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Zentrale. Boris Herrmann im Cockpit der Seaexplorer - Yacht Club de Monaco. Von hier aus bedient der Solosegler sein Boot.

© Kai Müller

Boris Herrmann und die Prüfung seines Lebens: 27.000 Meilen, allein, nonstop, auf einem Segelboot

Das Vendée Globe gilt als härtestes Segelrennen, führt einmal um die Welt. Die Wenigstens trauen sich teilzunehmen. Der Deutsche Boris Herrmann will gewinnen.

Ein Hund trippelt aufgeregt neben ihm her. Es ist die Sorte Hündchen, die klein genug wäre, um sie auf dem Arm zu tragen, aber viel zu agil, um es wirklich zu tun. Also lässt Boris Herrmann den King Charles Spaniel an einem sanften Oktobermorgen vorauslaufen, während er, eine Tasche über der Schulter, eine lose Hundeleine in der Hand, auf ein unscheinbares Gebäude im Hafen von La-Forêt-Fouesnant zugeht. Dort beginnt sein Unterricht.

Knapp vier Wochen sind es da noch bis zum Start des Vendée Globe Race, eines Segelrennens um die Welt, wie es kein zweites gibt: 27.000 Meilen allein um den Erdball auf einer Rennmaschine, die sich selbst zerstören will. Es gibt nicht viele Menschen, die das versuchen.

Boris Herrmann ist einer von 33 Seglern, die am 8. November von Les Sables d'Olonne aufbrechen. Er ist der erste Deutsche bei diesem „menschlichen Abenteuer“, das Ende der 80er Jahre von dem Franzosen Philipp Jeantot erfunden wurde, nachdem er einen anderen Wettlauf über die Weltmeere zweimal hintereinander gewonnen und wegen der eingebauten Etappen als zu leicht empfunden hatte. Er wollte die ultimative Prüfung.

Letzter Belastungstest. Start des Gruppentrainings, das von der Pole Finistère Course au Large organisiert wird.
Letzter Belastungstest. Start des Gruppentrainings, das von der Pole Finistère Course au Large organisiert wird.

© KM

Die Bedeutung des Vendée Globe wird mit Metaphern wie „Everest der Meere“ zu fassen versucht. Seit es 1989 zum ersten Mal stattgefunden hat, haben den Trip nur 66 Menschen vollendet – von den 97, die es versucht haben. Die Wahrscheinlichkeit zu scheitern ist hoch, manche benötigten mehrere Anläufe, in manchen Jahren schafften es weniger als 40 Prozent ins Ziel. Drei verloren ihr Leben. Etliche weitere wurden aus Seenot gerettet, ihre Schiffe von Stürmen zerschlagen, was dem Vendée Globe seinen Ruf als „härtestes Segelrennen der Welt“ eintrug.

Mit ihm einher ging eine Machtverschiebung, die heute dazu führt, dass Boris Herrmann als Deutscher einen Großteil seiner Zeit in Frankreich verbringt, obwohl er jüngst Vater geworden ist. Hier folgen dem Hochseespektakel mehr Menschen als der Tour de France oder einer Fußball-Weltmeisterschaft. Am Tag des Starts säumen Hundertausende den Kanal und den Strand von Les Sables d'Olonne, um die Matadoren auf ihre epische Reise zu verabschieden.

Miteinander jeder für sich

Vor ihnen liegt nichts als Wasser. Die kleine Trainingsgruppe, die sich an diesem Morgen in Port-La-Forêt versammelt, weiß um die monatelange bestialische Anstrengung, um Schlafmangel, Einsamkeit und Angst. Sie glaubt, dass sie sich gemeinsam besser darauf vorbereiten kann, als wenn jeder von ihnen es für sich versuchte. Sie trifft sich hier zum letzten Mal, um unter Rennbedingungen gegeneinander anzutreten.

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Organisiert wird das Training von einer Segelakademie namens Pôle Finistère Course au Large. Sie gilt als Kaderschmiede französischer Solosegler. Seit zwanzig Jahren kommen die Vendée-Globe-Sieger aus ihren Reihen. Man wird von ihr eingeladen. Herrmann betrachtet es deshalb als große Ehre, dabei zu sein. Zumal als Nicht-Franzose.

