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Schicksalsort. Auf Lesbos betrat Sarah Mardini europäischen Boden, hier wurde sie verhaftet.

© Dena S. Abusrur

Sarah Mardini: Eine Flüchtlingshelferin, die im Gefängnis landete

Ihre Flucht durchs Meer hat sie und ihre Schwester berühmt gemacht. Nun will die Berlinerin Sarah Mardini anderen helfen – und wird auf Lesbos verhaftet.

Der Laptop steht aufgeklappt auf dem Tisch, das Handy liegt zwischen Weinglas und Wasserflasche. Es brummt, schon wieder. Aber Sven Spannekrebs muss jetzt erst etwas essen, die letze Mahlzeit hat er vor zehn Stunden eingenommen, in irgendeinem Café in Athen. „Mir sagen im Moment alle, ich muss besser auf mich aufpassen“, sagt er, während er sein Steak hinunterschlingt. „Sonst kippe ich irgendwann um.“ Seine rotblonden Haare hat der 38-Jährige unter einer Schirmmütze versteckt, seine Augen sind rot und verquollen, seit zwei Wochen hat er kaum geschlafen. Erst ein paar Stunden zuvor ist sein Flugzeug aus Griechenland in Berlin gelandet, nun spricht er in einem Spandauer Restaurant über die Angelegenheit, die ihm keine Ruhe lässt. Über Sarah.

Sarah Mardini, 23 Jahre alt, sitzt in Athen im Gefängnis. Vor zwei Wochen wurde sie am Flughafen von Lesbos festgenommen. Die Vorwürfe: Menschenschmuggel, individuelle Bereicherung durch Spenden, Geldwäsche, Spionage und die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Ihr droht eine mehrjährige Haftstrafe.

Die vergangenen acht Monate hat sie als Freiwillige für eine NGO Flüchtlinge auf Lesbos betreut – auf der griechischen Insel, die für sie im Sommer 2015 selbst zum Schicksalsort wurde. Gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Yusra war Sarah Mardini aus dem syrischen Bürgerkrieg geflohen. Die Geschichte ihrer Reise über das Mittelmeer, bei der die beiden Leistungsschwimmerinnen ein havariertes Flüchtlingsboot hinter sich herzogen und 18 Menschenleben retteten, hat sie berühmt gemacht. Beim Verein Wasserfreunde Spandau 04 und Trainer Sven Spannekrebs fanden sie ein neues Zuhause, als Mitglied des erstmalig startenden Flüchtlingsteams durfte Yusra 2016 bei Olympia in Rio antreten. In aller Welt wurde über sie berichtet, sie traf US-Präsident Barack Obama, den Papst und UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, ist offizielle Botschafterin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR.

Die Vorwürfe sind ernst, die Beweise zweifelhaft

Yusra Mardini wurde zum Gesicht der globalen Flüchtlingskrise, zum Symbol für die Hoffnung Hunderttausender, allen Gefahren zu trotzen und ein neues Leben anzufangen. Ihre Schwester könnte nun zum Symbol für das Gegenteil werden. Für die Abschottung Europas. Für den Willen, jene zu verfolgen und hart zu bestrafen, die helfen wollen.

„Es gibt Vorwürfe gegen Sarah, schwere Vorwürfe. Aber es gibt keine Beweise. Es ist surreal“, sagt Spannekrebs. „Aber es ist auch sehr real: Ich war da, ich habe dieses Gefängnis gesehen.“

Spannekrebs befindet sich im Alarmzustand, seit am Dienstag vor zwei Wochen um 6.04 Uhr sein Handy klingelt. „Sarah hat gesagt, wir sollen dich als Ersten anrufen“, sagt eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. „Die Polizei hat sie gerade mitgenommen.“ Mittlerweile sitzt die 23-Jährige in Untersuchungshaft im Korydallos-Gefängnis in einem Vorort von Athen. Auch zwei weitere Freiwillige der Hilfsorganisation ERCI wurden festgenommen. Insgesamt ermittelt die Polizei gegen 30 Personen. Das Leben von Sven Spannekrebs steht auf dem Kopf.

