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Nach elf Jahren ist Schluss: Günter Hirsch hört als Versicherungsombudsmann auf.

© Kai-Uwe Heinrich

Versicherungsombudsmann: "Ich habe 270.000 Beschwerden gegen Versicherer bekommen"

Günter Hirsch war Präsident des Bundesgerichtshofs und vermittelte dann elf Jahre im Streit zwischen Versicherern und Kunden. Jetzt hört er auf.

Versicherungsbedingungen mag er nicht lesen. Das verbindet Günter Hirsch mit der Mehrzahl seiner Kundschaft. Wie fast alle Bundesbürger findet Hirsch die Bedingungen kompliziert und intransparent. Dennoch musste er das Kleingedruckte in den vergangenen elf Jahren regelmäßig studieren. Der Jurist ist Versicherungsombudsmann, an ihn wenden sich Verbraucher, die mit ihrer Versicherung unzufrieden sind. Und das sind viele: „Ich habe 270.000 Beschwerden bekommen, seitdem ich Ombudsmann bin“, erzählt er. Das war im Jahr 2008. Nun ist Schluss, mit 76 Jahren. An diesem Montag übernimmt ein neuer – wie Hirsch ein Topjurist. Wilhelm Schluckebier war Richter am Bundesverfassungsgericht, nun wird er der neue Versicherungsombudsmann.

Versicherungsombudsmann: ein Amt für Topjuristen

Das Amt zieht Spitzenjuristen an. Der erste, Wolfgang Römer, war Richter am Bundesgerichtshof. Sein Nachfolger, Günter Hirsch, hat das höchste deutsche Zivilgericht sogar als Präsident geleitet. Und hat dort nicht nur juristische, sondern auch künstlerische Akzente gesetzt. Er hat den deutschen Starmaler und -bildhauer Markus Lüpertz dazu gebracht, den Bundesadler für das Gericht neu zu designen. Eine erste Skizze, die den Vogel mit blutendem Herzen und einer Schlange in den Krallen zeigt, hängt in seinem Berliner Büro. „Das Bild nehme ich mit“, sagt Hirsch.

Kunstwerk: Hirsch war Präsident des Bundesgerichtshofs. Der Starkünstler Markus Lüpertz hat auf seine Bitte hin den Bundesadler für das Gericht neu definiert, eine Skizze hängt im Büro des Ombudsmanns.
Kunstwerk: Hirsch war Präsident des Bundesgerichtshofs. Der Starkünstler Markus Lüpertz hat auf seine Bitte hin den Bundesadler für das Gericht neu definiert, eine Skizze hängt im Büro des Ombudsmanns.

© Kai-Uwe Heinrich

Was er nicht mitnehmen kann, ist der Blick aus seinem Büro in der Wilhelmstraße auf den Plattenbau vis-à–vis. Hirsch wird ihn vermissen. Nach der Wende hat er in Leipzig und Dresden gearbeitet. Er war Präsident des Oberlandesgerichts Dresden und des Verfassungsgerichtshofs des Freistaats Sachsen. In Dresden hat er im Plattenbau gewohnt. Eine aufregende Zeit war das in der Nachwende-DDR, sagt er, die Platte von gegenüber erinnert ihn an diese Station seines Lebens.

Abschied von der Platte: Der Plattenbau vis-à-vis des Büros des Ombudsmanns in der Berliner Wilhelmstraße erinnert Hirsch an seine beruflichen Stationen in der Nachwende-DDR.
Abschied von der Platte: Der Plattenbau vis-à-vis des Büros des Ombudsmanns in der Berliner Wilhelmstraße erinnert Hirsch an seine beruflichen Stationen in der Nachwende-DDR.

© Kai-Uwe Heinrich

Was ist, wenn der alte Kirschbaum umfällt?

Zuhause in Ettlingen ist das anders. Da hatte Hirsch mit gärtnerischen Herausforderungen und Versicherungsproblemen zu kämpfen. In seinem Garten stand ein uralter großer Kirschbaum, der den Hausherrn mit zunehmender Besorgnis erfüllte. Was ist, wenn der Baum umfällt?, fragte er sich – und falls ja, haftet dann die Versicherung? Hirsch studierte die Versicherungsbedingungen, wurde daraus aber nicht schlau. Schließlich rief er seine Versicherung an, die ihm zusicherte, dass sie für einen möglichen Schaden aufkommen werde. Doch Hirsch wollte es nicht so weit kommen lassen, er ließ die Kirsche fällen.

Warum haben Versicherungen so ein schlechtes Image?