Andererseits: Was will der 39-Jährige, der die Welt schon dreimal auf Rennyachten umrundet hat, noch lernen?

Und was will er mit diesem Hündchen?

An der Spitze der Segelelite

Das Tier wird wenig später in einer Sporttasche auf Herrmanns Gefährt, die Malizia gehoben, die jetzt Seaexplorer heißt, und es hüpft geschickt über ein Gewirr aus Leinen, als sei ihm dieser Ort so vertraut wie seinem Skipper. Der ist, obwohl äußerlich gelassen, angespannt bis in die Haarspitzen. Man merkt es daran, wie er sein Magengrummeln unauffällig wegatmet. Gleich wird jeder hier sehen, ob er seiner silbergrauen 18-Meter-Maschine das Potenzial entlocken kann, das theoretisch in ihr steckt.

Noch drei Minuten bis zum Start.

Die Wurzeln des Förderprogramms reichen weit zurück, wie Boris Herrmann bei seinem ersten Besuch erfuhr. Nach dem Krieg gründete der Vater des späteren zweifachen Vendée-Globe-Siegers Michel Desjoyeaux in der Bucht von Concarneau eine Segelschule, um die Jugend auf andere Gedanken zu bringen. Seine Söhne stellten sich als begabte Tüftler heraus, der ältere baute in seiner Werft CDK Technologies jene futuristischen Racer, von denen der jüngere wissen wollte, was sie unter Segeln können. Zu dessen Freunden zählten Roland „Bilou“ Jourdain und Jean Le Cam. Die drei „Musketiere“ hoben das Solosegeln in den 90er Jahren auf ein neues Niveau, weil sie ebenso sehr faszinierte, Boote zu bauen, wie sie zu bedienen. Und anders als überall sonst auf der Welt segelten sie nicht gegeneinander, sondern miteinander jeder für sich.

Noch zwei Minuten.

Kontrollgang. Boris Herrmann auf der Seaexplorer - Yacht Club de Monaco.
Kontrollgang. Boris Herrmann auf der Seaexplorer - Yacht Club de Monaco.

© KM

An der Startlinie haben sich sechs Yachten aufgereiht. Sie eint, nach denselben groben Vorgaben der Imoca-Klasse konstruiert worden zu sein, doch in Details unterscheiden sie sich stark. Vor allem darin, ob sie Flügelschwerter besitzen, so genannte Foils, die ihnen ab einer Geschwindigkeit von zwölf Knoten zusätzlichen Auftrieb bescheren. Die Seaexplorer ist ein älteres Boot, Baujahr 2015, das mit Foils des neuesten Typs nachgerüstet wurde.

Noch eine Minute.

In einiger Entfernung von der Startlinie rollt Herrmann sein Vorsegel aus, um Anlauf zu nehmen. Er lässt sich in dieser Phase von seinem Team helfen. Später am Tag wird er die Manöver wie auf seiner Solo-Tour alleine ausführen, aber gerade jetzt passiert zu viel zu schnell und zu gleichzeitig, um ein Auge von der Konkurrenz zu lassen. Er steht am Heck, breitbeinig wie auf der Ladefläche eines Trucks, der einen steilen Hang hinabrast, und krallt sich am Führerhaus fest.

Es ist für Boris Herrmann ein langer Weg gewesen von dem kleinen Jungen, der mit seinem alleinerziehenden Vater durchs Wattenmeer segelte, bis hierher – an die Spitze einer Segelelite, die alle vier Jahre in einer großen Schlaufe um die Antarktis herum und zu ihrem Ausgangspunkt zurückfährt. Die Teilnahme setzt Budgets von sechs bis elf Millionen Euro voraus. Hilfe von außen, jedweder Art, darf man nicht annehmen. Es ins Ziel zu schaffen sei eine außergewöhnliche Leistung, sagen die Organisatoren. „Es zu gewinnen, setzt ihm die Krone auf“. Bislang haben das nur Franzosen geschafft.

