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Viktoriapark: Nutzer und Beschmutzer

Der Viktoriapark in Kreuzberg war einst eine Schanze gegen Napoleon. Heute ist er als Trinkort bei Touristen beliebt.

Von Jörg Wunder

Alle jammern über den nasskalten Sommer. Aber wenn man an so einem verregneten Julinachmittag durch den Viktoriapark schlendert, lernt man das Wetter zu schätzen. Normalerweise wären die Liegewiesen, die sich von der Kreuzbergstraße zu Schinkels Befreiungsdenkmal schwingen, zu dieser Zeit nur noch versteppte Hartgrasflächen, auf denen Abijahrgänge oder Easyjet-Reisegruppen ihre Gelage abhalten, während Frisbeespieler, Klötzchenwerfer, Jongleure und Seiltänzer ihre Geschicklichkeit demonstrieren und die unvermeidlichen Bongotrommler monoton vor sich hin bongen. Ende August kommt dann der kleine Rummel mit Buden und Fahrgeschäften und gibt der Vegetation den Rest. Stattdessen: saftiges Gras, sich unter ihrer Blätterlast biegende Bäume, keine platt gelegenen oder zugemüllten Flächen. Und kaum Menschen. Aber das will man ja auch wieder nicht.

Viktoriapark: Ein Ort der Ruhe

Immer habe ich Freunden von der Schönheit des Parks vorgeschwärmt, der in den letzten zehn Jahren mein zweites Wohnzimmer wurde. Habe geschwärmt von Sonnenuntergängen und Regenbögen, von Begegnungen mit Eichhörnchen und Füchsen, von Mauerseglern und Fledermäusen, die sich in der Abenddämmerung auf Mückenjagd begeben. War begeistert von der hügeligen, sorgfältig komponierten Parklandschaft. Erfreute mich am alten Baumbestand mit seiner Artenvielfalt: Buchen, Eichen, Ulmen, Eschen, Douglasien und viele mehr. Berichtete schaudernd vom plötzlichen Sturm im Juli 2002, als ich auf der Liegewiese lümmelte und einer der großen Bäume wie ein Streichholz umgeknickt wurde. War beglückt vom Rauschen des 25 Meter hohen Wasserfalls, der einem natürlichen Vorbild im Riesengebirge nachempfunden ist. Beschrieb euphorisch die stille Wolfsschlucht oder den verwilderten Rosengarten, lauschige Plätzchen, wo sich kaum jemand hin verirrte. Ein Ort der Ruhe inmitten des Molochs Berlin.

Doch irgendwann war es mit der Ruhe vorbei, denn die gute Stube von Kreuzberg 61 wurde voller: erst allmählich, mit der Ansiedlung etlicher Hostels rund um den Mehringdamm, immer rasanter stieg die Zahl der Nutzer und leider auch Beschmutzer der Parkanlagen. Engagierte Anwohner ernten Spott, wenn sie die Gäste zum schonenden Gebrauch der grünen Insel ermahnen, und selbst die Pfandsammler können nicht so viele Flaschen wegtragen, wie die nächtlichen Feierscharen leer saufen – das Scherbenmeer auf der Denkmalplattform kündet davon. In den letzten Jahren haben sich die Naherholungsmöglichkeiten durch den Park am Gleisdreieck und das Tempelhofer Feld dramatisch verbessert, aber der Beliebtheit des Viktoriaparks tut das keinen Abbruch.

Dabei kann der Park nicht mit Superlativen protzen: Keine 30 Meter beträgt der Höhenunterschied zwischen Kreuzbergstraße und Denkmal, nur knapp 13 Hektar umfasst das ganze Areal - die Hasenheide ist fast viermal so groß. Und doch, es ist eine kleine Welt um den Hügel, der dem Bezirk 1920 seinen Namen gab. Dabei hieß der Kreuzberg damals erst ein knappes Jahrhundert so. Zuvor war die sich 66 Meter über den Meeresspiegel erhebende Kuppe als Sandberg, Tempelhofer Berg oder Runder Weinberg bekannt. Nur einmal trat sie ins Licht der Geschichtsschreibung, als sich 1525 der brandenburgische Kurfürst Joachim I. vor einer von seinem Hofastrologen prophezeiten Sintflut dorthin rettete. Eine Posse, aus der Werner Bergengruen 1940 einen historischen Roman mit Gegenwartsbezug destillierte.

