zum Hauptinhalt
Widerstand. Wer der mutige Mann war, der sich allein einer Panzerkolonne entgegenstellte, und was aus ihm wurde, ist bis heute nicht bekannt.

© Jeff Widener/AP

Tiananmen - Massaker am Platz des Himmlischen Friedens: Der "Tank Man" - Es war das Bild seines Lebens

Was macht der da?, denkt er. Dann fotografiert er. Diesen mutigen Mann, der sich im Juni 1989 in Peking allein einer Panzerkolonne entgegenstellt. Der „Tank Man“ macht Jeff Widener berühmt. Und er erinnert an das Massaker vom Tiananmenplatz – das Chinas Regierung vergessen machen will.

Irgendwann stellt auch Jeff Widener eine Frage. Ob etwas auffalle in seinem Zimmer, will er wissen. In dem kleinen Wohn- und Arbeitszimmer im dritten Stock einer ruhigen Backsteinsiedlung im Hamburger Stadtteil Hamm-Nord liegen Fotobücher und -zeitschriften in den Regalen, auf dem Schreibtisch drei Kameras und zwei Objektive. Über einem anderen Schreibtisch hängen drei riesige Computermonitore. Doch tatsächlich, das Wichtigste fehlt. Das Foto.

„Mich verbindet eine Hass-Liebe mit diesem Foto“, erklärt Jeff Widener etwas überraschend. „Ich möchte für meine Arbeit bekannt sein und nicht nur für ein glücklich entstandenes Foto.“

Das Foto. Es zeigt einen Mann, der, mit zwei Einkaufstüten in der Hand, eine Panzerkolonne stoppt. Es ist eines der berühmtesten Bilder des 20. Jahrhunderts. Und es ist Jeff Wideners wichtigstes.

Der 58 Jahre alte US-Amerikaner, weiße Wuschelhaare, tiefliegende Augen, lebt gemeinsam mit seiner deutschen Frau Corinna seit fünf Jahren in Hamburg.

Jeff Widener war Südostasien-Bildchef bei der Nachrichtenagentur Associated Press (AP), und er hat in mehr als hundert Ländern gearbeitet. Er erlebte den Solidarnosc-Aufstand in Polen mit, fotografierte Unruhen und Kriege in Afghanistan, Thailand, Sri Lanka und Osttimor, machte die ersten digitalen Aufnahmen vom Südpol. Die vielen Einsätze in den Kriegsgebieten haben bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung verursacht. „Aber ich mache mir nichts vor“, sagt Jeff Widener, „wenn ich einmal tot bin, werden die Leute sagen, dass ich derjenige gewesen bin, der das Tank-Man-Foto gemacht hat.“

Tank Man. So wird weltweit jener todesmutige Chinese genannt, der sich am Tag nach der blutigen Niederschlagung des Studentenaufstands in Peking im Juni 1989 den Panzern entgegenstellte. Seine Identität ist bis heute nicht bekannt, niemand weiß, was mit ihm passiert ist, nachdem ihn vier besorgte Passanten – oder waren es Sicherheitskräfte in Zivil? – von den Panzern weggezogen hatten.

Ob er exekutiert wurde, womöglich noch im selben Jahr? „Er lebt noch, das ist so ein Gefühl von mir“, sagt Jeff Widener. Er glaubt, dass der Mann zuvor vielleicht eine Freundin oder einen Verwandten verloren hatte und deshalb mit dem Mut der Verzweiflung den Panzern entgegentrat.

Jeff Wideners Bild steht in einer Reihe mit anderen Fotos des 20. Jahrhunderts, die zu Ikonen wurden: der Brand der Hindenburg, das Aufstellen der US-Flagge auf Iwojima, das vor Napalm-Bomben fliehende nackte vietnamesische Mädchen. Wideners Tank-Man-Foto symbolisiert den Widerstand der Menschlichkeit gegen Brutalität und Krieg. Es täuscht damit über die wahre Natur der entsetzlichen Ereignisse in Peking hinweg, die sich am heutigen Mittwoch zum 25. Mal jähren.