Die letzten Sekunden… sieben, sechs, fünf…

Jetzt beschleunigt Herrmanns „Silberpfeil“ so rasant, dass es mit einem Tempo von über 20 Knoten auf die Strecke geht. Der braune Haarschopf des Skippers wirbelt im Wind, als würde er seinen Kopf bei 80 Stundenkilometern aus dem Autofenster recken. Regelmäßig ergießt sich ein Wasserschwall über ihn. Die Augen brennen.

Der Junge im Watt

Bei den aggressiven Bewegungen des Bootes muss sich Skipper Boris Herrmann ständig festkrallen.
Bei den aggressiven Bewegungen des Bootes muss sich Skipper Boris Herrmann ständig festkrallen.

© KM

Am Vortag hatte Herrmann seine Rennyacht von ihrem Stützpunkt in Lorient die Küste hinauf nach Port-La-Forêt überführt. An Bord ein deutsches Fernsehteam. Auf die Frage, warum er monatelange Isolation und Dauerstress auf sich nehme, antwortete er, dass ihn die 360-Grad-Verantwortung reize. Wenn er nach ein paar Tagen in den Rhythmus gefunden habe, sei es nicht schwer. Er schlafe, wenn er könne. Manchmal weniger als 15 Minuten am Tag. Aber so allein sei er gar nicht, fuhr er fort, da er über Satellit in ständigem Austausch mit seinen Unterstützern stehe. Mehr ist zu diesem Thema von ihm für gewöhnlich nicht zu erfahren.

Es ist ja auch wirklich niemandem begreiflich zu machen. So war das immer schon. Meike Schomäker aus Bad Zwischenahn erinnert sich, wie der 15-jährige Herrmann seinen Segelschülern, zu denen sie zählte, im Winter Videofilme über seine Helden vorspielte. Sie sah verwaschene Bilder von Yachten, die endlose, kalte Meere durchpflügten. Das war etwas vollkommen anderes, als der kleine See vor ihrer Haustür. „Boris hat seine Begeisterung für Hochseerennen mit uns Opti-Kindern geteilt, und es war klar, das wollte er auch. Es war für ihn eine Frage des Lebensstils.“ Über seinen Antrieb sagt die heutige Anwältin, dass er sich „eine intellektuelle Herausforderung um das Segeln herumgebaut“ habe, „deshalb füllt es ihn aus.“

"Everest der Meere"

Es kann sein, dass er das erste mal wieder Land sieht, wenn er nach Les Sables zurückkehrt. Er wird Regionen durchqueren, die so abgelegen sind, dass die Menschen, die ihm dort am nächsten sein werden, sich im Orbit auf der ISS befinden. Vier Tage bräuchte ein schnelles Schiff, um ihm zu Hilfe zu eilen.

Von anfänglich 110 Tagen, die die Erdumrundung des Schnellsten dauerte, hat sich der Rekord auf 74 Tage verkürzt. Herrmanns Rationen reichen für 80 Tage.

Mit der neuen Generation von "Foilern" dürfte sich die Zeitspanne nochmals deutlich verringern. Der Preis ist, dass das Leben an Bord "praktisch unerträglich" geworden sei, wie es ein Imoca-Designer nennt. Die Bewegungen des Boots sind so aggressiv, dass Herrmann sich einen Rugbyhelm besorgt hat, um unter Deck vor Kopfverletzungen geschützt zu sein.

„Bei 20 Knoten Wind, weiß man, dass es eine Schlacht wird“, sagt der Franzose Charlie Dalin, der an diesem zweiten Trainingstag eines der anderen Boote durch zunehmend heftigere Schauerböen steuert. „Meistens sitzt man, wo es gerade geht, aber wegen der Schockwellen, die bei jedem Aufprall durchs Boot laufen, fängt der Rücken schnell an zu schmerzen. Man muss sich festklammern, weil man nie weiß, wann der nächste Stoß kommt. Man ahnt es nicht mal." Dalin, drei Jahre jünger als Herrmann, spricht wie über einen seelischen Schock. "Mit jedem Vendée Globe hat sich die Leistung der Boote um einige Prozent erhöht. Nur die Skipper sind immer noch dieselben.“

