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Das Privatfoto der Eltern vom Freitag (15.08.2008) zeigt die 18-jährige Offiziersanwärterin der Marine Jenny Böken an Bord der Gorch Fock im Hafen von Mürwik (Flensburg).

© dpa

Tod auf der "Gorch Fock": Jenny Bökens Eltern kommen nicht zur Ruhe

Marlis Böken will endlich wissen, wie ihre Jenny auf der „Gorch Fock“ starb. Für die Bundeswehr ist der Fall erledigt. Doch die Mutter zieht zum sechsten Mal vor Gericht. Unsere Reportage nun in voller Länge.

Im Wohnzimmer von Marlis Böken ist die Zeit vor acht Jahren stehen geblieben. Ihre Tochter Jenny ist überall in diesem Raum. Auf den Tischen stehen gerahmte Fotos, von denen das blasse Mädchen mit den Sommersprossen in den Raum blickt, mal ernst, mal lächelnd. Fast immer im blau-weißen Matrosenanzug. „Ich habe bis zu Jennys Tod nicht allzu viel über die Schifffahrt und das Militär gewusst“, sagt Marlis Böken. Heute kennt die 58-Jährige die Führung der deutschen Streitkräfte persönlich, vom Chef der Marine bis zur Verteidigungsministerin.

Sie könne es bis heute nicht fassen, sagt Marlis Böken. Manchmal warte sie immer noch, dass es an der Tür klingele und Jenny davorstehe. „Und vor sich hin pfeift, wie sie es immer getan hat.“ Böken ist Biologielehrerin, eine quirlige Frau mit blonden Locken und strahlend blauen Augen. Seit acht Jahren kreisen die gleichen Fragen in ihrem Kopf, eine Endlosschleife. In der Nacht vom 3. auf den 4. September 2008 verschwindet die damals 18-jährige Sanitätsoffiziersanwärterin Jenny Böken bei einer Ausbildungsfahrt in der Nordsee vom Oberdeck des Segelschulschiffs „Gorch Fock“. Elf Tage später ziehen Männer eines Fischereiforschungsschiffs nordwestlich von Helgoland ihre Leiche aus dem Meer. Wie Jenny Böken genau starb, ist nach wie vor unklar.

Marlis Böken sitzt in ihrem Wohnzimmer in Teveren in Nordrhein-Westfalen, einem Örtchen nahe der Niederlande, und greift in die Speichen ihres Rollstuhls. 2009 hatte sie einen Autounfall. Eine Wunde entzündete sich schwer, das linke Bein wurde vergangenes Jahr amputiert. „Ohne die Amputation hätte ich an multiplem Organversagen sterben können“, sagt sie und deutet mit dem Kopf auf ihren Stumpf. Sie erzählt das mit einer Selbstverständlichkeit, als sei der Verlust ihres Beines nur eine weitere Episode. Schon kurz nach Jennys Tod scheiterte ihre Ehe. Die Beziehung hat den Verlust der Tochter nicht ausgehalten.

Ihren Ex-Mann Uwe sieht Marlis Böken aber fast täglich: „Wir sprechen viel miteinander, besonders jetzt, wo der Prozess ansteht.“ Die Familie hat die Bundesrepublik auf eine Entschädigung von 20.000 Euro verklagt. Das Soldatenversorgungsgesetz sieht vor, dass Eltern einen Anspruch auf Unterstützung haben, wenn ihre Kinder bei der Berufsausübung unter besonderer Lebensgefahr sterben. Das Oberverwaltungsgericht Münster muss klären, ob Jenny Böken auf der „Gorch Fock“ einer solchen Gefahr ausgesetzt war. Der Prozess beginnt an diesem Mittwoch.

Wehrbeauftragter benannte "Führungsdefizite und Sicherheitslücken"

Es ist der sechste Prozess, den die Bökens gegen die Bundeswehr führen. Die Eltern haben in den acht Jahren mit Offizieren diverser Ebenen gesprochen, immer wieder nachgefragt. Nach dem Tod einer weiteren Kadettin der „Gorch Fock“ im November 2010 wurde die Offiziersausbildung vorerst ausgesetzt. Nach Vorwürfen über unmenschliche Ausbildungsmethoden und sexuelle Belästigung stellte der damals amtierende Wehrbeauftragte des Bundestages, Hellmut Königshaus, „Führungsdefizite und Sicherheitslücken“ fest. Der Fall wird derzeit für die ARD verfilmt, 2017 soll das Werk ausgestrahlt werden.