Wenn selbst Topjuristen bei der Lektüre der Versicherungsverträge die Waffen strecken, ist es kein Wunder, wenn Amateure erst recht nicht mehr durchblicken. Das schlechte Image der Versicherungsbranche hat hier seine Wurzeln, glaubt der Schlichter. „Versicherungen sind ein komplexes Produkt“, sagt er. Die Rechtskonstruktionen zu verstehen, ist schwer. Die Versicherungsbedingungen sind wenig transparent, oft kommen noch Auslegungsprobleme hinzu. Vor einigen Jahren hat ein Meinungsforschungsinstitut 1000 Bundesbürger gefragt, welche Berufe sie am unsympathischsten finden. Auf Platz eins, mit 45 Prozent Ablehnung, landete der Versicherungsvertreter, gefolgt von den Politikern (30 Prozent). Ein häufiger Vorwurf gegen die Versicherer lautet: Wenn es darum geht, Menschen Policen anzudrehen, sind sie schnell wie Geparden. Wenn es darum geht, Schäden zu begleichen, sind sie langsam wie Schnecken.

Versicherer benachteiligen ihre Kunden nicht systematisch, sagt der Ombudsmann

In Einzelfällen, sagt Hirsch, mag das stimmen. „Es gibt Ausreißer“. Doch eine systematische Benachteiligung der Kunden hat er in den vergangenen elf Jahren nicht feststellen können. Zum selben Ergebnis ist übrigens auch das Bundesjustizministerium gekommen. Es hatte Amtsrichter, die mit Versicherungsfällen zu tun hatten, danach gefragt, ob aus ihrer Sicht Versicherer systematisch Schadensregulierungen hintertreiben. Die Antwort: nein. Dennoch wären Unternehmen gut beraten, mehr auf den Kunden zuzugehen, findet der Ombudsmann. Im Schlichtungsverfahren würden manche Versicherer die geballte Kraft ihrer Rechtsabteilungen auffahren, er hält das für falsch. Einen „Krieg ums Recht“ will er nicht führen. Dafür seien die Gerichte da, vor allem, wenn es um grundsätzliche Rechtsfragen geht. Hirsch will vermitteln. Das passt zu seinem Amt und zu seiner Person. Er ist keiner, der sich in den Vordergrund drängt. Hirsch will nicht belehren, sondern erklären. Ein Mann der leisen Töne, einer, der auch über sich selbst schmunzeln kann. Etwa darüber, dass er selbst „hoffnungslos überversichert“ ist und trotz besseren Wissens bis heute nicht die Energie aufgebracht hat, etwas dagegen zu tun.

Für Versicherungskunden ist seine Arbeit kostenlos

Hirsch ist aber auch ein Mann der Tat und der Entscheidungen. Bis zu einem Streitwert von 10.000 Euro sind die Empfehlungen des Ombudsmanns für die Unternehmen bindend. 97 Prozent der Versicherer sind Mitglieder des Vereins, der die Schlichtungsstelle und ihren Chef finanziert. Für Versicherungskunden ist das Verfahren dagegen kostenlos, der Gang zum Gericht bleibt stets möglich, Formulare und Infos gibt es im Internet.
Pro Jahr nutzen rund 20.000 Menschen die Schlichtungsstelle, 2018 waren es mit 19.000 Anträgen etwas weniger. Die Erfolgsquote liegt über alle Sparten hinweg bei 40 Prozent, in der Lebensversicherung ist der Wert niedriger. Hier gibt es besonders häufig Missverständnisse, berichtet Hirsch. Mit dem komplexen Produkt sind viele Kunden schlicht überfordert. Früher war die Lebensversicherung die Sparte mit den meisten Beschwerden, heute ist es die Rechtsschutzversicherung. 2015 sind die Beschwerden gegen Rechtsschutzversicherer um 32 Prozent, 2016 um 36 Prozent und 2017 nochmals um 5,5 Prozent gestiegen, berichtet Hirsch. Erst im vergangenen Jahr habe es erstmals wieder einen Rückgang der Fälle gegeben.

Die Kräfteverhältnisse haben sich verändert

Zwei Drittel der Anträge gegen Rechtsschutzversicherer reichen inzwischen Rechtsanwälte ein. Oft geht es um automatisierte Massenverfahren, an denen Rechtsschutzversicherte teilnehmen wollen. Etwa weil sie alte Lebensversicherungen widerrufen wollen, bei deren Abschluss sie ihrer Meinung nach nicht ausreichend über ihr Widerrufsrecht informiert worden sind, oder weil sie einen manipulierten Diesel besitzen und gegen VW vorgehen wollen. Mit wenigen Klicks im Internet wird man zum Mandanten, die Kanzleien übernehmen alles – bis hin zum Streit mit der Rechtsschutzversicherung über die Deckung. Übrigens ist auch Hirsch von Dieselgate betroffen. Er ist Eigentümer eines VW-Tiguan und hat sich der Musterfeststellungsklage der Verbraucherschützer gegen VW angeschlossen.

Den Verlauf dieses Verfahrens kann Hirsch als Privatmann verfolgen. An diesem Montag reist er mit seiner Frau aber erst einmal nach Paris und geht in die Oper – um auf andere Gedanken zu kommen. Später geht es nach Portugal. Die Familie besitzt dort eine Wohnung am Meer. Künftig will Hirsch hier mehr Zeit verbringen. „Ich kaufe mir ein One-Way-Ticket und bleibe so lange wie ich will“.

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