Der Viktoriapark im Wandel der Zeit

Fast 300 Jahre später wurde der Hügel militärisch befestigt und sollte einem Vorstoß der napoleonischen Truppen auf Berlin standhalten. Doch Napoleon kam nur bis Großbeeren. Auf den Schanzanlagen wurde dann 1821 das Befreiungsdenkmal errichtet, mit dem des Sieges über den Eroberer gedacht wurde. Der Architekt Karl-Friedrich Schinkel hatte ursprünglich eine ganze Kathedrale im Sinn, beschränkte sich aber auf eine Sparversion in Form der 20 Meter hohen neugotischen Spitze mit bekrönendem Kreuz – daher der Name. Auch viele der umliegenden Straßennamen erinnern an den Krieg gegen Napoleon: Sie sind nach Schlachtorten (Großbeeren, Möckern, Katzbach) oder preußischen Militärs (Yorck, Bülow, Katzler) benannt. Und selbst die von Sprayern immer wieder umdekorierte Heinrich-von-Kleist-Statue – aktuell trägt der Dichter ein dezentes Silbergrau mit neongrünen Augenringen – ist Teil eines 1899 entstandenen Skulpturenensembles, mit dem die Kriegsereignisse verherrlicht wurden.

Angesichts der Rolle von Kreuzberg bei der Etablierung links-alternativer Lebensentwürfe wirkt die militaristische Konnotation des Viktoriaparks wie ein Relikt aus grauer Vorzeit. Tatsächlich siedelten sich rund um das neue Ausflugziel schon im 19. Jahrhundert zivilisierte Nachbarn wie Gartenlokale und ein Vergnügungspark an. 1878 wurde das Denkmal hydraulisch angehoben und mit einem acht Meter hohen Sockel versehen - es sollte sich von der Umgebungsbebauung abheben. Die Anlage des Viktoriaparks in zwei Abschnitten zwischen 1888 und 1916 durch Stadtgartendirektor Hermann Mächtig und seinen Nachfolger Albert Brodersen war der Versuch, dem Monument einen „würdigen“ Rahmen zu geben. Denn längst war Berlin dabei, das 70 Jahre früher noch vor den Toren der Stadt gelegene Gebiet zu schlucken. Sichtbarstes Zeichen dafür ist noch heute im Süden der Komplex der ehemaligen Schultheiss-Brauerei, auf dem Eigentumswohnraum für Gutverdienende entsteht. Näher als die Brauerei rückte das industrielle Berlin nicht an den Viktoriapark heran. Die Realisierung von Albert Speers Nord-Süd-Achse, bei der der Park hinter monströsen Kolonnaden verschwunden wäre, blieb der Stadt durch den Zweiten Weltkrieg erspart.

Nach Beseitigung der Kriegsschäden war der Viktoriapark endlich kein ideologisch aufgeladener Ort mehr. Daran ändert auch das 1952 errichtete Vertriebenendenkmal nichts, heute nur noch eins von mehreren Monumenten, darunter das anonym aufgestellte „Mahnmal gegen das Patriarchat“. Die großen Umwälzungen sind Vergangenheit, aber auch die kleinen Fragen beschäftigen die Menschen im Kiez. Wird der Wasserfall im Sommer angestellt oder nicht? Ist die Musik in der Biergartendisco „Golgatha“ immer noch die gleiche wie vor 20 Jahren? Was sind das für Typen, die aus dem Klohäuschen am Denkmal ein Café gemacht haben? Und was wird eigentlich aus der Terrasse an der Katzbach-/Ecke Kreuzbergstraße? Vor gut einem Jahr begannen dort Restaurierungsarbeiten, mittlerweile ist seit Monaten kein Bauarbeiter mehr zu sehen. Die Renaturierung des Gemäuers ist in vollem Gange. Bei dem Wetter dürfte sie kaum aufzuhalten sein.

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