Ob ihnen im anstehenden Prozess noch Geld zugesprochen wird, spielt für die Bökens keine Rolle. Es geht ihnen um fehlende Informationen, um die Wahrheit. Im aktuellen Prozess sollen der ehemalige Kommandant und der Schiffsarzt der „Gorch Fock“ aussagen, die bislang in keinem der Verfahren gehört wurden.

In Teveren haben Marlis Böken und ihr Ex-Mann Uwe zwei Söhne und die Tochter großgezogen. Die geklinkerten Häuser mit gestutztem Rasen, die getrimmten Hecken, zwei Kirchen und die Feuerwache sind von Feldern umgeben. Jenny ist auf dem Friedhof am Ortsende begraben. Nach dem Tod ihrer Tochter zog die Mutter aus dem Familienhaus aus. Das Haus, in dem sie seit der Trennung wohnt, ist nur 800 Meter von ihrem alten entfernt. Die beiden Söhne leben noch dort, einer ist lernbehindert, die Mutter wollte in der Nähe bleiben.

Jenny wollte Marineärztin werden

Am Esstisch im Haus seiner Ex-Frau sitzt Uwe Böken und ringt um Fassung. Der Mann mit der randlosen Brille, Jeans und kurzärmeligem Hemd verschränkt seine Arme vor der Brust. „Wir haben in all den Jahren immer wieder bei der Marine und beim Verteidigungsministerium nachgebohrt. Die Antworten, die wir bekamen, haben jedes Mal nur neue Fragen aufgeworfen oder wiederholten Statements, die man uns schon früher gegeben hatte“, sagt er. „Wir wissen bis heute nicht, was mit Jenny passiert ist.“

Im Wohnzimmer steht ein Bild, das Jenny ein Jahr vor ihrem Tod gezeichnet hat. „Mein Traumberuf“ hat sie es genannt. Darauf sind zwei Blauhelmsoldatinnen zu sehen, von denen eine mit Deutschland-Abzeichen auf dem Uniformärmel ein dunkelhäutiges Kind versorgt. Zwei gelbe Streifen und ein Stern auf der Schulterklappe zeigen, die gemalte Soldatin ist Oberleutnant zur See. Mit der „Gorch Fock“ fahren, das war Jennys großer Traum. Sie wollte sich zur Sanitäterin ausbilden lassen und danach Militärärztin werden.

Um ihr Ziel im Blick zu behalten, hatte Jenny ein Poster des Großseglers über ihr Bett im Elternhaus gepinnt. Auf dem Foto gleitet der Dreimaster mit aufgeblähten Segeln über das Meer, der goldene Albatros am Bug glänzt in der Sonne, am Heck weht eine Deutschlandflagge. Daneben hatte Jenny eine blaue Postkarte geheftet, in weißen Buchstaben stand da: „2008 wird mein Jahr!“

Wer bei der Marine aufsteigen will, muss auch auf der „Gorch Fock“ dienen. Der knapp 90 Meter lange und zwölf Meter breite Großsegler ist eines der letzten Prestigeobjekte der Bundeswehr. Kurz nach Jenny Bökens Tod stand das 50. Jubiläum des Segelschulschiffs an. Die Wochen auf der berühmten Bark, die sie „Lady“ nennen, dienen nicht nur dem Üben von Manövern, sondern sollen die Sinne der Kadetten für die See, Wind und Wetter schärfen. Herausforderungen, die zu einer „Crew“ zusammenschweißen. Die Marine teilt auf ihrer Homepage mit: „Gerade die Ausbildung auf einem Segelschulschiff prägt Charaktereigenschaften und Gemeinschaftssinn, die für einen militärischen Vorgesetzten unerlässlich sind.“

Einen Unfall hält die Familie für ausgeschlossen

Uwe und Marlis Böken in Teveren.
Uwe und Marlis Böken in Teveren.

