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Seit knapp einem Jahr geht das Regime in Minsk noch härter als zuvor gegen Kritiker:innen vor, hier eine Szene vom September 2020.

© Tut.by via AP/dpa

Verhaftungswelle gegen Reporter in Belarus: Wieso Diktator Lukaschenko Angst vor Journalisten hat

Sie filmt eine Protestveranstaltung und wird zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Katerina Bachwalowa ist eine von 477 festgenommenen Reportern in Belarus.

Ihar Iljasch könnte der Nächste sein. Wenn er die Wohnung verlässt, trägt er den Rucksack auf dem Rücken, mit der Zahnpasta, der Zahnbürste, der Seife und der Unterwäsche. Vier ausgedruckte Fotos sind es, die er immer bei sich hat, egal, wohin er geht: das Hochzeitsfoto, das Urlaubs-Selfie am Meer, zwei Porträts seiner Frau.

Im Gefängnis sind Fotos oft die einzigen Erinnerungsstücke an das alte Leben. So war auch das erste, was er seiner Frau in die Gefängniszelle schickte: ein Buch. Alexander Solschenizyns „Im ersten Kreis“, aus dem Jahr 1968.

Wer dieser Tage nach Belarus blickt, wähnt sich in alte, dunkle Zeiten zurückversetzt. Im August 2020 strömten hunderttausende Menschen auf die Straßen, um Alexander Lukaschenko nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen am 9. August und einer beispiellosen Polizeigewalt aus dem Amt zu jagen.

Doch auf die Revolution folgte die Repression: 35.000 Menschen sind seit dem Sommer festgenommen, hunderte gefoltert, manche getötet worden, zehntausende haben das Land verlassen. Zwar gibt es immer noch einzelne, kleine Protestgruppen, die mit oppositionellen Fahnen und Schlachtrufen um die Häuser ziehen und ihre Aktion ins Internet stellen. Aber die großen Anti-Lukaschenko-Märsche sind unter dem Eindruck der Repressionen verstummt.

Auch am vergangenen Donnerstag, dem traditionellen Protesttag „Tag der Freiheit“, sammelten sich nur vereinzelte Gruppen, in Minsk blockierte die Polizei Metrostationen, postierte Gefangenentransporter und Wasserwerfer. 200 Festnahmen gab es laut Innenministerium im ganzen Land.

Ein Bild aus besseren Zeiten: Katerina Bachwalowa und ihr Mann Ihar Iljasch vor der Festnahme der Reporterin.
Ein Bild aus besseren Zeiten: Katerina Bachwalowa und ihr Mann Ihar Iljasch vor der Festnahme der Reporterin.

© Ihar Iljasch

Derweil nutzt Lukaschenko die erzwungene Friedhofsruhe, um mit der belarussischen Zivilgesellschaft aufzuräumen. Kaum ein Tag vergeht ohne Festnahmen und Gerichtsverfahren. 302 Menschen gelten derzeit als politische Gefangene, jede Woche werden es mehr.

Doch während die bekanntesten Gesichter der Demokratiebewegung entweder schon inhaftiert oder außer Landes gejagt wurden, wie die Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja, hat es Lukaschenko besonders auf eine Gruppe abgesehen: Journalisten.

2020 wurden mehr Journalisten verhaftet als in den zehn Jahren zuvor

Alleine 2020 wurden 477 Journalisten festgenommen, mehr als in den vergangenen zehn Jahren zusammen. Sie werden eingeschüchtert, aus dem Land gedrängt, ihnen wird ihre Akkreditierung entzogen: Wenn Lukaschenko den Widerstand niederschlägt, darf es keine Zeugen geben.

Iljasch kämpft für die Freilassung seiner Frau, während ihm selbst als Journalist das gleiche Schicksal droht. Am 18. Februar wurde seine Frau, die 27-jährige Reporterin Katerina Bachwalowa, gemeinsam mit ihrer 23-jährigen Kamerafrau Darja Tschulzowa zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Die Bilder der zwei jungen, lächelnden Frauen hinter den Gitterstäben gingen um die Welt.

