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Jetzt erst recht. Die Passanten auf dem Breitscheidplatz wollen sich den Spaß nicht nehmen lassen.

© AFP/Tobias Schwarz

Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz: Der erste Glühwein seit dem Terroranschlag

Es herrscht wieder Gedränge auf dem Breitscheidplatz: Berliner trinken Glühwein, Touristen machen Selfies - von Angst ist nichts zu spüren. Und Michael Müller verspricht Hilfe.

Bloß aufpassen! Das sagt der ältere Mann nun schon zum dritten Mal zu seiner Frau, sie nickt und vergräbt die Hände in den Manteltaschen, denn es ist kalt an diesem Montagvormittag auf dem Breitscheidplatz. Buden auf der linken und Buden auf der rechten Seite, mittendrin Menschen, ungewöhnlich viele zu dieser frühen Stunde, aber es ist ja auch ein besonderer Tag. Polizei patrouilliert, ein privater Sicherheitsdienst demonstriert in orangefarbenen Westen Präsenz, aber nichts geht über die Wachsamkeit des einzelnen. „Hier musst du unbedingt die Augen offenhalten“, sagt also der ältere Mann zu seiner Frau, „ich will ja nicht irgendeine Wurst, ich will eine richtig gute!“

Pragmatismus zählt seit jeher zu den Berliner Sekundärtugenden. Eine Stadt, die nach dem zweiten Weltkrieg kaum mehr war als ein Schutthaufen bei Potsdam, lässt sich nicht von einem in die Irre geführten Terroristen ihrer Lebensfreude berauben. Nie stand es ernsthaft zur Debatte, den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz auszusetzen, auch nicht nur für dieses eine Jahr danach. Seit Montag stehen Buden wieder da, wo sie jedes Jahr stehen. Exakt 49 Wochen, nachdem der Terror nach Berlin kam.

Es war der 19. Dezember 2016, als der Islamist Anis Amri in Moabit einen LKW kaperte, dessen polnischen Fahrer ermordete und sich auf den Weg in die City West machte. Einmal umrundete er den Breitscheidplatz, fädelte sich wieder auf der Hardenbergstraße ein und trat das Gaspedal durch.

Manchester, Paris, Istanbul - und auch Berlin

Die auf dem Armaturenbrett eines zufällig vorbeifahrenden Autofahrers montierte Kamera hat die verhängnisvollen Sekunden aufgezeichnet. Wie der LKW dort, wo die Hardenbergstraße in einem sanften Linksschwenk in die Budapester Straße übergeht, einfach geradeaus fährt, das Tempo hochhält und erst 50 Meter weiter stecken bleibt, gestoppt durch das automatische Blockiersystem. Sekunden später rennen Menschen auf die Straße, ein Mann presst ein Bündel an seine Brust. Hoffentlich kein schwer verletztes Kind, denkt man noch ein Jahr später beim Betrachten der Bilder.

Zwölf Menschen sterben, fast 70 werden verletzt. Am Ende der Terrorfahrt steht die Erkenntnis: Es kann jeden treffen, immer und überall. Nicht nur bei einem Popkonzert in Manchester, einem Fußballspiel in Paris oder einer Party in Istanbul. Sondern auch auf dem Breitscheidplatz, mitten in Berlin zwischen Zuckerwatte, Bratwürsten und Glühwein.

Verwüstet. Am 19. Dezember 2016 raste Anis Amri mit einem LKW in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz, zwölf Menschen starben, fast 70 wurden verletzt.
Verwüstet. Am 19. Dezember 2016 raste Anis Amri mit einem LKW in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz, zwölf Menschen starben, fast 70 wurden verletzt.

© dpa/von Jutrczenka

Die Stelle, an der Amri die Hardenbergstraße verlässt und auf den Weihnachtsmarkt durchbricht, ist ein Jahr später mit Beton markiert. Zwischen zwei mit Tannenzweigen behängten Pylonen verstellen vier versetzt platzierte graue Klötze den Weg. Wer auf dem Videoschnipsel gesehen hat, mit welcher Wucht Amris schwarzer LKW auf den Platz rast, der zweifelt am rein praktischen Sinn dieser Barrikade.

Schräg gegenüber bewirbt der Zoopalast großflächig den „Mord im Orientexpress“. Kurz bevor der Markt am Montag um 11 Uhr für die ersten Besucher öffnet, heult eine Sirene auf und ein Krankenwagen biegt mit hohem Tempo in die Budapester Straße ein. Ratlose Passanten blicken hinterher, aber der Transporter entfernt sich so schnell vom Breitscheidplatz, dass dort wohl nichts passiert sein kann.

"In Frankreich ist das doch noch alles viel schlimmer"

Der Wind weht ein paar Regentropfen herbei, aber langsam füllt sich der Platz. Der größte Betrieb herrscht zwischen Gedächtniskirche und Bikinihaus, was allerdings nichts damit zu tun hat, dass dort die besten Würste verkauft werden oder der Glühwein am billigsten ist. Dafür ist der Weg so breit, dass die in Kompaniestärke erschienenen Fernsehteams bequem ihre Kameras und Mikrofone aufbauen können. Michael Roden wird umlagert. Ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und angegrautem Haar, er ist der Vorsitzende des Berliner Schausteller-Verbandes. Roden sagt, fast alle Budenbetreiber aus dem vergangenen Jahr seien auch diesmal dabei. Trotz der traumatischen Erinnerungen und obwohl die Miete um 20 Prozent gestiegen sei. Irgendeiner muss schließlich zahlen für die grauen Betonklötze, die sich überall dort aufbauen, wo der Straßenverkehr der Weihnachtsmarkt zu nahe kommt. Nachdem Roden das in drei verschiedene Kameras gesagt hat, verliert er langsam die Lust. Er sei ja nicht nur zu Spaß hier und habe noch ein bisschen zu arbeiten, schönen Tag noch.