© Sarah Kramer

An Bord herrschen jedoch auch Drill und ein rauer Ton. Die Staatsanwaltschaft Kiel, die nach dem Tod der Kadettin ermittelte, erklärte in ihrem Abschlussbericht im Januar 2009, dass Jenny Böken auf ihrem Wachposten am Bug der „Gorch Fock“ bei einem „tragischen Unglücksfall“ gestorben sei. Auf dem Dreimaster gab es bereits Todesfälle. Der offiziellen Statistik zufolge sind seit Auslaufen des Schiffs 1958 sechs Seeleute zu Tode gekommen. Ein Offizier wurde vom Ladebaum erschlagen. Drei Kadetten und eine Matrosin stürzten aus der Takelage. Jenny Böken wäre die erste von 14.000 Offiziersanwärtern, die vom Deck gefallen und ertrunken ist.

Die Bökens halten das für ausgeschlossen. „Sie war schon als kleines Kind eine sehr gute Schwimmerin“, sagt Mutter Marlis. Ihre Tochter habe sich bei der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft zur Rettungsschwimmerin ausbilden lassen und Schwerbehinderte unterrichtet. „Sie konnte spielend 25 Meter am Stück tauchen, ohne Luft zu holen“, sagt Marlis Böken. „Und sie wusste ganz sicher, wie man sich zu verhalten hat, wenn man mit Kleidern ins Wasser fällt.“ Um nicht auszukühlen, sollen gekenterte Seeleute ihre Kleidung im Wasser anbehalten.

Der Kieler Gerichtsmedizin zufolge war die Kadettin nur mit Hose, Sweatshirt und Socken bekleidet, als ihre Leiche dort eintraf. Die Besatzung des Forschungsschiffs, die den Körper im Meer entdeckte, will Jenny Böken aber anhand des blauen Bordparkas mit den gelben Reflektorstreifen am Ärmel identifiziert haben, den die Leiche trug. Auf dem Namensschild an der linken Brust stand in Großbuchstaben „Böken“.

Offenbar ist der Parka nicht in der Gerichtsmedizin angekommen. Auch Jennys schwarze Stiefel sind verschwunden. „Ich hatte ein merkwürdiges Bauchgefühl von Anfang an“, sagt Uwe Böken. Der Schuldirektor war 2008 der Erste, den die Marine über Jennys Verschwinden informierte. Er ist überzeugt, dass seine Tochter von einem oder mehreren Kameraden über Bord geworfen wurde, aus welchen Gründen auch immer. Die ehrgeizige Kadettin habe Freunde, aber auch Neider auf dem Schiff gehabt, wie die Eltern aus persönlichen Schilderungen, E-Mails und Telefonaten erfahren hätten. Von zwei Kameradinnen sei sie immer wieder geärgert worden.

Private Gegenstände von Jenny sind spurlos verschwunden

Zum fehlenden Parka kommt hinzu, dass die Gegenstände aus Jennys Spind verschwunden sind. Wie alle Matrosen hatte sie in einem verschlossenen Fach Privates aufbewahrt: Hausschlüssel und Tagebuch sowie eine Goldkette, die ihr Freund ihr geschenkt hatte. Die Marine teilte mit, die Sachen in einem Paket an die Bökens geschickt zu haben - angekommen ist es nie.

Für die Eltern entscheidend aber ist der Befund der Kieler Gerichtsmedizin. In der Lunge der toten Tochter fanden die Pathologen kein Wasser. Auch Schaumpilz, der sich bei Ertrinkenden am Mund durch die Atembewegungen im Wasser bildet, war nicht vorhanden. Beides könnten Anhaltspunkte dafür sein, dass die Kadettin nicht im Meer, sondern an einem anderen Ort gestorben ist - vielleicht auf der „Gorch Fock“.

In Jennys Todesnacht befanden sich rund 30 Kameraden mit der Offiziersanwärterin auf dem Oberdeck - keiner will die Umstände ihres Verschwinden mitbekommen haben. Die Eltern wissen bis heute nicht, wer mit Jenny zur Nachtwache eingeteilt war und wer sie auf ihrem Posten am Bug ablösen sollte.

Die Gorch Fock auf der Kieler Förde. Derzeit wird das Schiff in Bremerhaven generalüberholt.
Die Gorch Fock auf der Kieler Förde. Derzeit wird das Schiff in Bremerhaven generalüberholt.

