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Kinderzimmer mit Inkubatoren. Lena und Christian Zwer sind Eltern von Vierlingen, die viel zu früh geholt werden mussten. Zwei der vier Brutkästen sind abgedeckt, um die Frühchen vor dem Licht zu schützen.

© Kai-Uwe Heinrich

Vierlinge in der Charité: Plötzlich Großfamilie

Vierlinge auf die Welt zu bringen, das ist extrem selten. Und eine Herausforderung für Eltern und Ärzte. An der Charité hat ein Brandenburger Paar diese Herausforderung jetzt gemeistert. Und dabei eine schwierige Entscheidung treffen müssen.

Greta, bei ihrer Geburt 36 Zentimeter klein und 895 Gramm leicht, maunzt. Schreien kann man das Geräusch nicht nennen, dafür ist es viel zu leise. Ein winziges Händchen stemmt sich gegen den geriffelten Plastikschlauch, unter dem ihr Gesicht kaum zu sehen ist: Eine Sonde, die Luft in ihre oberen Atemwege bläst, um so die Atmung zu unterstützen. Der Lichteinfall in den Brutkasten – Mediziner nennen ihn Inkubator – ist gedämmt. Ein rotes Handtuch liegt darauf. Zwei rote Füßchen, kleiner als die der meisten Babypuppen, krümmen sich zusammen. Um den rechten Fuß trägt Greta ein weißes Band mit einem kleinen rot leuchtenden Sensor. Damit wird gemessen, ob das Blut des Neugeborenen mit genug Sauerstoff beladen ist.

In das linke Füßchen führt ein dünner Schlauch, durch den das Mädchen mit einer Nährlösung aus Glukose und Eiweißen mit Elektrolyten und Mineralien sowie einer Fettlösung mit Vitaminen versorgt wird. „Ordentlich Kalorien für die Hirnentwicklung“, sagt eine der beiden Krankenschwestern, die fast immer in dem Raum im Intensivbereich der Neonatologie der Charité in Mitte anwesend sind. Sie behalten im Blick, dass es Greta gut geht – und ihrem Bruder Julian, der mit 900 Gramm auf die Welt kam, sowie ihren Schwestern Marlene, 750 Gramm, 34 Zentimeter, und Juliane, die kleinste mit 590 Gramm und 32 Zentimeter. Die Vierlinge kamen am 5. September zur Welt. Sie liegen in vier identischen Inkubatoren im selben Zimmer.

Vierlinge sind außergewöhnlich

Knapp 12 000 Frauen pro Jahr bekommen in Deutschland Mehrlinge. Die meisten Zwillinge. Nur rund 250 Drillingsgeburten sind es jährlich. Vierlinge lassen sich an einer Hand abzählen: Nur drei solcher Geburten sind für 2012 verzeichnet, eine davon in Berlin.

Und immer ist ein großes Risiko dabei – für Mutter und Kinder. „Die Geburt von Vierlingen ist für uns eine besondere logistische Herausforderung“, sagt Christof Dame, Spezialist für Früh- und Neugeborenenmedizin. Es wurden vier Teams aus Oberärzten und Fachärzten gebraucht, außerdem vier Mal die technische Ausrüstung, um Frühchen zu versorgen – vor allem sogenannte Erstversorgungseinheiten, die ausgestattet sind mit allen Messgeräten, etwa um die Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung im Blut der Frühchen zu überwachen, mit einem Handbeatmungsgerät und Wärmelampen. An zwei Standorten kann die Charité eine solche Vierlingsgeburt leisten – im Virchow-Klinikum und auf dem Campus Mitte. Lena Zwer wurde dennoch vor dem Kaiserschnitt vom Virchow nach Mitte verlegt, weil dort gerade ein Zimmer frei war, in dem alle vier Babys gemeinsam liegen konnten.

Frühchen haben ein hohes Infektionsrisiko, denn ihr Immunsystem ist noch unreif

Auch dass alle vier den Umständen entsprechend gesund und munter sind, ist außergewöhnlich. Je höher die Anzahl der Mehrlinge ist, desto höher ist das Risiko, dass sie lange vor Ablauf einer normalen Schwangerschaft geholt werden müssen. Drillinge kommen meist nach 30 Schwangerschaftswochen zur Welt, Vierlinge mit 28 Schwangerschaftswochen. Juliane, Greta, Marlene und Julian konnten nur 27 Wochen im Bauch ihrer Mutter reifen. Doch die Chance, dass die vier als gesunde Kinder aufwachsen, ist groß. Sie müssen aber noch mehrere Wochen in der Klinik bleiben, zunächst auf der Intensivstation der Neonatologie, die auf die kleinsten Frühchen spezialisiert ist: Die Atmung muss unterstützt werden, das Risiko für Infektionen ist hoch, weil das Immunsystem noch unreif ist.