Ihr Vergehen? Sie hätten „die öffentliche Ordnung schwer verletzt“, da sie im November eine Protestveranstaltung filmten und ins Netz stellten, vom 14. Stock eines Wohnhauses aus. Polizisten stürmten das Gebäude und nahmen die beiden fest. Zwei Jahre Straflager für einen Livestream.

Auch bei den Protesten am verganenen Donnerstag wurde wieder hart durchgegriffen, hier führen Sicherheitskräfte einen Mann ab.
Auch bei den Protesten am verganenen Donnerstag wurde wieder hart durchgegriffen, hier führen Sicherheitskräfte einen Mann ab.

© AFP

Es ist ein Urteil, das Schockwellen durch eine ohnehin gegängelte Medienbranche sendet. „Es wäre besser, sie würden uns alle erschießen, um das alles nicht mit anzusehen zu müssen“, schrieb der Blogger Ihar Losik in einem Brief aus dem Gefängnis. Später versuchte er, sich die Pulsadern aufzuschneiden.

Journalisten hatten es in der „letzten Diktatur Europas“ noch nie leicht, doch die Reporter des unabhängigen Online-Senders Belsat gehören zur besonders hartgesottenen Sorte ihrer Zunft.

Die Redaktion tagt an geheimen Orten, gesendet wird aus Polen

Wie seine Frau, so arbeitet auch Iljasch bei Belsat. In den 13 Jahren seiner Existenz haben die belarussischen Behörden den Sender, mit Geld aus Polen und der EU finanziert, nie anerkannt, stattdessen wurden die Journalisten immer wieder verfolgt, mit Geldstrafen überzogen oder ihre Ausrüstung konfisziert.

Gesendet wird aus dem Warschauer Exil, in Minsk und anderen Städten tagt die Redaktion an geheimen Orten. Dennoch gab es ungeschriebene rote Linien, die nie überschritten wurden. Keine mehrjährigen Haftstrafen, keine gezielten Festnahmen bei Protesten. Bis zum Sommer 2020.

In der Warschauer Belsat-Zentrale sitzt Zmicer Jahorau, der Nachrichtenchef des Senders. Wenn man ihn fragt, wann der letzte Tag war, an dem keiner aus seinem Team inhaftiert oder in Polizeigewalt war, muss er nachdenken. „Ich glaube, es gab da einen Tag im Oktober“, sagt er, und lacht, als könnte er es selbst nicht glauben.

Jahorau strahlt nachdenkliche Ruhe und Coolness aus. Doch bei der Frage, welche Folgen das Urteil haben wird, gerät er ins Stocken. Wer von seinen Reportern wird künftig das Risiko eingehen, live von den Protesten zu berichten – auf die Gefahr hin, Jahre hinter Gitter zu landen?

Viele hoffen, dass mit dem Frühling auch die Proteste wieder größer werden. „Und selbst, wenn sich jemand dafür findet“, sagt er, „wie kann ich hier in Warschau die Verantwortung dafür übernehmen, jemanden in diese Gefahr zu schicken?“

Alexander Lukaschenko setzt auf Härte - im Umgang mit der Opposition wie bei der Selbstdarstellung.
Alexander Lukaschenko setzt auf Härte - im Umgang mit der Opposition wie bei der Selbstdarstellung.

© Uncredited/State TV and Radio Company of Belarus/AP/dpa

Livestreams haben die Proteste von Anfang an begleitet, schon im Wahlkampf vor den Präsidentschaftswahlen erreichten sie ein Millionenpublikum. Das führte zu einem Schneeballeffekt: Im Wissen, wie viele Menschen die Aktionen im Internet verfolgten, strömten immer mehr Menschen auf die Straßen, solidarisierten sich, auch im Schutz der Anonymität, die ihnen die Schutzmasken in der Pandemie boten, aber im plötzlich erwachenden Bewusstsein ihrer eigenen Stärke und Zahl – und möglicherweise ihrer Übermacht, zumindest numerisch.

