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Tiergarten: Auf dem Schnupperpfad

Der Tiergarten ist ein Paradies für Füchse und Hunde, Kinder und Kerle. Und immer scheint er vom Untergang bedroht. Ein Sonntagsspaziergang

Das größte Friedensdenkmal der Welt ist: der Tiergarten! Das versichere ich Besuchern gern, wenn sie über die Siegessäule mit ihrer goldenen Kanonensammlung und das kriegerische Mosaik Anton von Werners spotten, das der Tourist nur nachlässig betrachtet, bevor er hinaufsteigt, um den Park und die Stadt im Überblick zu genießen ...

Aber das dauert eine Weile!, habe ich mal drei russischen Besuchern erklärt, die mich hier oben am Großen Stern fragten – das liebt der Einheimische: von Touristen nach dem Weg gefragt zu werden –, wie man per pedes zum sowjetischen Ehrenmal unten am Brandenburger Tor gelange, ein Kriegsmonument, das zugleich den Marmor von Hitlers Reichskanzlei verewigt.

Trotzdem, der Tiergarten ist das größte Friedensdenkmal der Welt: dank des Baumbestandes, der ihn im Sommer so dicht einhüllt, dass die Stadt nur in Gestalt des Verkehrslärms von den großen Straßen, die den Garten durchschneiden, hereindringt (winters, wenn das Laub fehlt, wird der Park durchsichtig).

Dieser Baumbestand fehlte nach 1945, die Stadt verheizte die Bäume (und legte auf den Wiesen Kartoffeläcker an). So erzählen es jetzt die Fahrradrikschafahrer den Touristen, die sie durch den Park kutschieren. Ich sah es mit eigenen Augen, 1947, als Kind, das in der Begleitung von Mutter in der Ebertstraße vor dem Goethedenkmal stand, das mit absurder Feierlichkeit in der Steppe thronte. Der Park war weg – was jetzt hier so üppig wuchert im Sommer, bezeugt den seit damals immerwährenden Frieden.

Gern wird man von den Touristen nach dem Zoologischen Garten gefragt – nein, das ist nicht dasselbe wie der Tiergarten, obwohl der Name es so nahelegt. Einst war er voller Tiere, ja, ein Wald für die kurfürstliche Jagd. Ausgerechnet Friedrich II. (der Große) – bekanntlich in vielen Kriegen engagiert – ließ ihn in einen Park für die Bürger umwandeln; den jetzt wilde Tiere allenfalls in der Gestalt von Füchsen bevölkern, die sich freilich vor den Menschen so wenig fürchten wie der Reiher, der zuweilen über die Parkwege stolziert oder bei der Rousseauinsel Hof hält. Der Zoo entstand erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Mein Hund liebt es, auf dem Weg zwischen Landwehrkanal und den Gehegen die Nase hochzuheben und ahnungsvoll hinüberzuschnuppern nach der fernen Tierwelt. Mit dem Fuchs, den wir an einem Frühsommertag in dem Rhododendrenwald nahe der Luiseninsel trafen, wechselte der Hund rätselnde Blicke.

Was seine Ausdehnung anlangt, so führt sie dazu, dass die Einheimischen, die ihn regelmäßig aufsuchen, ihre Spaziergangsroute kaum je durch das Gesamtgelände anlegen. Man hat seine Lieblingsgegenden, von den großen Straßen zugeschnitten, das Quartier am Neuen See (wo dem Hund die Zoodüfte in die Nase stechen), das Quartier der Luiseninsel, der Kongresshalle, des Schlosses Bellevue, dessen eigener Park in den Tiergarten so einschneidet wie der Zoo. Dieser Park innerhalb des Parks breitet sich erstaunlich weit aus, wie mir neulich ein Freund erzählte, der zum Sommerfest des Bundespräsidenten eingeladen war.