Abtreiben, um zu gebären

"Reduzieren? Das ist ein Gewissenskonflikt für alle Beteiligten." Wolfgang Heinrich, Direktor der Geburtsmedizin der Charité
"Reduzieren? Das ist ein Gewissenskonflikt für alle Beteiligten", sagt Wolfgang Heinrich, Direktor der Geburtsmedizin der Charité

© Kitty Kleist-Heinrich

„Es tut mir weh, wenn ich meine Kinder schreien höre und sie nicht immer sofort auf den Arm nehmen kann“, sagt Lena Zwer, die Mutter der Vierlinge. Die 31-jährige Lehrerin steht neben dem Inkubator und betrachtet ihre Tochter Greta. „Am liebsten würde ich sofort mit ihnen kuscheln.“ Das tut sie zwar so oft wie möglich, doch bei beatmeten Kindern ist es jedes Mal eine aufwendige Aktion, sie dafür aus dem Brutkasten zu nehmen. Man sieht der zierlichen, eigentlich sehr schlanken Frau mit der randlosen Brille im schmalen Gesicht an, dass die Entbindung noch nicht lange her ist. Unter dem gepunkteten T-Shirt hat sich der Bauch, in dem vier werdende Kinder Platz finden mussten, noch nicht zurückgebildet. Um den Hals trägt sie ihren Verlobungs- und ihren Ehering an einer Kette. Am Finger darf auf der Intensivstation wegen der Handhygiene niemand Ringe tragen. Lena Zwer ist schon vor einigen Tagen entlassen worden, wohnt jetzt in einem Hotel direkt neben dem Charité-Campus Mitte.

Wenn die Oranienburgerin etwas über ihren eigenen Zustand oder den ihrer Kinder sagt, ist das meist positiv und optimistisch: „Mir geht es körperlich und seelisch gut“ oder „Ich bin sicher, dass meinen Kindern nichts passiert, solange sie hier in der Charité liegen.“

Die Kinder beruhigen sich meist, wenn sie die Stimmen ihrer Eltern hören. Lena Zwer geht zum nächsten ihrer Babys im Glaskasten, da kommt der Geburtsmediziner Wolfgang Henrich zu Besuch. Er leitet das Team aus 19 Ärzten, Hebammen und Schwestern, das die Vierlinge per Kaiserschnitt auf die Welt brachte. „Na, was macht Ihr Quartett?“, fragt er.

Ärzte raten bei Mehrlingsschwangerschaften oft dazu, nicht alle Kinder auszutragen

Arzt und Mutter blicken zu den vier Inkubatoren, „Wenn ich mir überlege, dass wir darüber nachgedacht haben, eines der Kleinen zu entfernen ...“ – Lena Zwer lässt den Satz in der Luft hängen. Aber Henrich versteht sofort. Es geht um das schwierige Thema, für das es die abstrakten Fachbegriffe „Reduktion“ und „Fetocid“ gibt: Bei Mehrlingsschwangerschaften entscheiden sich Eltern auf Anraten von Ärzten oft dafür, nur einige der Kinder auch auszutragen, um deren Chance auf ein gesundes Leben zu erhöhen. Einige der Ungeborenen werden dann mit einer Spritze getötet, müssen aber im Mutterleib bleiben, bis die anderen Kinder per Kaiserschnitt geholt werden.

Im Nachhinein, wenn doch alles gut gegangen sei, komme einem die Überlegung undenkbar vor, sagt Chefarzt Henrich. Vorher sei das aber eine ganz andere Sache, wenn es darum geht abzuschätzen, ob und wie dadurch die Chancen für die anderen steigen.

