landtagswahlen eine wichtige Rolle spielte: Sie wurden wegen des Vertrauens in ihre Person gewählt. Das verhalf ihren Parteien zum Wahlsieg. So dürften auch viele Kreuze bei der Linken wegen Ramelow gemacht werden, nicht wegen seiner Partei. Bessere Zug- und Busanbindungen, Kampf gegen Lehrer- und Polizeimangel, mehr touristische Infrastruktur: Ramelow hat vieles angepackt, aber seine rot-rot-grüne Koalition könnte keine Mehrheit mehr bekommen.

Weiterradeln, vorbei an Plakaten, die eine Ü-30-Party anpreisen, Begrüßungsgetränk: „Caipirinha im Doppeldecker“. Hoch nach Oberhof, bekannt für Skispringen und Biathlon. Hier wird viel investiert, was auch für die umliegenden Gemeinden dank des Tourismus etwas abwirft. Auch wichtig in solchen Zeiten: Der Ersatzbau einer Jugend-Skisprungschanze wird von Firmen der Region durchgeführt. Hier trainiert der olympische Nachwuchs. Nur 15 Kilometer weiter, eine steile Abfahrt herunter, liegt Suhl. Hier geht der Nachwuchs.

„Diesen Weg auf den Höhn bin ich oft gegangen“

Seit einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft hat die frühere DDR-Bezirksstadt den Titel „Älteste Stadt Deutschlands“ – wegen des Alters ihrer Bewohner. Deren Durchschnittsalter liegt demnach bei 50,3 Jahren, sechs Jahre über dem Bundesdurchschnitt. Außerdem gilt Suhl als die bundesweit am schnellsten schrumpfende Region, seit der Wende wanderten mehr als ein Drittel der Bewohner ab.

Hier arbeitet Alexander Braun als Polizist, er wohnt einige Kilometer entfernt in Hirschbach. Zum Rennsteig hat er eine besondere Verbindung, wie er an der Theke des Gasthofs zum Goldenen Hirsch erzählt. Im Gemeindesaal des Gasthofs wurde am 15. April 1951 das Rennsteiglied des Komponisten Herbert Roth, ein gebürtiger Suhler, uraufgeführt. Darin heißt es: „Diesen Weg auf den Höhn bin ich oft gegangen, Vöglein sangen Lieder. Bin ich weit in der Welt, habe ich Verlangen, Thüringer Wald, nur nach dir.“

Braun ist zwar erst 1979 geboren, aber die Legende der Uraufführung gehört zur Familiengeschichte. „Meine Oma war hier Köchin und der Herbert Roth ist hier öfter aufgetreten. Hier waren immer viele Urlauber vom Freien Deutschen Gewerkschafts-Bund“, erzählt er. „Herbert Roth hat sein Repertoire da drüben im Saal gespielt, es war eigentlich wie immer, das Rennsteig-Lied war eigentlich nur die Zugabe.“ Es wurde die heimliche Hymne Thüringens daraus.

Warum diese Bedeutung des Rennsteigs? „Na, das war zu DDR-Zeiten der Höhen-Wanderweg schlechthin. Wir hatten keine Alpen, das Gebirge der DDR war der Thüringer Wald.“ Nach der Wende fuhren die Leute erst mal anderswohin, doch mittlerweile kommen wieder Wanderer aus ganz Deutschland.

Ein Bild: Einheimische und Migranten in Umarmung

Auch Alexander Braun beklagt, dass viele junge Leute weggezogen sind. Manche kämen wieder zurück, wenn sie Kinder hätten, sie schätzten die Nähe zu den Großeltern. „Aber viele sind halt weg.“ Industrie gebe es in dem Sinne nicht mehr, nur Autohäuser, Supermärkte, Handwerksbetriebe und die Fabrik „Merkels Jagdwaffen“. Auch in Suhl ruht die Hoffnung auf dem Tourismus.

Es geht weiter Richtung Schleusingen, an einer Kirche hängt ein Banner mit einem Spruch von Martin Luther King: „Dunkelheit kann Dunkelheit nicht vertreiben. Nur Licht kann das. Hass kann Hass nicht vertreiben. Nur Liebe kann das.“ Gegenüber steht ein Bushaltestellenhäuschen, auf der Wand ein Bild von Einheimischen und Migranten in Umarmung, dazu der Schriftzug: „Ihr kommt als Fremde und bleibt als Freunde.“ Es gibt hier beides: Willkommen und Ausgrenzung, ein Spiegel der Spaltungen im Land.

Fremde Freunde. Bushaltestellenhäuschen auf dem Weg nach Schleusingen.
Fremde Freunde. Bushaltestellenhäuschen auf dem Weg nach Schleusingen.

© Georg Ismar

Bei Biberschlag räumt ein älterer Herr in seiner Garage Sperrmüll zusammen, er ist Wahlvorstand am 27. Oktober und will deshalb seinen Namen nicht nennen. „Jammern gehört zum Handwerk“, sagt er. „Früher hat halt der Staat alles geregelt, hier sind viele Opfer der Marktwirtschaft geworden.“ Das Glaswerk ist zu. „Der Konsum, alles dicht.“

Es geht hoch zur Werramündung, an der Quelle steht auf einem großen Stein, na klar: das Rennsteiglied. Ein Reh springt über den Weg, ein paar Wanderer sind unterwegs. Mitten im Wald steht ein paar Kilometer weiter unvermittelt eine Stelltafel der Deutschen Bahn, von Moos und Farn umwuchert. „München: 300 Kilometer, Berlin: 360 Kilometer“, steht darauf. Und weiter: „Bleßbergtunnel: 235 Meter, unter diesem Wanderweg.“ Nach langer Bauzeit trägt der 8314 Meter lange Tunnel dazu bei, dass München und Berlin viel schneller zu erreichen sind – und Thüringen besser angebunden ist.

„Und dann bist du plötzlich in Ruhla“

Nach knapp 245 Kilometern ist schließlich der Zusammenfluss von Selbitz und Saale erreicht. Der am Start in Hörschel mitgenommene Stein fliegt ins Wasser, Zeit, über das Erlebte nachzudenken.

Im Kopf bleibt besonders die Begegnung mit Berry de Regt. Den Holländer hat es nicht weg-, sondern hergezogen. Er hat den Landgasthof in Ruhla übernommen, wo Bürgermeister Gerald Slotosch seine Erbsensuppe aß. Er war vorher jahrelang in der Gastronomie in der Schweiz tätig, aber er und seine aus Deutschland stammende Frau konnten mit der Ausländern gegenüber nicht sehr freundlichen Mentalität wenig anfangen. In Ruhla dagegen fühlen sie sich wohl.

Warum dort? „Das ist so, als wenn man ein Auto kauft. Man sucht im Internet nach einem Gasthof. Und dann bist du plötzlich in Ruhla. Da hatte ich noch nie von gehört. Ich muss noch acht Jahre arbeiten, hier geh ich nicht mehr weg.“

Er erzählt, dass ihn überrasche, dass am Stammtisch vor allem noch so viel über die Wende gesprochen werde. Gerade für die Älteren gelte das Motto: Früher war es besser. „Das ist in Holland genauso, das ist an jedem Stammtisch gleich.“ Der Strukturwandel sei halt mitnichten ein deutsches Problem.

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