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Lasst uns zusammenhalten! Dieser Gedanke zieht sich durch alle Reden beim Tage der Deutschen Einheit.

© Tobias Schwarz/AFP

Tag der Deutschen Einheit: Auf der Suche nach Zusammenhalt

Einheit leben, das klingt einfach. Doch das ist es nicht - gerade in diesen Zeiten. Und so zieht sich ein Gedanke durch die Reden dieses Feiertages.

Es ist dieses Rauschen und Brausen, das den ganzen Raum erfüllt, hochschwebt zur goldenen, lichtdurchstoßenen Decke des Doms, die schier endlos entfernt zu sein scheint. So klein der Mensch, so groß das Schicksalhafte. Der Schall verbreitet sich, dehnt sich aus, erfüllt die Räume und die Seelen, wandert, durchschreitet das Portal und entfernt sich Richtung Staatsoper am Prachtboulevard Unter den Linden. "Ja, das ist die Berliner Luft, Luft, Luft", ruft die Musik den Menschen zu, die sich hier zum Gottesdienst versammelt haben.

28 Jahre ist sie her, die Einheit. Berlin, die vereinte Hauptstadt des zu seinem Glück vereinigten Deutschlands, hat eingeladen. Der Bundesratspräsident heißt Michael Müller, und der ist hier der Regierende Bürgermeister. Er stammt aus dem Bezirk Tempelhof.

Da war die Mauer, die die Stadt und mit ihr das ganze Land zerriss, im Bewusstsein, doch nicht jeden Tag gegenwärtig. Es gab so viel anderes, was man tun und sehen konnte, damals, als Michael Müller Mitte 20 war. Er muss nun eine Rede halten zu diesem Anlass.

Aber das von früher, das aus seinem Leben, das erzählt er jetzt mehr. So klingt der Ton, den er anschlägt und für diesen Moment hält. Und das Rauschen und Brausen hält inne. Ja, erzählen wir uns Geschichte, heute ist der Tag dafür. Erzählen wir von dem, was in der Historie eine kurze Zeit ist, in einem Menschenleben aber lang. Die Bilder, die in der Staatsoper zum Festakt ablaufen, am Kopf des Saales und in den Köpfen der geladenen Gäste – das gelebte Leben ist zum Greifen nah.

Wie silbern die Haare heute leuchten! Der Filmausschnitt zeigt gerade Wolfgang Schäuble als jungen Mann, wie er den Einigungsvertrag unterschreibt und den Mann neben sich bübisch anlächelt – und wie froh der zurückstrahlt, Günther Krause, der einstige DDR-Staatssekretär. Seine Geschichte ist am Ende nicht glücklich.

Feiern und dienen

Aber wer will vom Scheitern reden, vom Misslingen an diesem Tag, der doch der Einheitsfeier dienen soll. Wobei genau diese Worte so viel von dem sagen, was der 3. Oktober den Menschen hier im Saal bedeutet: Feiern und dienen. Bis heute dienen viele von ihnen, die in Ehren ergraut sind, dieser neuen deutschen demokratischen Republik – die sie an diesem Tag doch auch wieder zum Aufbruch ruft.

Mit dem brausenden Beethoven, der gut gewählt ist. Von Bonn bis Berlin einigt er das Land, das gerade wieder sich selbst sucht, und „Leonore“, seine einzige Oper, passt gut an diesen Ort: die Staatsoper. Eine „Rettungsoper“ ist es, deren Ouvertüre gespielt wird, so heißt das Genre, das seinerzeit europaweit populär war, in den Ursprüngen verbunden mit der Französischen Revolution. Ein Ausdruck des Aufbruchs zur Überwindung von Unterdrückung und Gefangenschaft, mit dem Mut Einzelner und der Kraft der Gemeinschaft.

Das alles sagt die Musik, und Daniel Barenboim hört und lockt und dirigiert. Ein Glücksfall in der Geschichte Berlins: ein jüdischer Argentinier, der den Deutschen neue Klänge schenkt. Und den erleben sie durch ihn an historischem Ort, um die Ecke der Bebelplatz, wo die Nazis Kultur verbrannten.

Die Zuhörer beginnen, mit den Klängen die Partitur ihres je eigenen Lebens noch einmal neu zu lesen, die Heldinnen, Helden aus allen diesen Jahren. Draußen, an eben jenem Bebelplatz, stehen die Chöre in der Berliner Luft, der Dirigent winkt ihnen zu, und das Haus tut es ihm gleich.

Wer nennt heute ihre Namen? Lothar de Maizière, Christine Bergmann, Sabine Bergmann-Pohl. Joachim Gauck. Marianne Birthler. Sie sitzen im Publikum und dürfen sich angesprochen fühlen. Es sind so viele, so viele Ungenannte, überall, in den Kommunen nicht zuletzt. Michael Müller dankt, und er muss seine Stimme nicht erheben, um gehört zu werden. Der Applaus ist laut. Denn Einheit leben klingt nur leicht.