„Gib dich nicht als Journalist zu erkennen“

Aber je größer die Proteste wurden, desto härter griff das Regime gegen jene durch, die diese Dynamik am Laufen hielten. Boten die Jacken mit der Aufschrift „Presse“ in den Jahren zuvor noch einen gewissen Schutz vor Polizeigewalt, fischen Sonderpolizisten der Einheit Omon jetzt gezielt Journalisten aus der Menge. Es gibt eine neue Faustregel in der Branche: „Gib dich nicht als Journalist zu erkennen.“

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Die Repressionen treffen inzwischen alle Journalisten abseits der Staatspropaganda. Eines der bekanntesten Gesichter dieser unabhängigen Medienszene ist Maryna Solatawa, Chefredakteurin der Nachrichtenseite tut.by. Solatawa hat schon viel erlebt. Sie wurde verhaftet, verklagt, tut.by drohte mehrmals das Aus.

Doch dann geschah im November ein Mord, der das ganze Land erschütterte. Raman Bandarenka, ein junger Aktivist, wurde auf einer Polizeistation zu Tode geprügelt. Offizielle Todesursache: Alkoholvergiftung. Die Reporterin Jekaterina Borisewitsch zitierte auf tut.by aus der medizinischen Akte: Bandarenka war nüchtern.

Als die Reporterin im März zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde, war Solatawa aber nicht etwa schockiert. Sondern erleichtert. Immerhin liegt die Höchststrafe für den „Verrat medizinischer Geheimnisse“ bei drei Jahren Haft.

Maryna Solatawa, Chefredakteurin der Nachrichtenseite tut.by.
Maryna Solatawa, Chefredakteurin der Nachrichtenseite tut.by.

© Olga Schukajlo

Ein Urteil, das vor einem Jahr noch undenkbar gewesen wäre, sorgte jetzt für ein Aufatmen in der ganzen Branche. Solatawa sagt: „Das zeigt, wie sehr sich die Grenzen schon verschoben haben.“

Nach der Zollkontrolle merkte die Tochter, dass etwas nicht stimmte

Doch dabei geht es längst nicht mehr nur darum, an einzelnen Journalisten ein Exempel zu statuieren, sondern auch ganze Institutionen zu zerschlagen. Wenige Gehminuten vom Unabhängigkeitsprospekt, der zentralen Minsker Straße mit seinen wuchtigen Stalinbauten, liegt der „Press Club Belarus“. Ein licht durchflutetes Loft in einem sowjetischen Bürogebäude, heller Holzboden, bunte Sitzsäcke, Klappstühle, Kaffee-Ecke.

Die Journalistin Julia Sluzkaja gründete den Club 2015 in einer Tauwetter-Periode, als sich Lukaschenko nach dem Ausbruch des Krieges im südlichen Nachbarland Ukraine wieder der EU annäherte und die belarussische Zivilgesellschaft neue Kraft und Mut schöpfte.

Hier fanden Pressekonferenzen, Briefings und Workshops statt, ausländische Journalisten waren zu Gast, auch die Autorin dieses Artikels war hier 2018 eingeladen. Im Dezember 2020 fand gemeinsam mit dem Wiener Presseclub Concordia ein Online-Briefing statt. Ein kleines Fenster in den Westen.

Bei der Rückkehr vom Urlaub verhaftet: Julia Sluzkaja auf einem älteren Foto.
Bei der Rückkehr vom Urlaub verhaftet: Julia Sluzkaja auf einem älteren Foto.

© privat

Am 22. Dezember kehrte Julia Sluzkaja mit ihrer Familie aus dem Urlaub zurück. Ihre Tochter Alexandra war schon durch die Zollkontrolle, als sie merkte, dass etwas nicht stimmte. Fünf, zehn, fünfzehn Minuten vergingen, aber ihre Mutter kam nicht, das Handy tot. Alexandra Sluzkaja irrte durch den Flughafen, fuhr zur Wohnung ihrer Mutter, klapperte Polizeistationen und Gefängnisse ab.

