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Sowetskoje Schampanskoje. Zu Stalins Zeiten hatte Sekt süß zu sein. Der Zucker überdeckte so manche Unzulänglichkeit. Heute gibt es auch diverse trockene Varianten.

© Jens Kalaene/dpa

Ukraine: Schwere Zeiten für den Krimsekt

Keine 30 Kilometer sind es zur Front. Trotzdem wird hier, in der Ost-Ukraine, weiter Krimsekt hergestellt. Nur: wie lange noch? Seit Putin die Halbinsel annektiert hat, werden keine Trauben mehr geliefert. Und der Krieg vor der Haustür ist auch nicht förderlich fürs Geschäft.

Gute 30 Kilometer von der Front entfernt, öffnet Ljudmila Powaljaewa eine Flasche Sekt. Sie hat einen trockenen Rosé gewählt. Er riecht nach Grapefruit und gefällt den Ukrainern, die sich nach dem in Europa favorisierten Geschmack sehnen. Die Perlen steigen das schmale Sektglas hoch, und in dem schmucklosen Zimmer im Verwaltungsgebäude breitet sich ein Hauch feierlicher Atmosphäre aus.

Powaljaewa ist herzlich und schwungvoll, eine füllige Frau Mitte 40 in einem knappen Kleid. Sie ist die Vizechefin der „Artjomowsk Winery“ und stammt selbst aus dem Industriestädtchen in der Ost-Ukraine, wo unter anderem Krimsekt hergestellt wird. Immer noch. Trotz Krieg vor der Haustür, trotz der Nachschubbprobleme. Denn seit Russland die Halbinsel im Frühjahr 2014 annektiert hat, kommen keine Trauben mehr in die Ukraine.

Doch Powaljaewa will nicht vom Krieg reden. Sie erzählt stattdessen, dass sie Konditorin werden wollte, jedoch keinen Ausbildungsplatz bekam, und nur deshalb mit dem Studium der Weintechnologie begann. Nach dem Abschluss stieg sie in den Betrieb ein. Zunächst als Ingenieurin im Labor, später als Leiterin eines Produktionsabschnitts, jetzt ist die Frau mit den kurzen schwarzen Haaren verantwortlich für Qualität und Produktion. Nächstes Jahr feiert sie ihr 25-jähriges Dienstjubiläum.

Dann redet sie doch noch vom Krieg

Sie stößt an, trinkt und dann tut sie doch noch, was sie den ganzen Tag zuvor eigentlich nicht tun wollte: vom Krieg erzählen. Das Geschäft könnte besser laufen, sagt sie. Die Ukrainer sparen. 18 Millionen Flaschen hat das Unternehmen im vergangenen Jahr ausgeliefert, dieses Jahr waren es nur elf. Die Bestellungen sind zurückgegangen, viele Läden im Kriegsgebiet haben geschlossen. Aufgrund der Nähe zur Front kommen weniger Besucher als sonst. Die Touren über das Fabrikgelände mit anschließender Verkostung waren bei den Bewohnern der Region sehr beliebt. Jetzt kommen nur noch Journalisten.

Und dann gibt es die unglückselige Geschichte der unternehmenseigenen Bars zu erzählen, an denen in Einkaufszentren Sekt ausschenkt werden sollte. Derzeit ist nur noch der Kiewer Ableger in Betrieb. Die Bars in Mariupol und Donezk mussten wegen der Gefechte schließen. Die Sektbar am Donezker Airport existierte gar nur eine Woche. Dann besetzten die bewaffneten Kämpfer den Flughafen. Mittlerweile ist er völlig zerstört.

Powaljaewa lobt den Zusammenhalt der 500 Mitarbeiter, keinen einzigen Tag wurde die Produktion ausgesetzt. „Wer von uns hätte vor einem Jahr gedacht, dass in der Ukraine Krieg sein würde?“, fragt sie. Und dass sich die Sektfabrik direkt in der Konfliktzone befinden würde.

Der Ort liegt auf der ukrainisch kontrollierten Seite. Ein letzter Außenposten, bevor die Landstraße die Stadt Gorlowka erreicht, die schwer zerstört ist nach monatelangem Beschuss. So schildern es die Menschen, die von dort kommen.