Vor zweieinhalb Jahren war Spannekrebs in einer ähnlichen Situation. Die Mardini-Schwestern, früher Mitglieder der syrischen Schwimm-Nationalmannschaft, sind im September 2015 nach Berlin gekommen, im Flüchtlingsheim in Spandau fragen sie nach einem Verein, bei dem sie trainieren können. Ein Helfer schickt sie zu den Wasserfreunden, Yusra landet in der Nachwuchsgruppe von Spannekrebs. Er interessiert sich für ihre Geschichte, hilft den Schwestern, in Berlin anzukommen. Er zeigt ihnen die Stadt, erledigt Behördengänge mit ihnen, vermittelt eine Unterkunft im Vereinsheim. Als er von Yusras Traum erfährt, an Olympia teilzunehmen, nimmt er Kontakt zu Politikern, Sportverbänden und Flüchtlingsorganisationen auf, trommelt Unterstützer zusammen.

In dieser Zeit verbringt er fast jede Minute mit den beiden, ist Freund, Bruder, Ersatzvater, Trainer und Pressesprecher zugleich. Er setzt sich dafür ein, dass auch die Eltern Mardini und die jüngere Schwester nach Berlin kommen. Yusras Geschichte wird immer bekannter, an manchen Tagen erreichen ihn 100 Presseanfragen. Jetzt summt sein Handy erneut im Minutentakt, er liest vor: „Hello, I’m a journalist from Scotland, I would like to find out about Sarah Mardini ...“

Erfüllter Traum. 2016 nahmen Yusra Mardini und Sven Spannekrebs im Flüchtlingsteam an den Olympischen Spielen in Rio teil.
Erfüllter Traum. 2016 nahmen Yusra Mardini und Sven Spannekrebs im Flüchtlingsteam an den Olympischen Spielen in Rio teil.

© Michael Kappeler/dpa

Die enorme mediale Aufmerksamkeit hat Yusra Mardini geholfen, für die Olympischen Spiele nominiert zu werden. Es ist fraglich, ob das nun auch für ihre Schwester gilt. In der Vergangenheit haben sich griechische Richter nicht von kritischer internationaler Berichterstattung beeindrucken lassen, eher war das Gegenteil der Fall. Das ist auch einer der Gründe, warum die berühmtere der beiden Schwestern sich zurzeit nicht äußert oder selbst nach Griechenland reist. Über ihr Management lässt Yusra Mardini nur mitteilen, sie kenne ihre Schwester sehr gut. Alles, was Sarah tue, geschehe in der Absicht, Menschenleben zu retten.

„Familie Mardini ist immer tough“, sagt Sven Spannekrebs und lächelt. „Nach außen.“ Natürlich sei die Situation für alle Familienmitglieder hart, für Yusra als öffentliche Person noch viel mehr. „Wie geht man damit um?“, fragt er. „Du bist Botschafterin, Sportlerin, Testimonial für ein Unternehmen. Im Moment bist du aber vor allem Schwester.“ Man dürfe nicht vergessen: Seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs vor sieben Jahren habe es für Yusra Mardini kein normales Leben gegeben, „das ist schon ein schweres Paket, das sie mit sich herumträgt“.

Nach den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro hat sich sein Leben wieder beruhigt. Ein anderer Trainer und ein professioneller Manager übernehmen die Hauptverantwortung für Yusras Karriere, der Flüchtlingsstatus der Familie ist anerkannt. Spannekrebs fällt zwischenzeitlich in ein Loch, wird krank, nimmt zu, schafft es wochenlang kaum noch, sich von der Couch aufzuraffen. Dann fängt er sich wieder und beginnt in der Vereinsführung der Wasserfreunde zu arbeiten. Alles scheint in geordnete Bahnen zurückzukehren.

Sie bekommt ein Stipendium, nimmt ein Studium auf

Yusras Autobiografie erscheint, mit den Dreharbeiten zum Kinofilm über ihren Weg von der Flucht zu den Olympischen Spielen soll im kommenden Jahr begonnen werden, der Drehbuchautor musste zwischendurch noch am neuen „Star Wars“-Teil mitarbeiten. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) bezahlt eine Wohnung für die Familie. Sarah nimmt im Herbst 2017 dank eines Stipendiums ein Studium der Sozialwissenschaften am privaten Bard College Berlin auf.

