zum Hauptinhalt
Lockdown-Impressionen: Lilli Brontë Falzoi studiert in der Malerei Klasse bei Burkhard Held.

© Lilli Brontë Falzoi

UdK-Projekt „Timeline“: Miniaturen der Krise

Chronik der Hochschulmitglieder: Die UdK versammelt ab Herbst in ihrer digitalen Timeline Dokumente und Werkstücke aus dem ersten Corona-Semester.

Die Timeline zeigt das Datum 16. März 2020. Vor den Drehtüren der Universität der Künste in der Hardenbergstraße sitzen zwei Studentinnen auf Kisten und warten. Daneben vollgepackte Taschen, aus denen Farbtuben und Pinsel herausquillen. Wo es jetzt genau hingeht, wissen die beiden nicht so richtig. „Echt keine Ahnung. Mein Zimmer ist so klein, da hat die Leinwand, die ich brauche, ja gar keinen Platz.“

Platz hätte die Leinwand normalerweise in einem der Atelierräume. Aber jetzt ist Corona ausgebrochen. Die ganze Universität ist in den Notdienst gewechselt. Die ganze Universität ist dicht. Und das heißt für die beiden Studentinnen: Mit dem Malen ist es hier erstmal vorbei. Wann es wieder anders sein wird, weiß niemand.

Corona stürzte viele in heftige Krisen – auch an der Universität

Was die Timeline aber schon für den 15. März 2020 ganz sicher verzeichnet: Das Coronas-Virus löst Alarm aus. Die Ansteckungsraten schießen in ganz Europa in die Höhe. Mancherorts kommt man nicht mehr hinterher, sich von den Sterbenden zu verabschieden und die Toten zu begraben. Die Länder schotten sich ab und lösen ihr öffentliches Leben auf. Und damit rutschen viele Menschen mit ihren Jobs, mit ihren Familien und mit ihren Lebensentwürfen in heftige Krisen.

Genau das droht im März 2020 auch all denen, die an der UdK studieren. Denn Kunst macht man nicht nebenbei. Wer das Spielen eines Instruments perfektioniert, wer mit Film experimentiert, wer Sounds programmiert, wer Kleidungsstücke entwirft, wer Tanz trainiert oder über die Probebühne geht, um dabei das Gehen neu zu lernen, der ist immer auch dabei, die eigene Existenz mit ins Spiel zu bringen.

Und wenn man dieses Spiel mit sich selbst und den anderen nicht mehr spielen kann, weil man keine Räume mehr hat, keine Materialien, keine Geräte, keinen Austausch – was macht man dann?

Die Gegenwart dokumentieren

Die Timeline zeigt das Datum 18. März 2020, als Norbert Palz dafür einen Vorschlag macht. Palz ist wenige Wochen zuvor zum neuen Präsidenten der UdK gewählt worden. Offiziell bestätigt ist er aber noch nicht. Und doch ist er es, der zu diesem Zeitpunkt verhindern muss, dass der Corona-Schock die ganze Universität lahmlegt und alle in tiefe Verzweiflung stürzt.

„Dass wir uns in diesem Zustand zwangsläufig verändern werden“, schreibt er per E-Mail an die Mitglieder der Hochschule, stehe für ihn außer Frage. Weil daran aber niemand verzweifeln soll, schickt Palz eine Bitte mit: Jetzt gelte es, die Gegenwart zu dokumentieren, um sie für die Zukunft zu übersetzen.

„Diesen Zustand künstlerisch zu beobachten, zu kommentieren und zu verarbeiten, kann für eine Zeit danach bedeutsam sein“, schreibt er. „Denn ein Blick in die Moderne zeigt uns eindrücklich, dass es die Künste waren, die in Krisenzeiten ihre jeweils eigenen Miniaturen der Gegenwart zu erschaffen vermochten.“

Private Einblicke in die Arbeit zuhause

Gut eineinhalb Jahre später, ein Blick in die Zukunft. Die Timeline zeigt Oktober 2021, Beginn des Wintersemesters 21/22. Wer sie anklickt, kann sehen, was aus dem Aufruf geworden ist. Die Website ist für die Universität zu dem Ort geworden, an dem die ersten Monate der Corona-Epidemie noch einmal mit voller Intensität erlebbar werden. Denn hier wird gesammelt, was in den in die Privatwohnungen ausgelagerten Werkstätten, Ateliers, Büros und über die Bildschirmtreffen der Onlineseminare im ersten Krisensemester entstanden ist.

„Zuerst gab es die Idee, ein paar Flaneurinnen und Flaneure zu bitten, sich an der Universität umzuschauen und dann besondere Gegenwartsminiaturen anzufertigen“, sagt Claudia Assmann, Leiterin der Presse- und Kommunikationsabteilung und eine der Initiatorinnen der Timeline.

Sehr schnell aber war klar: Es sollte ein Kollektivprojekt sein. „Ein paar ausgewählte Stimmen waren uns zu wenig. Wir wollten stattdessen eine Zeitkapsel öffnen, in die jeder etwas hineinlegen kann.“ Dabei ist das Ergebnis alles andere als vollständig. Es sind kurze Schlaglichter, kaleidoskopartige Ausschnitte und zum Teil sehr private Einblicke einiger Hochschulmitglieder. „Ein wesentlicher Bestandteil des Konzeptes ist es, die Beiträge für einen gewissen Zeitraum unter Verschluss, die Zeitkapsel verschlossen zu halten“, erläutert Assmann. Denn erst der Abstand ermöglicht Distanz und Reflexion.