Von Feldjägern gesucht

Schon vor acht Jahren wäre Boris Herrmann bereit für diese Herausforderung gewesen. Aufgewachsen in Oldenburg, war er früh mit einem Jugendfreund in jeder freien Minute zum Zwischenahner Meer geradelt. Sie wurden ein erfolgreiches Gespann in der 505er-Jolle, holten 2007 den deutschen Meistertitel, reisten zu WM-Wettkämpfen. Während der Jugendgefährte seinen Weg an die Weltspitze dieser Klasse fortsetzen sollte, zog es Herrmann aufs Meer. Kein Sportverband, kein reiches Elternhaus würde ihn auf diesem Weg fördern, außer dass sein Vater, ein marxistischer Lehrer mit vorübergehendem Berufsverbot, ihm vorgelebt hatte zu machen, „was nicht immer ,richtig' ist“, wie Freunde sagen. Boris habe offener gedacht, bürgerliche Statussymbole nahm er nicht wichtig. „Unkonventionell zu sein, ist für ihn normal“, sagt einer.

2001 hatte er beim Mini-Transat erstmals Fühlung aufgenommen. Monatelang hauste er auf einer Nussschale von sechseinhalb Metern Länge, was üblich ist in dieser Szene. Das Einhandrennen über den Atlantik gilt als Krabbelstube der Profis. Es stellt jedem jungen Träumer dieselbe Frage: Will ich dieses Leben wirklich?

Da das Mini-Transat vor Ablauf seiner Zivildienstzeit begann, setzte sich Herrmann unabgemeldet nach Frankreich ab. Die Feldjäger suchten ihn. Sein Vater tat, als wüsste er auch nicht, wo sein Sohn sei.

Frau mit Herz. Die Britin Samantha Davies steuert Initiatives Coeur. Sie ist eine von sechs Frauen, die beim Vendée Globe starten, und die einzige, die mit neuen Foils ausgerüstet ist.
Frau mit Herz. Die Britin Samantha Davies steuert Initiatives Coeur. Sie ist eine von sechs Frauen, die beim Vendée Globe starten, und die einzige, die mit neuen Foils ausgerüstet ist.

© KM

2008 nahm er an seinem ersten Rennen um die Welt teil, gewann es sogar mit seinem Hamburger Segelpartner Felix Oehme. Das hätte ihn für’s Vendée Globe qualifiziert, fand er. Doch als sein Sponsor, die Beluga-Reederei, 2011 Pleite ging, verlor er den finanziellen Rückhalt, seine Karriere bekam einen Knick. Das Risiko war hoch, ohne soziale Absicherung in einem Container voller Segel und Tauwerk zu enden. Wobei Herrmann den Egotrip vor sich selbst „als extreme Art der Selbstständigkeit“ rechtfertigte, wie sich ein Freund erinnert.

Zwar wurde für ihn ein Sponsoren-Deal eingefädelt, der ihm im Winter 2011 die Teilnahme an einem zweiten Rennen um den Globus erlaubte, trotz dieses Sprungs in die Profiliga ging es danach abermals nicht weiter. Vor dem Vendée Globe 2016 sagte er: Wenn er teilnehme, dann wolle er auch gewinnen.

"Ich kaufe jetzt ein Boot"

Dafür fehlten ihm die Mittel.

Also verdingte er sich als Navigator auf Regatten, die mittags begannen und nachmittags zuende waren, oder beteiligte sich an Rekordversuchen, die in irgendwelchen Listen verschwanden. Sein Ansehen in der Szene wuchs. Doch als Typ, der selbst bestimmen will und sich dafür ein umfassendes nautisches Wissen erworben hatte, brauchte er: Vertrauen. Er sei sich nicht zu schade, sagt Meike Schomäker, immer wieder Leute anzusprechen, die ihm weiterhelfen könnten.

Wenn man mit Leuten aus diesem Netzwerk spricht, dann loben sie eine 360-Grad-Persönlichkeit, schildern Herrman als sympathischen Typen, super Athleten und einen, der auch mit Geld umzugehen wisse. Aber es war die Freundschaft zu Pierre Casiraghi, die den Durchbruch brachte: Der Sohn von Fürstin Caroline von Monaco gründete einen Rennstall namens Malizia, und der Sohn des Altlinken fungierte als „Vergnügungsminister“, wie ein Insider Herrmanns Job als Teammanager auch nennt. Sie hätten eine „professionelle Plattform“ aufgebaut, so Herrmann, um zeigen zu können, „wie wir so drauf sind“.