An einem dieser schönen Spätsommertage unternehmen wir zwecks Recherche nun doch einen Gesamtspaziergang, der alle Quartiere berühren soll. Es ist Sonntag, und das schöne Wetter lockt entschieden mehr Leute ins Grüne, als man unter der Woche hier trifft – das verblüffte mal einen Freund, den wir im Juni durch den voll blühenden Rhododendrenwald bezaubern wollten: wie leer der Tiergarten normalerweise ist („er ist halt so groß: da verlaufen sich die Leute“).

Der Tiergarten als Berliner Central Park

Das sind doch vor allem Berliner, bemerkt B., als wir eine der Liegewiesen überqueren, wo Teenager lungern, junge Eltern ihre Kinder mit Ballspielen beschäftigen, der ältere Bürger seine Zeitung oder ein Buch liest. Die Touristen erkennt man an den frei fließenden Fremdsprachen (viel Spanisch, so kommt es mir vor); und an dem Reiseführer oder der Stadtkarte, die sie in der Hand halten, damit sie sich jederzeit orientieren können. Was gar nicht so einfach ist: Man verirrt sich leicht auf den „Schlängelwegen“, die zu den Maßnahmen zählten, mittels deren Peter Joseph Lenné das Ideal des englischen Gartens verwirklicht. „Three cheers to Lenné!“, enthusiasmierte sich ein Freund aus New York, als wir ihn über den Hauptautor unseres höchsteigenen Central Park aufklärten.

Der englische Garten evoziert Arkadien, die heidnische Version des Paradieses; hierher gehören die vielen Sonnenbadenden, die an schönen Sommertagen die Wiesen nützen – in einem besonders heißen Sommer schwamm einer sogar mal um die Rousseauinsel herum, gewiss kein Einheimischer, der gewusst hätte, das Baden dort verboten ist. Erfreulicherweise meldete sich keine Ordnungskraft, die den Schwimmer darauf hinwies.

Doch, man erkennt deutliche Unterschiede, resümierte B., als wir auf der Gesamtroute so dahinspazieren, manche Partien sind einfach waldhafter mit ihrem Baum- und Gebüschbestand. Hier, sage ich, als wir Reinhold Begas’ Jagdgetümmel hinter uns haben, kannst du das Gebüsch dem Arkadischen zuschlagen: Hier erstreckt sich ein bevorzugtes Gelände für das Cruising der Schwulen, wie die jungen Kerle und die älteren Herren lehren, die da auf den Parkbänken sitzen und lange Blicke aussenden.

Die Schwulen im Tiergarten waren, wenn ich richtig sehe, nie ein Problemthema der innerstädtischen Konversation, die sich liebend gern mit unserem Zentralpark befasst. Stets dominiert dabei der bürgerliche Pessimismus, diese Basisreligion des gegenwärtigen Zeitalters: Stets droht dem Tiergarten Zerstörung, Verfall, „Übernutzung“ – der Untergang. Wenn er nicht längst eingesetzt hat.

Erinnern Sie sich an die Mönchsgrasmücke? Ein feinsinniger Verleger meinte erkannt zu haben, dass sie resigniert verstummt sei, nachdem die Love Parade durch den Tiergarten geschmettert war. Einen anderen prominenten Krankheitsherd bildeten die Grillplätze, deren politische Beseitigung eine große Mehrheit der Bürger lebhaft begrüßte – ich bin sicher, dass deren allergrößter Teil nie im Tiergarten spazieren geht; die Belästigung durch Grilldüfte kannten sie nur aus der Zeitung. Einmal beschloss das Gartenbauamt, die Trampelpfade auf manchen Wiesen mittels Sperrgittern zu eliminieren. Was natürlich die Trampelpfade vermehrte: Man musste ja um die Sperrgitter herum. Neulich radelten zwei junge Frauen zu einem der Teiche, und die eine erklärte begeistert der anderen, das Wasser hier sei ja bekanntlich am Umkippen ...

Und dann die Hunde. Aber das wäre ein neues Thema.

Michael Rutschky

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