Fünf Monate lang wurde der Alltag während der Pandemie dokumentiert

Dass es dabei auch keine Vorgaben für Inhalte und Formate gab, erweist sich im Nachhinein als großer Vorteil. Denn umso vielfältiger und authentischer wirkt, was in der Timeline der UdK ab Herbst 2021 nachzulesen sein wird. „Uns war sehr wichtig, dass alle UdK-Mitglieder und alle Formate ihren Platz finden“, erzählt Kirsten Reese, Dozentin für elektronische Komposition am Institut für Neue Musik, „Es gibt Klangeindrücke, Hörbeispiele, aufgezeichnete Gespräche, Tagebucheintragungen, künstlerische Arbeiten und Fotos aus dem neuen Arbeitsalltag, der zwischen Spielplatz und Homeoffice die Situation so gut es geht bewältigt.

Bei Lilli Brontë Falzoi treten fotografische und video-installative Momente mit der Malerei in einen Dialog. 
Bei Lilli Brontë Falzoi treten fotografische und video-installative Momente mit der Malerei in einen Dialog. 

© Lilli Brontë Falzoi

Die Formate spiegeln zudem inhaltlich eine neue Verquickung von persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Themen. Zurückgeworfen auf den privaten Raum und den virtuellen Austausch an der Uni, werden andererseits die Fühler ausgestreckt in die ganze Welt, Freunde und Bekannte werden kontaktiert und Nachrichten ausgetauscht.

Und auch der unmittelbare Raum der eigenen Lebensumgebung, die Orte des Spazierengehens, der Nachbarschaft, des von den gewöhnlichen Funktionen entleerten öffentlichen Raums nimmt plötzlich im Alltag eine ganz andere Rolle ein und spielt daher auch in die Chronik der Hochschulmitglieder hinein.“

Unterschiedliche Perspektiven ergeben ein Ganzes

Dass man nun denken könnte, dass dieses Projekt nichts Besonderes ist und nur die unendliche Reihe von Corona-Tagebüchern verlängert, irritiert Stephan Porombka nicht. Als Professor für Texttheorie und Textgestaltung hat er mit Norbert Palz, Claudia Assmann und Kirsten Reese die Timeline auf den Weg gebracht.

„Dabei ging es uns doch gar nicht darum, etwas Besonderes zu sein“, sagt Porombka. „Was in unserer Zeitkapsel dokumentiert ist, gehört ja letztlich nur in die noch viel größere Zeitkapsel der Kultur hinein. Und in dieser größeren Zeitkapsel der Kultur darf natürlich auch keins der anderen vielen Corona-Tagebücher fehlen.“

Und Kirsten Reese ergänzt: „Es sind unsere Beobachtungen, Gedanken- und Kunstsplitter,  unsere bruchstückhaften Beiträge für später. Wenn wir verstehen wollen, was mit uns und auch mit der Kunst passiert ist, dann können wir nochmal in diese Timeline schauen. Schon heute, ein gutes Jahr später, können wir über das Nachlesen, Nachschauen und -hören die Zeit nachempfinden. Die völlig neue, unerwartete Situation brachte nicht nur Verunsicherung und Ängste mit sich, sondern auch neue Haltungen und Praktiken in der Arbeit, in der Kunst und im Alltag, die wir vielleicht jetzt schon wieder fast vergessen haben, die aber möglicherweise etwas enthalten, was wir uns für zukünftige Herausforderungen in Erinnerung behalten sollten.“

Die Chronik wird weitergeführt 

Geöffnet wird die Zeitkapsel mit dem Beginn des Wintersemesters, geschlossen wird sie allerdings noch lange nicht. Auch nach ihrem Onlinegang soll sie peu à peu mit Dokumenten und Werkstücken, die im ersten Corona-Semester im Kontext der Universität der Künste entstanden sind, ergänzt werden.

Wer als Hochschulmitglied im eigenen Archiv noch eine Miniatur der Gegenwart findet, von der man vielleicht vor einem Jahr noch nicht wusste, dass sich in ihr etwas von der Erschütterung der Corona-Zeit spüren lässt, hat jederzeit die Möglichkeit, sie auf der Timeline nachzutragen.

„Das Archiv wächst weiter“, sagt UdK-Volontärin Hannah Kattner, die die Timeline mittlerweile als ihr Abschlussprojekt an der Universität betreut. „Das tut es, weil der Blick zurück sich schon jetzt verändert. Und weil uns damit plötzlich doch so vieles wichtig und wertvoll erscheint, um aufgehoben zu werden.“
Die Timeline ist mit dem Beginn des Wintersemesters zu finden auf https://timeline.udk-berlin.de. Gestaltet wurde die Seite vom Medienkünstler und Designer Vinzenz Aubry, Student der New Media Class und der Klasse für Generative Kunst an der UdK Berlin.

Klara Barbara Lenz

Zur Startseite