Der Bürgermeister blieb einfach

Wie in anderen Städten des Donbass auch wurde in Artjomowsk Mitte April die Flagge der Donezker Volksrepublik auf dem Rathaus gehisst. Im Inneren aber blieb weiterhin der Bürgermeister sitzen, kein „Volksbürgermeister“ nahm seinen Platz ein, ein „Kompromiss“, wie er damals gegenüber Medien erklärte. Anders als in Slawjansk erlangten die Separatisten nie vollständig die Macht über die Stadt. Auch die Winery wurde nicht enteignet. Es gab den Versuch einer Besetzung, doch man habe sich „abgesprochen“, sagt die Vizechefin.

Für sie ist Artjomowsk deshalb eine „gesegnete Stadt“, in der die Menschen sich noch gegenseitig achten. Vielleicht wollten sich die prorussischen Aktivisten aber auch einfach nicht mit den einflussreichen Besitzern des Werks anlegen. Zu denen sollen der mittlerweile nach Kiew geflüchtete Donezker Oligarch Rinat Achmetow, der frühere Infrastrukturminister Boris Kolesnikow und Alexander Janukowitsch, der Sohn des nach Russland geflohenen Ex-Präsidenten, gehören.

In der Nacht von 4. auf 5. Juli jedenfalls war der Spuk in Artjomowsk vorbei. Das Freiwilligenbataillon „Artjomowsk“ lieferte sich Gefechte mit den Separatisten im Stadtzentrum, ein Minibus brannte aus. Ein paar Stunden später verkündete Innenminister Arsen Awakow, dass der Stab der lokalen Donezker Separatisten „vernichtet“ worden sei. Seitdem kann man in den Straßen nur noch ukrainische Armeeangehörige und „Artjomowsk“-Kämpfer sehen – und natürlich die Bürger aus den abtrünnigen Gebieten, weil sie nur hier Geld aus dem Bankomat oder ihre Pension bekommen. In den Separatisten-Gebieten funktionieren Zahlungssysteme nicht mehr. Für die Ukraine haben die Menschen in den langen Schlangen trotzdem kein gutes Wort übrig.

Eine Absprache, sagt Powaljaewa, sie wäre jetzt auch wieder nötig zwischen der Donezker Volksrepublik und der Ukraine. Absprachen geben Sicherheit, und die benötigt ein Unternehmen so dringend wie der Sekt seine Perlen.

25000 Hektar unter der Erde. Ein Besuch im Weinkeller

Sowetskoje Schampanskoje. Zu Stalins Zeiten hatte Sekt süß zu sein. Der Zucker überdeckte so manche Unzulänglichkeit. Heute gibt es auch diverse trockene Varianten.
Sowetskoje Schampanskoje. Zu Stalins Zeiten hatte Sekt süß zu sein. Der Zucker überdeckte so manche Unzulänglichkeit. Heute gibt es auch diverse trockene Varianten.

© Jens Kalaene/dpa

Wer wissen will, wie die in das Getränk hineinkommen, muss in die Erde. 72 Meter unter dem Büro von Powaljaewa startet Juri Koroljow sein Golfwägelchen und rollt in das ehemalige Bergwerk. Der langjährige Mitarbeiter kennt den Keller mit seinen unzähligen Fahrbahnen und Zwischenräumen so gut wie seine eigene Wohnung. Straßenschilder oder Wegweiser braucht er nicht, um sich in der 25 Hektar großen unterirdische Lagerstätte zurechtzufinden. 25 Hektar! Da ist noch viel Platz. Sollte die Front doch noch an das Städtchen mit seinen knapp 80 000 Einwohnern heranrücken, hier fänden sie Schutz. Nur kühl wäre es bei einer stabilen Temperatur von 13 bis 15 Grad Celsius, gleichgültig ob im Winter oder im Sommer. Andere Bergwerke im Donbass finden bereits als Bunker Verwendung.