Die Bevölkerung unterstützte die Studenten

In der Nacht zum 4. Juni 1989 schlug die chinesische Regierung die studentische Demokratiebewegung in Peking mit Hilfe der Volksbefreiungsarmee brutal nieder. Kurz nach dem Tod des reformorientierten ehemaligen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Hu Yaobang am 15. April hatten studentische Demonstranten den Tiananmenplatz im Herzen Pekings besetzt. Sie forderten Demokratie und politische Reformen, kritisierten Korruption und Vetternwirtschaft in der Partei. Bald demonstrierten täglich mehr als Hundertausend, die Pekinger Bevölkerung unterstützte die Anliegen der Studenten.

Die Kommunistische Partei um ihren Patriarchen Deng Xiaoping verurteilte die Demonstration als „Konterrevolution“ und verhängte das Kriegsrecht. Ein erster Versuch der Volksarmee, zum besetzten Tiananmenplatz vorzudringen, scheiterte. Die Pekinger Bevölkerung hatte sich ihr in den Weg gestellt. In langen Gesprächen versuchten sie, die oft sehr jungen Soldaten von ihren Anliegen zu überzeugen. Die zogen sich schließlich zurück.

In der Nacht zum 4. Juni aber, als die Studenten bereits über einen Abzug diskutierten, drang die Volksarmee gewaltsam zum Tiananmenplatz, dem Platz des Himmlischen Friedens vor. Bis heute weiß niemand, ob es Hunderte oder Tausende waren, die beim Massaker in den Straßen rund herum starben. Die wenigen hundert verbliebenen Studenten handelten für sich in den Morgenstunden einen freien Abzug aus.

Jeff Wideners Erinnerungen interessieren in diesen Tagen viele Medien. Er hat Anfragen aus aller Welt bekommen, von Newsweek und CNN bis zur Deutschen Welle. „Es überrascht mich nicht, dass mich alle nach Tank Man fragen“, sagt Jeff Widener, „ich bin ja der Letzte, der ihn gesehen hat.“

Beinahe jedoch wäre es zu diesem Foto nicht gekommen. Weil Jeff Widener in der Nacht zum 4. Juni 1989 auf dem Tiananmenplatz fast sein Leben verloren hätte. Schon als er vor dem Platz einem Demonstranten mit einer blutverschmierten Axt begegnete, wusste er, dass es schlimm werden würde. Er war damals nicht besonders politisch interessiert, erst im Nachhinein sympathisierte er mit den Anliegen der Demokratiebewegung. Das Fotografieren war einfach sein Job als Südostasien-Korrespondent. Und genau in dem Moment, als er ein ausgebranntes Militärfahrzeug fotografieren wollte, vor dem ein toter Soldat lag, traf ihn ein verirrter Stein der Demonstranten. Das Wurfgeschoss zerstörte das Plastik- und Titaniumgehäuse der Kamera. „Sie hat mir mein Leben gerettet“, sagt Jeff Widener, „der Stein hätte mir die Stirn gespalten.“ So kam er mit einer schweren Gehirnerschütterung davon. Jeff Widener sagt, er habe immer Kriegsfotograf werden wollen – aber ohne den Krieg. Er habe große Angst gehabt. An jenem Abend fuhr er ins AP-Büro und ging nicht mehr raus. „Sonst wäre ich heute tot.“

Rasselnde Panzerketten und stinkender Dieselgeruch wecken ihn

Den gesamten 4. Juni verbrachte er schlafend und fernsehend im Jianguo-Hotel. Am nächsten Morgen fuhr er trotz seiner Gehirnerschütterung mit dem Fahrrad über die Chang-An-Avenue und dachte: „Mein Gott, was mache ich hier bloß?“ Ausgebrannte Busse und verbogene Fahrräder säumten die Straße zum Tiananmenplatz, aus den Nebenstraßen drang das Geräusch einzelner Schüsse. Er solle den vom chinesischen Militär geräumten Tiananmenplatz fotografieren, hatte die AP-Zentrale gefordert.