Auch Lena Zwer hatte diesen ärztlichen Rat bekommen. Sie lag in der 14. Schwangerschaftswoche schon auf einer Liege für den Fetocid, da entschieden sie und ihr Mann Christian sich um. „Uns war plötzlich klar, dass wir diese Entscheidung nicht tragen können. Nachdem wir 3-D-Ultraschallbilder von den vieren gesehen hatten und auch wussten, dass es drei Mädchen und ein Junge sind, war die Bindung einfach schon zu stark“, sagt Lena Zwer. Drei fachärztliche Meinungen hatten sie eingeholt: bei ihrer Frauenärztin und einem Pränatalmediziner, der ihr zu diesem Schritt, geraten hatte, sowie die des Geburtsmediziners Henrich. Er war dagegen. Er rät nur selten dazu, eines der werdenden Kinder im Bauch zu töten, hat zwar schon selbst so etwas ausgeführt, aber nur selten – und nur bei schweren Fehlbildungen. „Ich bin Optimist.“ Dennoch seien beide Wege legitim. „Es ist ein Gewissenskonflikt für alle Beteiligten“, sagt Henrich.

Nach einer frühen Diagnostik in der 14. Woche war klar: Bei den Vierlingen war die Situation besonders kompliziert. Zwei von ihnen waren eineiige Zwillinge und die Plazenta war so angelegt, dass das Blut von einem zum anderen geleitet wurde. Eine Situation, die für beide lebensgefährlich werden kann. Blutarmut oder Kreislaufbelastung können die Herzfunktion einschränken.

Tatsächlich lag es allein an der kritischen Nabelschnurversorgung eines der vier, dass die Kinder schon nach 27 Schwangerschaftswochen per Kaiserschnitt geholt werden mussten. Die Geschwister hätten länger im Bauch bleiben können. Je länger ein Kind dort bleiben kann, desto größer sind seine Chancen, zu überleben, und das ohne Behinderung.

Wäre jener schwächste der Vierlinge in der Schwangerschaft „entfernt“ worden, hätten die anderen also davon profitieren können – aber nur, „wenn sie die kritische Phase bis zur 24. Woche überstanden hätten“, sagt Henrich. Diese Entscheidung sei nämlich oft nur ein „vermeintlicher Gewinn“, da man wahrscheinlich dadurch das Fehlgeburtsrisiko für die übrig gebliebenen Ungeborenen verdoppele. „Denn man hinterlässt bei dem Eingriff im Körper der Mutter das Gewebe des getöteten Fötus.“

Die Eltern-Kind-Bindung leidet, wenn das Frühchen im Inkubator liegt - häufiges "Känguruhen" soll helfen

Lena Zwer ist inzwischen zum vierten Inkubator gegangen, betrachtet wieder ein winziges Baby zwischen Schläuchen zärtlich. Trotz der nervenaufreibenden Entwicklungen habe sie eine „Tiefenentspannung“ in der Schwangerschaft gefühlt, sagt Lena Zwer. „Ich fühlte mich in guten Händen und das hat bestimmt dazu beigetragen, dass sich die Kinder so gut entwickelt haben.“ Sie wirkt auch jetzt, nach der Geburt, relativ entspannt. Dabei hatte sie kurz nach der Entbindung eine leichte Lungenembolie – eine der Komplikationen, die bei Schwangeren mit Mehrlingen häufiger vorkommen als bei Frauen, die nur ein Kind bekommen.

„Nach der OP haben sie mich zu den Babys geschoben und ich konnte sie kurz sehen“, berichtet Lena Zwer. „Aber am Tag danach konnte ich sie nicht besuchen, wegen meiner Embolie. Es ist schwierig, die Bindung zu den Kindern aufzubauen, solange sie noch im Inkubator liegen.“ Häufiges „Känguruhen“ soll das ändern. So nennt man es, wenn Frühchen auf der nackten Haut von Eltern oder Großeltern liegen.

Obwohl Lena Zwer es im Moment noch den Krankenschwestern überlassen könnte, wickelt sie die Kleinen oft, um ihnen dabei nahe zu sein. Wie sie und ihr Mann, der seine Elternzeit erst mit der Entlassung der Kinder aus dem Krankenhaus beginnen will, den Alltag mit vier Kindern meistern sollen, dazu hat ihr Chefarzt Henrich schon in Schwangerschaft Tipps gegeben. „Suchen Sie sich Vorbilder“, sagt er jetzt noch mal – und empfiehlt ihr, sich mit einer Mutter von Sechslingen in Verbindung zu setzen, die Henrich 2008 entbunden hat. Am besten während die Kinder noch auf der Station sind. Später ist dazu wahrscheinlich kaum noch Zeit. „Und Sie und ihr Mann sollten sich unbedingt Freiräume schaffen – auch mal ein wenig Zeit ohne Kinder ... Aber jetzt erst einmal kommt das Kuscheln mit ihren Kleinen. Wichtig für beide, Mutter und Kinder.

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