Entlang der beiden Hauptstraßen, einer gut ausgeleuchteten, asphaltierten Trasse mit zwei Fahrspuren, geht es ins Innere. Besucher rollen vorbei an meterhohen silbernen Zisternen, in denen die angelieferten Weinsorten zu einer firmeneigenen Mischung vermengt werden. „Assemblage“ nennt man in Artjomowsk diese erste Stufe der Schaumweinerzeugung, die erst beendet ist, wenn der Wein 20 Tage geruht hat. Es geht vorbei an der modernen Abfüllanlage, die 12 000 Flaschen in der Stunde abfertigen kann. Hier bekommen die Flaschen einen vorläufigen Verschluss für die traditionelle Flaschengärung. Immer weiter dringt man nun auf einem verschlungenen Gässchen zum Weinlager vor, dort, wo der Schaumwein auf Holzstellagen heranreift. Hier arbeiten nur Frauen. Frauen, die in der „Remuage“ genannten Stufe die in den Rüttelpulten steckenden Flaschen so sanft wie routiniert um eine bestimmte Gradzahl drehen, damit sich die abgestorbene Hefe im Flaschenhals absetzt. 80 000 Flaschen in acht Stunden. Im nächsten Produktionsschritt werden die Kronkorken abgenommen, die Hefe entfernt und die „Dosage“ hinzugefügt, ein Gemisch aus Wein und Zuckersirup, das den Süßegrad des Getränks bestimmt.

Unter Stalin hatte der Sekt süß zu sein

In der Sowjetunion hatte Sekt süß zu sein. Die Schaumweinproduktion kannte damals nur eine Marke: Sowetskoje Schampanskoje. Am 29. Juni 1950 fiel die Entscheidung, mitten in der ostukrainischen Industrieregion Donbass eine Sektkellerei zu bauen. Die Stollen eines früheren Gipsbergwerks mit hervorragenden klimatischen Verhältnissen boten sich an.

Stalin persönlich hatte die Parole ausgegeben, jeder Arbeiter habe sich eine Flasche Sekt verdient. Die Sowjetunion wollte den Luxusartikel selbst herstellen. Schnell musste das gehen, und reichlich beigefügter Zucker verdeckte manche Unzulänglichkeit. „Es war das sowjetische Motiv: Sowjetsekt, Pralinen und Orangen“, erklärt Pressesprecherin Julia Wodolaskina, eine Frau Ende 30. „Millionen sind mit diesem Geschmack aufgewachsen.“ Vier Jahre nach der Gründung des Werks, ein Jahr nach Stalins Tod, lief die fünfmillionste Flasche in Artjomowsk vom Band.

Nach der Unabhängigkeit der Ukraine wurde es komplizierter. „Wir haben verstanden, dass man nur überleben kann, wenn man die Bedürfnisse eines jeden Klienten zufriedenstellt“, sagt Ljudmila Powaljaewa. Man gründete neue Marken und Sorten. Es war ein langer „Erziehungsprozess“, wie Wodolaskina mit gütiger Strenge hinzufügt. Bekannt ist Artjomowsk für seinen Rosé und ebenso für seinen roten Sekt, der schwer nach Erdbeeren und Kirschen duftet. Französische Sektkenner trauten ihren Augen nicht, als man ihnen erstmals das blutrote Getränk ins Glas goss. Doch nach der Degustation sagten sie anerkennend: „Er hat sich seine Existenz verdient.“

Heute erzeugt die Winery mehr als drei Dutzend verschiedene Produkte, vom kostengünstigen „Artemiwske“ bis zum schon seit den 1970er Jahren nach Deutschland exportierten „Krimsekt“.

Die Zukunft der Produktion ist ungewiss

Doch dessen Zukunft ist ungewiss. Im Donbass gibt es keine Rebstöcke. Der Wein kommt in Tankwagen aus der Südukraine, aus der Gegend um Odessa, Cherson, Mykolajew – und von der Krim, wo seit 1799 Schaumwein erzeugt wird. Dieses Jahr hat man von dort keine Lieferung mehr erhalten. Zum Krieg kommen neue Zoll- und Grenzformalitäten. Das Werk habe noch Vorräte für drei Jahre, solange könne man weiterarbeiten. Was dann aus ihren Produkten Krimart, Krimskoye und Krimsekt wird, kann niemand sagen. Hoffentlich, sagt Wodolaskina, sei „die Sache“ bis dahin geklärt. Dass es ansonsten noch andere Hersteller von Krimsekt gibt, tröstet sie jedenfalls nicht.

Dann befindet Ljudmila Powaljaewa, dass schon genug über den Krieg gesprochen wurde. Der Rosé soll nicht in der Flasche versauern. „Auf den Frieden!“, sagt sie. „Wenn es knallt, nur von Sektkorken! Wenn der Boden aufgegraben wird, nur für Weinstöcke!“ Der Toast wird seit Jahrzehnten im Unternehmen weitergegeben – aber er klingt, als sei er gemacht für die Gegenwart.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

Jutta Sommerbauer

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