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Theodor Wolff: Notizen eines mutigen Journalisten

Theodor Wolff schrieb während des Ersten Weltkriegs und der November-Revolution 1918/1919 in sein Tagebuch, was er öffentlich nicht sagen durfte – jetzt sind seine Aufzeichnungen online.

Mitdem Theodor-Wolff-Preis, der jährlich im September verliehen wird, werden Journalisten ausgezeichnet, die mit ihrer Arbeit besondere demokratische und gesellschaftliche Verantwortung bewiesen haben – so wie einst Theodor Wolff selbst. Heute sind die Ausgezeichneten bekannter als der Namensgeber des Preises. Das war nicht immer so. Denn Wolff war einer der herausragenden Journalisten und Kritiker im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. „T. W.“, wie er genannt wurde, war von 1906 bis 1933 Chefredakteur des angesehenen „Berliner Tageblatts“ und eine unabhängige Stimme, die bis ins Ausland gehört wurde. Er hatte Kontakt zu den führenden Köpfen Deutschlands in Politik, Wirtschaft und Kultur. Und er führte Tagebuch über die Gespräche mit ihnen.

Von der „Julikrise“ 1914 bis zur Unterzeichnung des Versailler Vertrags 1919 hielt er in Oktavheften Beobachtungen fest, die er wegen der Zensur in seinen Artikeln oft nur versteckt oder gar nicht veröffentlichen konnte. Diese Tagebücher, die Einblicke hinter die Kulissen der Berliner Politik gewähren, haben Historiker der Freien Universität um Professor Bernd Sösemann von der Arbeitsstelle für Kommunikationsgeschichte und interkulturelle Publizistik jetzt online frei zugänglich gemacht (s. Kasten).

Theodor Wolff wurde 1868 in eine jüdische großbürgerliche Familie geboren. Nach der mittleren Reife absolvierte er zunächst eine kaufmännische Lehre beim „Berliner Tageblatt“, das sein Cousin, der angesehene Verleger Rudolf Mosse, herausgab. Mit 19 Jahren wechselte Wolff in die Redaktion und erregte mit seinen Reisefeuilletons, Theater- und Literaturberichten Aufmerksamkeit. Es folgten mehrere Romane, Feuilletonsammlungen und Theaterstücke, die auch über Deutschland hinaus Beachtung fanden.

Im Jahr 1894 wurde er Korrespondent in Paris. Seine Berichte über den Dreyfus-Zola-Prozess steigerten die Auflage des „Berliner Tageblatts“ und das Ansehen von Theodor Wolff als unbequemer und unabhängiger Journalist. Als er Chefredakteur wurde, setzte er sich für die Parlamentarisierung und später für die Demokratisierung Deutschlands ein. Er kritisierte den Wilhelminismus und Militarismus scharf und protestierte gegen die Kriegstreiberei der Regierung.

„Wolff war ein viel gefragter Gesprächspartner, weil das ,Berliner Tageblatt’ national und international wichtig war“, sagt Sösemann. Wenn der Journalist sich mit Industriellen, Publizisten, Diplomaten, Ministern und Reichskanzlern getroffen hatte, machte er sich noch spät am Abend Notizen an seinem Stehpult. Wolff schrieb in Dialogform, hielt Atmosphäre und Zwischentöne fest. Wer die Tagebuchnotizen mit Wolffs Leitartikeln vergleicht, erkennt, wie er trotz Zensur versuchte, die Regierung „zwischen den Zeilen“ zu kritisieren. „Wolffs Tagebücher haben einen besonders hohen wissenschaftlichen Wert, weil sie in der Situation selbst geschrieben wurden, ohne Kenntnis dessen, was am nächsten Tag geschehen würde“, betont Sösemann.

Eine der ersten Aufzeichnungen gibt ein Gespräch mit Gottlieb von Jagow, Staatsminister im Auswärtigen Amt, am 25. Juli 1914 wieder. Wolff warnte: „Ob wir aber nicht in einen Weltkrieg verwickelt werden könnten? Wenn Rußland nun nicht zurückweicht ...“ – gemeint ist das von Deutschland unterstützte Österreich-Ungarn, das Serbien nach dem Attentat auf Prinz Franz Ferdinand in Sarajevo ein, wie Wolff betonte, „wenig geschicktes“ Ultimatum gestellt hatte. Jagow wiegelte ab und sagte, dass die diplomatische Situation „sehr günstig“ sei. „Weder Rußland, noch Frankreich, noch England wollen den Krieg.“ Er ließ dann jedoch das Kalkül der Regierung durchblicken: „Und wenn es sein muss (lächelnd) – einmal wird der Krieg ja doch kommen, wenn wir die Dinge gehen lassen, und in zwei Jahren ist Rußland stärker als jetzt.“ Drei Tage später begann der Erste Weltkrieg. Wolffs Aufzeichnungen zeigen, dass Deutschland nicht in den Krieg „geschlittert“ ist, wie später einige Historiker behaupteten.

Nach Kriegsende unterstützte Wolff die Revolution. 1918 war er Mitbegründer der liberalen Deutschen Demokratischen Partei. Er warnte vor den Nationalsozialisten und den Kommunisten, hielt aber seit 1931 die Nationalsozialisten für die größere Gefahr. 1933 floh er ins Exil nach Südfrankreich. 1943 wurde er in Nizza denunziert, der Gestapo übergeben und inhaftiert. Nach zahlreichen Haftstationen in französischen und deutschen Gefängnissen und Lagern wurde Wolff als Polizeigefangener nach Berlin transportiert und im Gefängnis Moabit inhaftiert. Weil eine schwere Krankheit zu spät behandelt wurde, starb er im selben Jahr im Jüdischen Krankenhaus in Berlin.

Durch die Emigration schien Wolffs Nachlass verloren zu sein. Als 1961 der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger den Theodor-Wolff-Preis stiftete, wusste man nichts von einem Tagebuch. Geschichtsstudent Sösemann arbeitete 1970 an seiner Examensarbeit über Wolff und das „Berliner Tageblatt“ und erfuhr, dass ein Sohn Wolffs in Paris lebte. Er schrieb ihn an und erhielt daraufhin tatsächlich einen Anruf von Rudolf Wolff, der ihm von seinem Vater erzählte. „Ganz am Schluss unseres Gesprächs sagte er: ,Wenn es Sie interessiert, in einem Heftchen meines Vaters sind Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit der Revolution 1918/19. Soll ich Ihnen das schicken?’“, erinnert sich Sösemann. Es stellte sich heraus, dass eine ganze Kiste mit Tagebüchern existierte, die Sösemann für seine spätere Doktorarbeit auswertete. 1984 gab der Historiker sie in einer zweibändigen kommentierten wissenschaftlichen Edition heraus.

100 Jahre, nachdem Theodor Wolff die politische Situation seiner Zeit mit privaten Aufzeichnungen dokumentiert hat, lassen sich seine Notizen nun im Internet nachlesen.

Jenny Jörgensen

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