© Carsten Rehder/ dpa

Uwe Böken ist nicht nur Physik- und Mathematiklehrer, sondern war bis zu Jennys Tod selbst Hochseesegler. Böken sagt, die offizielle Version und der Fundort vor Helgoland passten nicht zur Strömung, die in jener Nacht 2008 in der Deutschen Bucht geherrscht habe. Die Staatsanwaltschaft ging diesem Verdacht nicht nach, weshalb Böken die Strömungsdaten selbst beim Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie anforderte.

Der Fundort bei Helgoland könnte ein Anhaltspunkt dafür sein, dass sein Kind womöglich nicht - wie bislang angenommen - zwischen 23 Uhr und Mitternacht von Bord verschwand, sondern früher in die Nordsee fiel. Seit dem Tod seiner Tochter hat Uwe Böken kein Schiff mehr betreten. Nur einmal machte der Vater eine Ausnahme, als ein Gericht während eines Prozesses einen Begehungstermin auf der „Gorch Fock“ angeordnet hatte. „Als ich vorne am Bug stand, wurde mir ganz anders“, sagt er und seine Stimme versagt.

Auch Marlis Böken kann nicht abschließen. Sie hat eine Stiftung gegründet, die den Namen ihrer Tochter trägt und deren Vorsitzende sie ist. Die Stiftung unterstützt Familien von schwer verwundeten und getöteten Soldaten. Sie trifft Hinterbliebene und organisiert Gedenkfeiern. „Ich möchte anderen Menschen helfen, um dadurch dem Leben meiner Tochter einen Sinn zu verleihen“, sagt Böken. „Viele Hinterbliebene sagen mir, dass es ihnen hilft, etwas zu tun und miteinander zu reden.“ Es ist ihre Art, mit der Trauer zu leben. „Die anderen Eltern wissen aber, wie ihre Söhne und Töchter zu Tode gekommen sind“, sagt ihr Ex-Mann. „Das ist der Unterschied.“

Marlis Böken hat die Akten der Kieler Staatsanwaltschaft, Gerichtsdokumente, Anwaltsschreiben in Kisten verstaut, die sich in ihrem Wohnzimmer stapeln. „Es sind 3008 Seiten.“ Dazu die Bilder von Jenny - der Raum besteht aus Erinnerungen an die Tochter. Immer wieder hat Marlis Böken die Dokumente studiert, Seite für Seite. Immer auf der Suche nach dem entscheidenden Hinweis darauf, was ihrer Tochter auf der „Gorch Fock“ zugestoßen sein könnte. „Wir werden erst Ruhe finden, wenn wir wissen, was in dieser verdammten Nacht passiert ist.“

Von der Marine kam eine Gedenkmedaille

Für die Marine ist der Fall abgeschlossen. Die Streitkraft hat der Kadettin 2014 posthum eine Medaille verliehen. „In ehrenvollem Gedenken“ steht auf der Plakette, die sie auf einen Metallsockel auf Jennys Grab in Teveren befestigt haben. „Das ist eine schöne Sache“, sagt die Mutter. Die Auszeichnung ist eine Ausnahme, sonst verleiht die Bundeswehr solche Ehrenmedaillen an Soldaten, die im Auslandseinsatz waren.

Jennys Grab in Teveren.
Jennys Grab in Teveren.

© Henning Kaiser/dpa

Uwe Böken sieht das mit der Auszeichnung anders. Wenn er Jennys Grab besuche, sagt er, komme die Ambivalenz seiner Gefühle zum Vorschein. „Es ist Trauer darüber, dass ein junges Leben viel zu früh enden musste. Und massiver Ärger auf die Institutionen, die nicht richtig nachgeforscht haben.“ Marlis Böken aber will sich ihr Leben nicht von Hass und Wut vergiften lassen. „Ich habe keine negativen Gefühle. Viele bei der Bundeswehr sind voller Mitgefühl.“ Wenige Wochen vor dem neuen Prozess in Münster ruft Marlis Böken an. Sie wirkt gut gelaunt und scherzt, obwohl sie wieder im Krankenhaus liegt, ihr Beinstumpf hat sich erneut entzündet. „Wir sind gespannt, was passiert“, sagt sie - noch gibt sie die Wahrheit nicht verloren. „Irgendwann ist das schlechte Gewissen größer als die Angst. Wir haben Zeit.“

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