Das machte Eindruck. Zumindest auf Gerhard Senft. Eigentlich hatte sich der Stuttgarter Finanzunternehmer nur eine Privatyacht gekauft, als Herrmann auf Vermittlung eines Händlers an Bord kam, um ihm Tipps zu geben. Dabei erzählte er ihm von seinen Plänen und erwähnte, dass Imoca-Yachten „werthaltig“ seien. Das verfehlte seine Wirkung nicht. Da er nun besser wusste, „wie man es richtig anstellt“, schleppte er den Geschäftsmann nach Les Sables d’Olonne, damit er dort von der Atmosphäre angesteckt würde. So kam es zu dem Deal, durch den Herrmann sich 2016 eines der schnellsten Boote der Imoca-Flotte sicherte, weil Senft ("Ich kaufe jetzt ein Boot") das Geld bereitstellte. Senft war sich sicher: „Die Investition würde nicht verlorengehen.“.

"A Race We Must Win"

Flugmodus. Die Auftriebswirkung der Foils setzte bei zwölf Knoten ein, bei etwa 20 Knoten lassen sie die Seaexplorer abheben, so dass der Rumpf nur noch auf einer schmalen Kante durchs Meer rauscht.
Flugmodus. Die Auftriebswirkung der Foils setzte bei zwölf Knoten ein, bei etwa 20 Knoten lassen sie die Seaexplorer abheben, so dass der Rumpf nur noch auf einer schmalen Kante durchs Meer rauscht.

© KM

Düstere Regenwolken sind aufgezogen, von Westen rollt eine hohe Dünung über den Atlantik, und kündigt einen Orkan an. Er soll Lorient am Abend erreichen. Herrmann hat sich ausgepumpt in eine Ecke verzogen und verteilt Energieriegel. Er hat gekurbelt und Daten verglichen, den Kurs optimiert und wieder gekurbelt, gekurbelt, gekurbelt, jetzt rast sein Boot mit annähernd 30 Knoten durch die Sturmböen – und „fliegt“.

Es fliegt tatsächlich. Die Erschütterungen lassen nach. Die seitlich auskragenden Kufen, die unter Wasser die Form eines mehrfach geknickten C haben, heben den Bug ein bis zwei Meter an, so dass der ungebremst über die Wellen gleitet. Alles passt. Im Heckwasser fallen die Trainingspartner unerwartet rasch zurück. Ihr Fehler: Sie halten zu lange am falschen Vorsegel fest, wollen zu viel.

Für solche Lehren ist die Gruppe wichtig. Sie zwingt die Solosegler in einer Phase der Vorbereitung, in der wenige Wochen vor dem Start die Techniker mit endlosen To-Do-Listen das Kommando übernehmen, sich auf das zu besinnen, worum es geht: eine Maschine zu beherrschen, die in Stücke zerfiele, wenn man sie nicht bremste. Aber bremsen?

Die Sinnfrage des Egotrips

Die Seaexplorer ist mit zwei Dutzend Alarmsystemen ausgerüstet. Eine Infrarotkamera spürt Treibgut im Wasser auf, das Radar erkennt Regenwolken, zahlreiche Sensoren messen fortwährend die Belastungen des Materials. Es gibt sogar einen Pinger am Kiel, der Wale aufschrecken soll, und ein automatisches Ausweichsystem. Wenn es piept, was es ständig tut, muss der Skipper handeln. Etwa wenn sich das Schiff in der Bö weit auf die Seite legt. „85 Prozent!“, ruft Boris engster Segelpartner Will Harris warnend, der die Daten am Navigationsplatz im Blick behält, und er meint die Last, die der Foil in diesem Moment aufnehmen muss. 80 Prozent sind die Obergrenze. Weshalb Herrmann bereits eine Schot in der Hand hat, der er vorsichtig nachgibt, als würde er das Überdruckventil eines Dampfkochtopfs betätigen.

Aber nur kurz. Gleich darauf kurbelt er wieder für mehr Druck im Segel.