Das vergangene Semester hat sie sich freigenommen, um auf Lesbos für ERCI zu arbeiten, es ist ihr fünfter Einsatz für die NGO. Am Montag dieser Woche hat das neue Semester begonnen, am Dienstag sollte Sarah Mardini um 10.45 Uhr in Seminarraum 1 zum Kurs „Kunst und Denkweise im Florenz der Renaissance“ erscheinen. Stattdessen sitzt sie in einem Athener Gefängnis, während Richter und Staatsanwälte auf dem 280 Kilometer entfernten Lesbos über ihr Schicksal entscheiden. Auf der Insel gibt es kein Gefängnis, nur eine Polizeiwache.

In der Anklageschrift, die griechische Medien zu großen Teilen veröffentlicht haben, wird Sarah Mardini und den anderen ERCI-Mitarbeitern vorgeworfen, zwischen August 2016 und Januar 2018 in mindestens elf Fällen mit Schleusern zusammengearbeitet zu haben, um Flüchtlinge nach Lesbos und Samos zu bringen. Dazu hätten sich die Verdächtigen mit verschlüsselten Whatsapp-Nachrichten verständigt und den Funkverkehr der Küstenwache abgehört. Bereits im Februar waren Sarah Mardini und ein Kollege kurzzeitig festgenommen worden: Polizisten hatten unter dem Nummernschild eines Jeeps, den die in der Region seit 2015 aktive und anerkannte NGO benutzte, ein älteres militärisches Kennzeichnen gefunden.

Sven Spannekrebs ist von Sarah Mardinis Unschuld überzeugt. Er hat sie in diesem Sommer auf Lesbos besucht. ERCI betreibt im Flüchtlingscamp Moria eine Krankenstation, dort half Mardini vor allem als Übersetzerin. Spannekrebs schwärmt davon, mit wie viel Respekt und Feingefühl die Freiwilligen mit den Campbewohnern umgegangen seien, trotz der angespannten Lage in dem völlig überfüllten Lager. Ein UNHCR-Sprecher sagte kürzlich, in Moria sei „ein Siedepunkt“ erreicht, derzeit seien mehr als 7000 Asylsuchende in dem für 2000 Bewohner geplanten Lager untergebracht.

"Das Camp ist eine absolute Katastrophe"

„Für mich ist Moria der Beweis für das Versagen der europäischen Politik“, sagt Spannekrebs. „Das Camp ist eine absolute Katastrophe.“ Er hat in Moria verwirrte und verzweifelte Menschen gesehen, Dreck und Elend. „Ich bin da rausgegangen und habe mich gefragt, ob ich es verantworten kann, wieder in einem Schwimmverein zu arbeiten“, sagt er. Zu Weihnachten wollte er wieder nach Lesbos fliegen und selbst mithelfen.

Schon kurz nach ihrer Ankunft in Berlin bot sich Sarah Mardini dem Landesamt für Gesundheit und Soziales als ehrenamtliche Übersetzerin an. Später wurde sie Mitglied in einer Schauspieltruppe, in der Flüchtlinge und Deutsche gemeinsam auftraten. Der großen Öffentlichkeit wird sie im Gegensatz zu ihrer Schwester aber nie bekannt, lediglich bei der Bambi-Verleihung im November 2016 steht sie neben Yusra auf der Bühne, die Schwestern werden in der Kategorie „Stille Helden“ ausgezeichnet.

Yusra und Sarah Mardini wurden 2016 mit dem Bambi als "Stille Helden" ausgezeichnet.
Yusra und Sarah Mardini wurden 2016 mit dem Bambi als "Stille Helden" ausgezeichnet.

© Clemens Bilan/dpa

Leise war Sarah Mardini allerdings nie. „Niemand konnte sie dazu bekommen, still zu sein“, schreibt Yusra Mardini in ihrer Biografie. Es ist Sarah, die vorschlägt, Syrien zu verlassen. Es ist Sarah, die es wagt, den Schleusern an der türkischen Küste Widerworte zu geben. Es ist Sarah, die während der Flucht über den Libanon, die Türkei, Griechenland, Serbien und Ungarn die Nerven behält. Und erst in Tränen ausbricht, als sie in Österreich und damit in Sicherheit angekommen ist.