Eine wehrhafte Demokratie

Der Aufruf aus der Oper soll zum Aufbruch führen. Das ist heute die Aufgabe des Regierenden, Michael Müller soll hinführen zum Thema. Der Tag der Einheit ist auch seiner, als zweifacher Gastgeber. So führt er dann in seiner Rede aus, was es ihm bedeutet, „Haltung zu zeigen“: für die Demokratie zu kämpfen! Und zwar gegen alle die, die gegen ihre Werte stehen. Wie die Rechtspopulisten. Als hätte ihn Beethoven berührt. Müller kommt aus sich heraus. Die Werte der Revolution, der französischen wie der friedlichen deutschen, werden in seinen Worten eins.

Wehrhaft will der Regierende die Demokratie, und nur sein gesetzter Ton hält davon ab zu glauben, dass er dafür gleich selbst aufbricht, auf die Barrikaden geht. Es ist zugleich auch richtig und wichtig, die Bedeutung, die Notwendigkeit der „Gemeinschaftsleistung“ zu betonen.

Das gilt heute und hier und darüber hinaus. Müller ehrt eine Lebensspanne, 28 Jahre, die für viele Glück, aber eben auch viele Zumutungen bereitgehalten hat. 200.000 haben allein in Berlin nach Mauerfall und Einheit ihre Stelle verloren, die Industrie brach ein, vielerorts zusammen. Nur ächzend kam zusammen, was zusammengehören wollte.

Weil nun aber Arbeit zur Selbstbestimmung des Menschen gehört und weil sie ihm einen Platz in der Gesellschaft verschafft, die auf Solidarität gebaut ist, ist das der Appell des Regierenden für alle Regierten: Haltung zeigen. Zusammenhalt verteidigen. Weiterkämpfen. Denn nichts darf so selbstverständlich sein, dass man es einfach als geschenkt annimmt.

Das Geschenk hat diesen tieferen Sinn: Es gilt, das Glück festzuhalten. Michael Müller, der in Tempelhof groß geworden ist, hält es fest. Mit einem Satz. Und erinnert mit einem Mal daran, wie es war, als der Mantel der Geschichte zu fassen war. Als die Einheit da war, sagt Müller, da war „so klar, was gefehlt hat“.

Einheit in Vielfalt

Es hat gefehlt – und ist heute da. Die Einheit, eine in Vielfalt, so vielfältig wie die Eingeladenen in der Staatsoper und die zum Feiern Gebetenen in allen Teilen Berlins. „Sind wir uns eigentlich unseres Glücks bewusst?“, fragt der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, und man sieht viele Köpfe nicken.

Schäuble, der Ehrenbürger Berlins, der mit einer Rede im Bundestag Berlin zur Hauptstadt des vereinigten Landes gemacht hat. Er, der als Präsident des Souveräns redet, der Volksvertreter. Auch er mahnt Haltung an. Ohne die geht es nicht. Auch er will Wehrhaftigkeit – und Wahrhaftigkeit in einem. Denn Politik, sagt er, muss nicht immer schnelle, vor allem eindeutige Antworten haben. Sie muss nur ehrlich eingestehen, dass sie nicht alle Widersprüche auflösen kann. Um unerfüllbaren Erwartungen vorzubauen, aus denen Enttäuschung wächst.

Das also ist der Tag, an dem er uns versöhnen will: mit uns selbst, alle miteinander. Da ist der Anspruch, alles das, was nicht gelungen ist, doch noch zum Gelingen zu bringen – und die Erkenntnis, dass wir lernen sollten, mit dem Nicht-Perfekten zu leben, mit dem Unzulänglichen. Dass wir darauf mit Gelassenheit und Zuversicht schauen – um dann die Gestaltungschancen zu erblicken. Fast sagt er: Und der Zukunft zugewandt.

Ja, die Feier zeigt es, die Bilder, die im Kopf und im Film, zeigen eine Gegenwart, die sich sehen lassen kann. Haben wir Deutsche nicht vereint unsere Chance ergriffen, die zweite Chance der Geschichte, nach all dem Entsetzlichen? Der 9. November und der 3. Oktober waren Wendepunkte, aber nicht ins Ungefähre, nur ins Ungewisse, in eine Zukunft, die heute Gegenwart ist.

Nie gab es eine so lange Zeit in Frieden, Freiheit und mit wachsendem Wohlstand. Aber die Sehnsucht hat ihren Ort in der Zukunft. Und wie sollen wir ihr mit Gelassenheit und Zuversicht begegnen? Die Frage führt zurück in den Dom, den Ort, wo die Religionen vereint dessen gedenken, was auch zu diesem Tag gehört: Anzuerkennen, dass es etwas gibt, das größer ist als der Einzelne. Nicht nur der einzelne Christ. Als der Chor das „Gib uns deinen Frieden“ anstimmt – da fallen doch tatsächlich in das klangvolle Brausen von oben Sonnenstrahlen! Ja, und das – das ist die Berliner Luft.

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