Er erreichte das Beijing Hotel nordöstlich des Platzes. Sofort fielen ihm die zahlreichen Sicherheitsbeamten in der abgedunkelten Lobby auf. Instinktiv merkte er, dass sie nach Journalisten Ausschau hielten. Vom Hotel aus hatte man die beste Sicht auf die Geschehnisse auf dem Platz, und Zeugen waren unerwünscht. Jeff Widener steuerte entschlossen auf das einzige westliche Gesicht in der Lobby zu, schlug dem Mann freundschaftlich auf die Schulter und sagte: „Hallo Jo, wo warst du?“ Anschließend flüsterte er dem Unbekannten zu: „Ich arbeite für Associated Press, können Sie mir helfen?“

Jeff Widener hatte Glück. Der US-amerikanische Collegestudent Kirk Martsen verstand, worum es ging, und spielte das Theater mit. Gemeinsam gingen sie in sein Zimmer, wo ihm Martsen erzählte, dass nur wenige Minuten zuvor Volkssoldaten von einem vorbeifahrenden Lastwagen aus wahllos Touristen in der Hotellobby erschossen hatten.

Jeff Widener schlief im Zimmer seines neuen Bekannten erschöpft ein. Später fotografierte er vom Balkon den vom Militär besetzten Platz des Himmlischen Friedens, dokumentierte so den Abtransport von Toten oder Verletzten und ausgebrannte Busse. Als ihm der Film ausging, besorgte Kirk Martsen von einem Touristen einen neuen. Dann schlief Jeff Widener erneut ein.

Rasselnde Panzerketten und stinkender Dieselgeruch wecken ihn auf. Wieder springt er auf den Balkon im fünften Stock. Was er von dort sieht, ist dramatisch. Mehr als ein Dutzend Panzer rollen die Chang-An-Avenue herunter. Dann sieht er den Mann mit den Einkaufstüten. „Was macht der denn da“, sagt Widener verärgert zu Martsen, „verdammt, der ruiniert mir die Komposition.“

Eine Aufarbeitung der Ereignisse vom 4. Juni 1989 hat in China nie stattgefunden

Jeff Widener hat bis heute ein zwiespältiges Verhältnis zu seinem berühmtesten Bild.
Jeff Widener hat bis heute ein zwiespältiges Verhältnis zu seinem berühmtesten Bild.

© Corinna Seidel

Von seiner Gehirnerschütterung benebelt, versteht er nicht sofort, welch zeitgeschichtliche Sensation sich vor seinen Augen entwickelt. Mit dem Finger am Auslöser wartet er auf den Augenblick, an dem der Mann erschossen wird. „Diesen Moment musst du haben“, erklärt Widener heute. „Das war ich dem Tank Man, meinen Chefs und der Welt schuldig.“ Dann fällt ihm ein, dass auf dem Bett ein Telekonverter liegt, mit dem er das Motiv noch näher heranholen kann. Doch ihn zu holen, ist riskant. „Wenn der Tank Man in dieser Zeit erschossen wird, habe ich das wichtigste Foto meines Lebens verpasst“, sagt Jeff Widener. Er holt ihn trotzdem.

Der Tank Man klettert währenddessen auf den Panzer und verwickelt die Fahrer in ein kurzes Gespräch. Dann klettert er wieder runter – und stellt sich erneut vor den Panzer.

Das ist der Moment, an dem Jeff Widener im fünften Stock des Beijing Hotels auf den Auslöser drückt: klick, klick, klick. Drei Fotos kann er machen, dann ist auch der letzte Film voll. Kurz darauf verschwindet der Tank Man aus der Weltgeschichte.

„Hast du ihn erwischt?“, fragt Kirk Martsen sofort, doch Jeff Widener ist sich unsicher. Nach dem letzten Foto hat er entdeckt, dass die Kamera eine ungewöhnlich lange Verschlusszeit von 30 bis 60 Hundertstelsekunden anzeigt. Da erst fällt ihm ein, dass der Ersatzfilm des Touristen eine andere Empfindlichkeit hatte, als er es gewohnt ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass er die Bilder verwackelt hat, ist sehr groß. „Ich glaub, ich hab’s vermasselt“, sagt er.

Doch das hat er nicht.