Die junge Syrerin bestreitet alle Vorwürfe, die in Griechenland gegen sie erhoben werden, an vielen der erwähnten Tage sei sie nicht einmal auf Lesbos gewesen. Professoren ihrer Universität bezeugen dies, das Bard College hat seitenweise Anwesenheitslisten, E-Mails und Erklärungen zusammengestellt und an ihren Anwalt geschickt.

Florian Becker, der Geschäftsführer der Universität, ist sich sicher, dass „Sarah nichts zu verbergen hat“. Leider hätten alle Anstrengungen noch nichts bewirkt. Derzeit trägt ein Ermittler der Staatsanwaltschaft auf Lesbos das Beweismaterial zusammen. Bis zur Eröffnung eines Hauptverfahrens können nach griechischem Recht bis zu 18 Monate vergehen. 18 Monate, die Sarah Mardini im Gefängnis verbringen könnte. „Das ist unverhältnismäßig angesichts der Lächerlichkeit der angeführten Gründe“, sagt Becker. „Meiner Meinung nach steht der Fall im Zusammenhang damit, dass die Seenotrettung gerade einer Kriminalisierung ausgesetzt ist – nicht nur in Griechenland, sondern auch in Italien und anderswo im Mittelmeer.“

Der Anwalt weiß nicht, wie es weitergeht

Auf Lesbos standen im Mai bereits drei spanische Feuerwehrleute vor Gericht, die als Seenotretter gearbeitet hatten, auch ihnen wurde Menschenschmuggel vorgeworfen. Sie wurden freigesprochen, der Anwalt Haris Petsikos verteidigte sie, jetzt ist Sarah Mardini seine Mandantin. Für ihn ist zurzeit völlig offen, wie es mit ihr weitergeht. Ein dreiköpfiger Richterrat muss zunächst entscheiden, ob sie gemäß des Antrags der Staatsanwaltschaft in Haft bleibt, bis zum Prozessbeginn freigelassen wird, das Land verlassen darf oder unter Meldeauflagen in Griechenland bleiben muss.

Vier Tage lang war Sven Spannekrebs in Athen, Sarah Mardini besuchen durfte er nicht. Er hat Anwälte getroffen, Kontakte geknüpft, mit Vertretern anderer NGOs gesprochen. „Ich habe das alles so ähnlich gemacht wie damals bei Yusra – alles aus der Situation entschieden“, sagt er. „Sarah ist in Haft, also brauchen wir einen Anwalt. Wir haben einen Anwalt, also müssen wir mit dem reden. Undsoweiterundsoweiter.“ Vor allem aber hat er dafür gesorgt, dass Sarah Mardinis Mutter das Gefängnis besuchen durfte.

"Mach dir keine Sorgen. They love me here"

Sie berichtete, ihrer Tochter gehe es gut. Sarah habe angefangen, anderen Häftlingen Englischunterricht zu geben, in der Gefängnisbibliothek auszuhelfen. „Am Telefon hat sie gesagt: Mach dir keine Sorgen. They love me here“, erzählt er.

Natürlich macht er sich Sorgen. Und er zerbricht sich den Kopf darüber, wie es zu der Anklage kommen konnte. Er vermutet, was auch erfahrene Beobachter in Griechenland für eine schlüssige Erklärung halten: Die bedrohliche Lage auf Lesbos hat die Polizei unter Druck gesetzt, Härte zeigen zu müssen. „Nach dem Vorfall mit dem Jeep musste ein Ermittler vielleicht einfach etwas finden. Und dann wird etwas in aller Eile konstruiert, vielleicht nicht einmal böswillig“, sagt er. „Ich will daran glauben.“

Es ist spät geworden, Sven Spannekrebs muss jetzt dringend ins Bett. Den Weg nach Hause will er laufen, das hilft ihm, den Kopf freizubekommen, am Morgen wird er wieder am Telefon hängen. „Es wird alles gut“, sagt er noch, als müsste er sich selbst Mut zusprechen. „Ein Zeichen für Humanität und Solidarität – das wird übrig bleiben von dieser Geschichte.“ Was ihn da so sicher macht? Spannekrebs lächelt. „Weil Sarah so ist.“

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