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Schatten von Günter Grass.

© dpa

Über Anonymität und Identität des Autors: Niemand im Jemandsland

Permanente Selbstvermarktung in den sozialen Netzwerken, der Drang zu privaten Bekenntnissen, das Wüten der Trolle: Individualisierung und Anonymisierung überkreuzen sich in nie gekannter Weise. Was heißt es eigentlich, als Autor eine Identität zu haben?

Von Gregor Dotzauer

Die Lage ist heillos widersprüchlich. Zwischen dem Grundrauschen wirrer Meinungen und markanter Dichtung, zwischen schwarmweise piratisierten Texten und profilarmen Bestsellern gibt es in unserer Schriftkultur nichts, was es nicht gibt. Es gibt folglich auch keine Übereinkunft, ob für das Schreiben von Texten künftig eher ein Vermummungsgebot als ein Vermummungsverbot gelten soll. Nur beim Deutschen Patent- und Markenamt kann man problemlos beides haben: Gegen eine Gebühr von zwölf Euro lassen sich auch anonyme und pseudonyme Werke 70 Jahre lang urheberrechtlich schützen.

Namenlosigkeit ist mindestens so sehr eine Urangst wie eine Ursehnsucht des Menschen. Wo Anonymität ihm Schutz gewährt und wo er sie als Bedrohung empfindet, entscheidet freilich nicht jeder für sich. Es wird auch gesellschaftlich ständig neu definiert. „Mein Name ist Niemand“, macht Odysseus dem Zyklopen Polyphem weis, der ihn in seiner Höhle verspeisen will: „Niemand rufen mich Vater und Mutter und all meine anderen Gefährten.“ Zusammen mit seinen Begleitern gelingt es ihm, den einäugigen Riesen zu blenden, der daraufhin um Hilfe ruft, aber nur erklären kann: „Niemand will listig mich morden.“ Und so ziehen die Mitzyklopen wieder von dannen.

Die verblassende Identität

Drei Jahrtausende nach Homer, am anderen Ende der Phantasmagorien, geht es schon nicht mehr um Täuschung, sondern um verblassende Identität, vielleicht gar Selbstauslöschung. „Ich würde ganz gern“, heißt es in einer berühmten Miniatur von Franz Kafka, „einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter Niemand machen. Natürlich ins Gebirge, wohin denn sonst? Wie sich diese Niemand aneinander drängen, diese vielen quer gestreckten und eingehängten Arme, diese vielen Füße, durch winzige Schritte getrennt! Versteht sich, dass alle in Frack sind. Wir gehen so lala, der Wind fährt durch die Lücken, die wir und unsere Gliedmaßen offen lassen. Die Hälse werden im Gebirge frei! Es ist ein Wunder, dass wir nicht singen.“

Mit literarischen Zeugnissen allein – Hannes Frickes Studie „Niemand wird lesen, was ich hier schreibe“ (Wallstein) entwirft eine brillante Motivgeschichte des Niemands – wird man der Zäsur im Verständnis von Anonymität und Identität allerdings längst nicht mehr gerecht. Noch Samuel Beckett und Maurice Blanchot, die mit der großen Rätselfrage „Wer spricht?“ spielten und wesenlose Stimmen durch ihre Texte hallen ließen, blieben als Autoren, nicht nur als Urheber, hinter ihren Büchern sichtbar.

Individualisierung und Anonymisierung

Auch die Formel vom „Tod des Autors“ signalisierte keineswegs den Wunsch nach dessen praktischer Abschaffung. Roland Barthes und Michel Foucault wollten damit nur benennen, dass die Bedeutsamkeit von Literatur weniger auf den Sinn stiftenden Möglichkeiten des Autors und eines Personalstils beruht, als auf überpersönlichen Schreibweisen und sich selbst organisierenden Diskursformationen. Wo immer man die Gewichte sehen mag: Ernsthafte Literatur war für sie ohne Autorschaft im erweiterten Sinn nicht zu haben – auch wenn die anthropomorphen Metaphern von Gesicht und Handschrift zu kurz greifen.

Erst die Sintfluten des heute Geschriebenen machen es immer schwieriger, die Notwendigkeit eines literarischen Umgangs mit Sprache überhaupt noch plausibel zu machen. Das permanente Selbstmarketing in den sozialen Netzwerken, der Drang zu privaten Bekenntnissen, das Wogen pseudonymer Äußerungen, das Wüten der Trolle, die Anhäufung von Erfahrungswissen in Foren zu den entlegensten Themen: Individualisierung und Anonymisierung überkreuzen sich in nie gekannter Weise.

Obwohl all diese Äußerungsformen ihre Funktion und ihren Wert haben, leisten sie nicht zuletzt eines. Sie verschieben die Traditionen eines verstehenden, auf das Innere von Texten gerichteten Lesens in Richtung eines rein informationellen Lesens. Es ist kein Zufall, dass dieses bloße Scannen mit der Praxis von Geheimdiensten und dem NSA-Skandal zusammenfällt – und der Mentalität von Plagiatsjägern, die nie begreifen werden, dass es hundertprozentig saubere Arbeiten gibt, denen trotzdem der geringste Funken Originalität fehlt.

Die Schriftsteller spüren, wie sie in die Defensive geraten.