Auf dem riesigen schwarzen Tuch prangt in großen Lettern Herrmanns Losung: „A Race We Must Win“. Was sich auf das Rennen gegen die Klimaerwärmung bezieht. Als der Mann, der Greta Thunberg zum Klima-Gipfel nach New York gesegelt hat, sieht er seine Mission auch darin, wissenschaftliche Daten aus entlegenen Erdregionen mitzubringen. Bei der Pressekonferenz des Rennens Mitte September in Paris hatte er – live von seinem Hamburger Zuhause zugeschaltet – diesen Punkt eigens herausgestrichen.

Sportlich war es ein Risiko, sich auf die Maßstäbe der Fridays-For-Future-Bewegung einzulassen. Denn um konkurrenzfähig zu sein, brauchte Herrmann dringend den Rückhalt eines großen Unternehmens. Die Umrüstung der Malizia vom veralteten V-Foil auf den moderneren Typus mit C-Profil sollte immerhin eine halbe Million Euro kosten, pro Stück.

Im Tumult der Geschwindigkeit

Mit Kühne & Nagel fand er Anfang des Jahres einen Speditionskonzern als Partner, der mit einem Ökoprojekt namens Seaexplorer für emissionsärmere Lieferketten eintritt. Hermann bot sich als Gallionsfigur für diesen auch betriebsintern durchaus nicht unumstrittenen Weg an. Das Interesse am Klimaschutz, sagt Herrmann, „gibt uns Sinn und Inhalte, das ist wichtiger als das Geld“.

Wenn es nötig gewesen wäre, sagt er, hätte er eben wieder bei Aldi eingekauft und in seinem VW-Bus gewohnt, um sein Versprechen einer Vendée-Globe-Teilnahme zu halten.

In einer Schauerbö bleibt "Arkea-Paprec" im Kielwasser von Herrmanns Seaexplorer zurück.
In einer Schauerbö bleibt "Arkea-Paprec" im Kielwasser von Herrmanns Seaexplorer zurück.

© KM

Herrmanns typische Pose ist der gereckte Daumen. Keines der acht Rennen, die er in Vorbereitung auf sein wichtigstes absolvierte, musste er abbrechen. Ins Ziel kam er meistens dicht hinter der Spitzengruppe. Er sei ein stiller, sorgfältiger Planer, heißt es.

Im Tumult der Geschwindigkeit die Kontrolle zu behalten, hat Herrmann soweit verinnerlicht, dass er auch gegenüber sich selbst kaum je die Beherrschung verliert. Nie flucht, nie jubelt er oder lacht über sich. Auf die Frage, ob er sich, wenn er wochenlang alleine sei, zuweilen gehen lasse, antwortet er nach einer langen Pause: „Ich lasse mich gar nicht gehen.“ Seine Gemütsregungen, so sagt es ein früherer Gefährte, wirkten auf eine Art „gefiltert“, wie das oft bei Menschen mit hoher Begabung der Fall ist. Er geht mit dem Kopf durch die Welt. Und er löst die Aufgabe, die ihm das ,Abenteuer' aufgibt, wie ein mathematisches Rätsel.

Beim Vendée Globe allerdings müsse man „auf das Unvorhergesehene vorbereitet“ sein, wie Renndirektor Jacques Caraës sagt, das mache den Reiz aus „in einer Zeit, in der jeder nach Perfektion strebt“.

Morgens in der Werkhalle in Lorient, wo Herrmanns Team auf langen Tischen jene Utensilien bereitlegt, die der 360-Grad-Segler an Bord haben muss, versucht der Karbon-Experte seinem Chef zu erklären, was er bei Reparaturen beachten müsse. Der schnappt sich plötzlich seinen Hund, setzt ihn auf ein Rollbrett und wirbelt ihn durch die weitläufige Halle. Das Tier wahrt die Fassung, bevor es von dem trudelnden Untersatz abspringt.

Herrmann versetzt dem Rollbrett einen kräftigen Fußtritt. Es kracht in ein abgestelltes Fahrrad, ein zweites stürzt um und reißt ein Podest mit. Man braucht eben einfach auch Glück.

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