Auch die Antworten der Passanten auf die immer gleichen Fragen ähneln sich. Ja, ein bisschen mulmig sei einem schon zumute, aber: nein, den Spaß wollen sie sich nicht nehmen lassen – „wenn ich unter einem Balkon laufe, gucke ich ja auch nicht nach oben, damit mir bloß kein Blumentopf auf den Kopf fällt“, sagt einer. „In Frankreich ist das doch noch alles viel schlimmer“, findet ein anderer, und das liege vielleicht daran, „dass unsere Regierung uns nicht alles erzählt. Wer weiß, was die uns noch alles vorenthalten.“

Eine neue Ermittlungspanne. Wieder einmal

Verschwörungstheorien finden in Zeiten auch nur latenter Terrorgefahr immer ein interessiertes Publikum. Aber dass beim Fall Amri noch einiges im Diffusen liegt, lässt sich schwerlich dementieren. Alle paar Wochen gibt es neue Details über Ermittlungspannen, die jüngste findet am Montag ihre Weg an die Öffentlichkeit. Auf den Smartphones der erste Weihnachtsmarkt-Gäste laufen Meldungen ein, nach denen der Attentäter mit Waffen posiert hat, und das auch nicht irgendwo, sondern in der berüchtigten Fussilet-Moschee in Moabit. Das kommt so überraschend nicht, denn Amri war ein häufiger Gast in der Moschee. Nur sind diese Fotos eben nicht gerade erst in Amris Nachlass gefunden worden, sondern bei eine Routinekontrolle am 18. Februar 2016, also zehn Monate vor dem Anschlag.

Es ging damals gar nicht um die Observierung eines potenziellen Terroristen, sondern um eine Ermittlung im Drogenmilieu. So erzählt es Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) bei einer Pressekonferenz in Düsseldorf. Er spricht von 12.000 Mediendateien in Amris Mobiltelefon und von einer Filtereinstellung, die bei der automatischen Auslesung Fotos mit schlechter Qualität übersehen habe. „Hier ist ein Fehler passiert, der nicht hätte passieren dürfen“, sagt Reul. Die tatsächlich gesichteten Fotos hätten leider nicht für einen Haftbefehl gereicht. Wäre denn ein mit Waffen posierender Amri auch nur als Kleinkrimineller eingestuft worden?

Keine Ahnung, antwortet der Minister. Die Daten hätten hätten nicht nur dem Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen vorgelegen, sondern auch den Kollegen in Berlin und beim Berliner LKA und dem Bundeskriminalamt. Was dort mit den Fotos geschehen sei, könne er leider nicht sagen.

Schon vormittags wird viel Glühwein getrunken

Gegen Mittag entsteht so etwas wie ein Gedränge auf dem Breitscheidplatz. Seltsam, wie gut der Glühwein-Verkauf schon zu so früher Zeit anläuft, aber es ist ja auch ein kalter Tag. Gegen 13 Uhr Besucher schieben Kinderwagen vor sich her, sie ziehen Rollkoffer oder balancieren Einkaufstüten. Touristen auf dem Weg vom KaDeWe zum Café Kranzler oder zum Bahnhof Zoo. Englische, französische, italienische und italienische Sprachfetzen mischen sich in der kühlen Novemberluft. Es ist das Ende eines langen Wochenendes, Viele haben von dem Terroranschlag im Dezember 2016 gehört, aber dass es hier passiert ist, wo sie gerade stehen? „Really?“ – „Incroyable!“ – „Que horrible!“ Aber wenn man schon mal da ist... Mobiltelefone werden zum Anfertigen der unvermeidlichen Selfies gezogen, und es geht den Fotografen dabei mutmaßlich nicht um die Anmut vom Harzer Glühweintreff oder Zochers Würstlbraterei.

Zum Aufwärmen geht es mal kurz in die Kirche. Auf den Stufen befindet sich ein improvisierter Gedenk-Altar mit Blumen, Kerzen, Tannenzweigen und einem handgemalten Schild mit der Aufschrift: „Warum?“ Ein richtiges Mahnmal ist in Arbeit, „da hinten“, sagt der Chef-Schausteller Michael Roden und zeigt hinüber zur anderen Seite der Gedächtniskirche. Das Mahnmal besticht durch seine Schlichtheit und reduziert sich auf einen Riss im Boden, ausgefüllt mit einer goldfarbenen Legierung. In Ergänzung dazu steht die Inschrift: „Zur Erinnerung an die Opfer des Terroranschlags am 19. Dezember 2016. Für ein friedliches Miteinander aller Menschen.“ Außerdem werden der Vorderseite der Kirchenstufen die Namen und Herkunftsländer der zwölf Opfer eingesetzt.

Dann, am Abend, kommt auch der Regierende Bürgermeister Michael Müller zum Breitscheidplatz. An seiner Seite Innensenator Andreas Geisel und Vertreter des Bezirks. Sie treffen sich in der Hirschstube, einem Pavillon auf dem Weihnachtsmarkt. Die Berliner hätten einen „mutigen Trotz entwickelt“, sagt Müller. Aber weil man davon allein nicht leben kann, kündigt er gleich noch eine Hilfe in Höhe von 100.000 Euro für den Schaustellerverband an. Dann legt er weiße Rosen nieder. Am provisorischen Mahnmal.
In drei Wochen wird das echte Mahnmal eingeweiht. Am 19. Dezember, dem ersten Jahrestag des Attentats, und dann wird der Weihnachtsmarkt ausnahmsweise geschlossen sein. Als Zeichen dafür, dass Berlin nicht nur Pragmatismus kann, sondern auch Empathie.

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