Genau genommen gab es neben zwei Fernsehkameras noch drei weitere Fotografen, die am 5. Juni 1989 auf den Balkonen des Beijing Hotels standen und jene surreale Szene dokumentierten. „Ich bin nicht ganz neutral“, sagt Jeff Widener, „mir gefällt mein Foto am besten.“ Die Lampen der Straßenlaternen im Vordergrund geben seinem Foto Tiefe und Struktur, auch wirkt der Tank Man auf seinem Foto passiver als auf den anderen. Wer den Tank Man googelt, findet vor allem Wideners Bild.

Kirk Martsen, der mit seiner langen Hippie-Mähne am wenigsten wie ein Journalist aussah, schmuggelte die belichteten Filme an den Sicherheitskräften in der Hotellobby vorbei. Dann fuhr er mit dem Fahrrad in Richtung AP-Büro – äußerst wackelig, weil ihn die Filme in der Unterhose drückten, erinnert sich Jeff Widener. „Die Sicherheitskräfte haben geraucht und sich unterhalten, als jenes Foto an ihnen vorbei lief, das nun für die chinesische Regierung so peinlich und unangenehm ist.“

Verschwiegen und zensiert

So peinlich und unangenehm, dass es in China in den Medien verboten und im Internet gelöscht wird. Eine Aufarbeitung der Ereignisse vom 4. Juni 1989 hat in China nie stattgefunden. Der brutale Einsatz der Armee gegen das eigene Volk wird heute verschwiegen und zensiert, in manchen chinesischen Geschichtsbüchern existiert das Jahr 1989 gar nicht.

Die chinesische Zensur unterbindet nicht nur Fotos, sondern alles, was an das Massaker erinnern könnte. Auch die Zahlenkombination „64“, die in China den Jahrestag des Massakers beziffert. Fantasievolle Umschreibungen wie „35. Mai“ oder „8 mal 8“ werden zensiert. In diesem Jahr dürfen auf Weibo, der chinesischen Twitter-Version, Wörter wie „25 Jahre“, „wenn aus Frühling Sommer wird“ oder „dieser Tag“ nicht benutzt werden. Die Sicherheitskräfte nahmen im Vorfeld des Jahrestages bereits mehr als 60 Menschenrechtler und Dissidenten fest. Auch sind die Sicherheitsmaßnahmen rund um den längst komplett überwachten Tiananmenplatz noch einmal verstärkt worden.

Das Vorgehen wirkt übertrieben, denn tatsächlich ist die chinesische Regierung mit der Löschung der Ereignisse von 1989 aus dem kollektiven Gedächtnis von 1,3 Milliarden Menschen ziemlich erfolgreich gewesen. Viele jüngere Chinesen wissen nicht, was damals passiert ist. Selbst heutige Studenten der Peking-Universität, wo 1989 die Demonstrationen begonnen hatten, halten das Tank-Man-Foto für eine Militärparade.

Gedenken in Hongkong

„Ich verstehe nicht, warum die chinesische Regierung nicht einen Schlussstrich zieht und sagt: Okay, wir haben einen Fehler gemacht, nun lasst uns weitermachen“, sagt Jeff Widener. Stattdessen erfanden sich Chinas Kommunisten in den Jahren nach 1989 neu. Chinas Machthaber Deng Xiaoping schloss mit seiner legendären „Reise in den Süden“ mit der Bevölkerung einen unausgesprochenen Pakt: Wir machen euch reich und reicher – und ihr mischt euch nicht in die Politik ein. Der Plan schien aufzugehen, China stieg zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt auf. Der Materialismus hat die kommunistische Ideologie abgelöst, statt Klassenkampf lehrt die Propaganda nun Patriotismus und Nationalismus.

In Hongkong jedoch wird am heutigen Mittwoch, wie in jedem Jahr, eine große Mahnwache für die Opfer des Massakers stattfinden. Jeff Widener wird dort sein. Als er 2009 zum 20. Jahrestag des Massakers für eine BBC-Dokumentation nach Peking zurückkehrte, lernte er auf der Chang-An-Avenue eine junge deutsche Rucksacktouristin kennen – und lieben. „Ich fühle mich dem Tank Man sehr verbunden“, sagt Widener, „er ist wie ein Zwillingsbruder für mich.“ Der Tank Man hat ihm nicht nur zu seinem größten beruflichen Erfolg verholfen. Sondern auch zu seiner Frau.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false