Soll man diese Verhältnisse pathologisieren? Eugen Bleulers „Lehrbuch der Psychiatrie“ zählt unter Berufung auf Emil Kraepelin, den Vater der modernen Nervenheilkunde, anonymes Briefeschreiben ähnlich wie die Kleptomanie oder die Kaufsucht zu möglichen Formen impulsiven Irreseins. Soll man sie wissensgeschichtlich sanktionieren? „Being No One“ nennt der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger seine neurowissenschaftlich beeinflusste Theorie zeitgenössischer Subjektivität, die einmal mehr das Selbst zur Illusion erklärt. All das hat mit Literatur als Kunst vordergründig wenig zu tun. Aber es wäre ein Wunder, wenn es keine Auswirkungen auf sie hätte. Die Schriftsteller spüren sehr wohl, wie sie in die Defensive geraten.

Unter der Leitung von Mathias Gatza und Ingo Niermann haben sich deutsch- und englischsprachige Autoren jüngst zu dem Modellprojekt „Fiktion“ (fiktion.cc) zusammengeschlossen, das die literarisch angeblich müde gewordenen Verlage links und die Self-Publishing-Horden rechts überholen will. In einer unter anderem von Elfriede Jelinek, Katharina Hacker und Jan Peter Bremer unterzeichneten Deklaration träumen sie davon, „wie ein neues Verständnis des Urheberrechts, des Internets und der Rolle des Autors zu einer literarischen Renaissance führen kann“. Gedacht wird an kostenlose E-Books, Netzwerk-Promotion und – bitte nicht lachen – Drittmittel.

Seite an Seite mit den „Fiktions“-Autoren

Ob sich das wuchernde Internet in diesem Sinn noch einmal konturieren lässt, ist nicht nur wegen seiner big player zweifelhaft. Denn Seite an Seite mit den „Fiktions“-Autoren, die trotz ihrer digitalen Aufgeschlossenheit ein tendenziell kulturkonservatives Programm verfolgen, befinden sich die Technofantasten rund um LitFlow, die geradezu messianische Hoffnungen darauf setzen, dass den Gedärmen der Social Media „die nächste Literatur“ entsteigt. Die Fiktionalisten aber müssen sich auch fragen lassen: Warum eigentlich nicht auch nichtfiktionale literarische Texte?

Während die einen um Sichtbarkeit ringen, streben die anderen nach Unsichtbarkeit. Im Fall von Joanne K. Rowling war es anfangs ein bloßer Verdacht. Dann, per Twitter, denunzierte sie ein Eingeweihter. Am Ende überführte sie die Software von Stilerkennungsexperten. Mitte Juli musste sie zugeben, unter dem Pseudonym Robert Galbraith den Krimi „Der Ruf des Kuckucks“ geschrieben zu haben. Unabhängig voneinander kamen der Oxforder Sprachphilosoph Peter Millican mit „Signature“ und der Pittsburgher Mathematiker Patrick Juola mit dem „Java Graphical Authorship Attribution Program“ zu dem Ergebnis, dass die Wort- und Satzmuster mit denen der „Harry Potter“-Autorin übereinstimmten.

Ausgerechnet die ihr zum Verhängnis gewordene Stilometrie, ein Gebiet der forensischen Linguistik, die mit rein statistischen Tools etwa Erpresserbriefe untersucht, hätte ihr indes ebenso gut beibringen können, im Verborgenen zu bleiben. Denn mit „Anonymouth“ entwickelt die Drexel University in Philadelphia gerade eine Software, die stilistisch nicht aus ihrer Haut kommenden Autoren hilft, ihre Texte zu verfremden. Im Auftrag der „New Republic“ haben die Wissenschaftler schon einmal Passagen von F. Scott Fitzgerald, Charles Dickens und David Foster Wallace anonymisiert. Das Ergebnis ist verblüffend. Doch müsste bewusste Verstellung nicht jedem geschickten, über seine Mittel verfügenden Autor gelingen? So funktionieren schließlich auch Imitation und Parodie.

Steht Individualität höher als Konformität?

Wenn Anonymisierung auf vorheriger Stilerkennung beruht, bedeutet dies, dass Individualität in gewisser Weise höher steht als Konformität. Es heißt allerdings nicht, dass man daraus schon einen starken Begriff menschlicher Einzigartigkeit ableiten könnte. Denn nicht nur der zur Meisterschaft gereifte Stilkünstler lässt sich schnell identifizieren. Gerade der unbedarfte Dilettant verrät sich durch Wiederholung von Mustern: Je weniger Sprachbewusstsein jemand besitzt, um so weniger kommt er über Formeln hinaus. Daraus folgt aber natürlich auch, dass sich selbst die schwächste Individualität im Sinne einer umfassenden Marktlogik steigern lässt. Style yourself!

Vielleicht ist Anonymisierung also das Letzte, was den zwangsweise Überwachten und den sich freiwillig Ausliefernden geblieben ist. In seinem Essay „The Philosophy of Anonymous“ (www.radicalphilosophy.com) formuliert der Informatiker Harry Halpin eine positive Idee von Anonymität, die eine „ontologische Verlagerung auf dem Terrain der Identität in genau dem Moment darstellt, in dem Identität die höchste Form von Auslese und Ausbeutung in einem kognitiven Kapitalismus geworden ist“. Es ist dies die theoretische Begleitmusik zur bestenfalls in Guy-Fawkes-Masken auftretenden Anonymous-Guerilla, die sich im Netz gebildet hat. Auch die Literatur mag gelegentlich von dieser Form des Widerstands träumen. Sie würde damit zugleich ihre eigene Kapitulation erklären.

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