Offiziell wurde ihre Mutter erst am nächsten Tag, dem 23. Dezember, festgenommen. Vorwurf: Steuerhinterziehung. Wie und wo hatte sie die Nacht verbracht? „Mit Gesprächen unter Freunden“, höhnte ein Beamter. Zeitgleich hatten im Press Club selbst sowie bei Mitarbeitern zuhause Razzien stattgefunden, doch bis dato wurden keine Dokumente vorgelegt, die diese Vorwürfe belegen. Heute ist der Club verriegelt, Sluzkaja drohen bis zu sieben Jahre Haft.

Manche setzen auf „Partisanschtschina“ - den digitalen Partisanenkampf

Und jetzt? Wie weitermachen als Journalist, in einem Land, in dem jeden Morgen vor dem Wohnblock der berühmte „blaue Minibus“ warten kann, um dich zu holen? Wo jede Passkontrolle zur Nervenprobe wird? „Wir wissen, dass wir unsere Freiheit und vielleicht auch unsere Gesundheit riskieren“, sagt Maryna Solatawa, die tut.by-Chefredakteurin.

Auch wenn die Gefahren steigen, wird der regimekritische Journalismus weitergehen, glaubt sie: über Handyaufnahmen der Bürger, Pseudonyme, verschlüsselte Messenger-Dienste. „Partisanschtschina“, ein digitaler Partisanenkampf.

Die Massenproteste im Sommer 2020 haben das Regime nervös gemacht hier ein Bild aus Minsk vom vergangenen August.
Die Massenproteste im Sommer 2020 haben das Regime nervös gemacht hier ein Bild aus Minsk vom vergangenen August.

© Sergei GAPON / AFP

Das Lukaschenko-Regime mag gut darin sein, seine Bürger wegzusperren. Aber das Internet zu kontrollieren, damit tun sich Diktaturen schwer. Es waren die auf dem Telegram-Kanal „Nexta“ verbreiteten Videos und Bilder, die den Volkszorn über die Polizeigewalt nach den Wahlen erst so richtig angefacht haben.

Der 22-jährige Blogger Stepan Putilo, der im Warschauer Exil lebt, hat erst dieser Tage einen Film über die Reichtümer Lukaschenkos hochgeladen, auf Youtube hat das Video bereits mehr als sechs Millionen Klicks. Zum Vergleich: Belarus hat 9,4 Millionen Einwohner. Die Straßenproteste mögen vorerst ruhen, der Wille nach Wandel und Widerstand nach 26 Jahren Lukaschenko tut es offenbar nicht.

Als Alexander Solschenizyn in seinem Roman „Im ersten Kreis“ seine Erfahrungen aus einem sowjetischen Arbeitslager in Moskau niederschrieb, gab es noch kein Internet. Inspiriert von Dantes Göttlicher Komödie beschrieb er das Lager als grausam, aber nicht so grausam wie den Gulag. Nicht der innerste Kreis der Hölle, sondern der erste, äußerste, „beinahe das Paradies“.

Katerina Bachwalowa, die Belsat-Journalistin, hat das Buch in ihrer Minsker Gefängniszelle verschlungen. Vor Gericht lächelte sie in die Kameras, formte ihrer Finger zum Victory-Zeichen, lag ihrer Kollegin in den Armen. „Ich habe keine Angst“, richtete sie über ihren Anwalt aus.

Im ersten Brief an ihren Ehemann schrieb sie ihr Lieblingszitat aus dem Buch heraus: „Was ist das Wichtigste im Leben? Sich darüber im Klaren zu sein, kein Unrecht begangen zu haben. Unrecht gab und wird es immer geben. Aber zumindest habe ich mich seiner nicht schuldig gemacht.“

Simone Brunner

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